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Das griechische Sonnenwunder

Eine Reportage von Rodothea Seralidou

Eine Genossenschaft auf der Insel Kreta verbindet den Bürgerenergiegedanken mit gelebter Solidarität.

Charalambos Giannopoulos führt mich durch die Gassen von Arkalochori, einer 3.000-Seelen-Gemeinde im Landesinneren der Insel Kreta, rund dreißig Kilometer südlich der Hafenstadt Heraklion. Es ist ein typischer sonniger Novembertag. «Der Platz hier wäre normalerweise voll – die Cafés hätten ihre Tische und Stühle aufgestellt, die Leute würden ihren Kaffee trinken und über Gott und die Welt diskutieren», sagt der 74-Jährige mit dem grauen Schnurrbart, «doch davon ist nichts mehr übrig.» Giannopoulos trägt eine schwarze Hose und ein hellbraunes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Seine lebhafte Art lässt ihn jünger wirken, als er ist. Er zeigt um sich – auf zerstörte oder stark beschädigte Häuser, geschlossene Cafés und Geschäfte, weit und breit keine Passanten. «Vor allem die alten Steinhäuser hat das starke Erdbeben auf Kreta im September 2021 völlig zerstört. Viele andere Gebäude mussten abgerissen werden oder sind nach wie vor sanierungsbedürftig», sagt Giannopoulos. Dass trotz der Stärke des Erdbebens nur eine Person ums Leben kam, grenze an ein Wunder. «Wir hatten Glück, dass es um 9 Uhr morgens passierte, wo die meisten von uns unterwegs waren, und nicht mitten in der Nacht.»

Vom Bürgermeister zum Energiewendepionier

Die Gemeinde, die in Griechenland als Kleinstadt gilt, kennt Giannopoulos wie seine Westentasche: Von 1990 bis 2010 war er dort Bürgermeister. Er sei immer bemüht gewesen, Arkalochori von einem verschlafenen Örtchen in der Provinz zu einem Vorbild für andere Gemeinden zu machen. «Unsere große Freiluftbühne, unser 50-Meter-Schwimmbecken, unsere neuen Sportanlagen, die Messehalle – all das habe ich als Bürgermeister umsetzen können.» In der Tat eine erstaunliche Infrastruktur für einen sonst eher unscheinbaren Ort. Tourismus spielte hier noch nie eine Rolle, Arkalochori lebt hauptsächlich von der Landwirtschaft. Und doch ist die Gemeinde auch in einem anderen Bereich Vorreiter: bei der Energiewende. Der ehemalige Bürgermeister lächelt stolz. «Kommen Sie in unser Büro», lädt er uns ein. Vor dem Gebäude hängt ein Schild mit orangefarbenen Buchstaben: «Minoan Energy». Hier hat die Energiegenossenschaft von Arkalochori ihren Sitz. Der Name verweist auf die reiche Historie der Insel: In der minoischen Zeit (2800 bis 900 v. Chr.) entwickelte sich hier die früheste Hochkultur Europas. Die Geschichte von König Minos und dem Labyrinth des Minotaurus ist eine der bekanntesten Mythen überhaupt. Minos’ prächtiger Palast von Knossos, rund zwanzig Fahrminuten von Arkalochori entfernt, erinnert bis heute an diese Blütezeit. 

Ein älterer Mann sitzt an einem Schreibtisch mit PC und blickt wohlwollend in Richtung Kamera.
Charalambos Giannopoulos ist stolz, was die junge Genossenschaft bereits alles auf die Beine gestellt hat. Foto: Stelios Misinas

Auf Sachverstand und Freundschaft gegründet

Die «Minoa Energiaki Kinotita» (übersetzt: Minoische Energiegemeinde) ist die erste Energiegenossenschaft auf Kreta. Im Oktober 2019 gegründet, hat sie heute über 750 Mitglieder: Privatpersonen, aber auch kleine Unternehmen und ganze Kommunen, selbst ein Bistum und die Bezirksregierung Kretas sind beteiligt. Das Büro der Genossenschaft ist unscheinbar, das Mobiliar schlicht – ein Konferenztisch mit schwarzen Plastikstühlen, drei Schreibtische mit Laptops. An einer blau gestrichenen Wand hängt als einziger Blickfang eine Auszeichnung der Europäischen Union: der «European Sustainable Energy Award», den die Genossenschaft für ihre nachhaltige Energieproduktion im Jahr 2022 erhielt. 

Schon als Kind war ich von der Kraft der Erneuerbaren fasziniert.

Charalambos Giannopoulos, Mitgründer und Vorstand von «Minoan Energy»

«Als kleiner Junge beobachtete ich oft die Wassermühlen in meinem Dorf», erzählt Charalambos Giannopoulos. «Die Wucht des Wassers zog mich regelrecht in ihren Bann. Mir wurde klar, dass es in der Natur Kräfte gibt, die der Mensch für sich nutzen kann.» Dieser Gedanke ließ den studierten Agrarwissenschaftler auch während seiner Zeit als Bürgermeister nicht los. Er sah das enorme Potenzial Erneuerbarer Energien, wusste aber nicht, wie seine Gemeinde dies für sich hätte nutzen können. Als der griechische Gesetzgeber im Jahr 2018 mit dem ersten Bürgerenergiegesetz Europas die Gründung von Energiegenossenschaften ermöglichte, ergriff der mittlerweile ehemalige Bürgermeister die Gelegenheit: Er arbeitete sich in das neue Gesetz ein, besuchte Genossenschaften in anderen europäischen Ländern, trommelte Freunde und Bekannte zusammen und überzeugte sie vom Nutzen und der Notwendigkeit, Energiefragen auf Kreta genossenschaftlich anzugehen. Die Idee für Minoan Energy war geboren.

Gut gelaunt führt uns Charalambos Giannopoulos zusammen mit weiteren Genossenschaftsmitgliedern zu den Photovoltaikanlagen von Minoan Energy am Stadtrand von Arkalochori. Es wird gelacht, alle sind ausgelassener Stimmung, wie bei einem Wiedersehen guter Freunde. Unter ihnen ist Giorgos Viskadouros, 38 Jahre alt, Elektroingenieur und Experte in Sachen Solarenergie. «Diese Anlage hier ist unsere zweite. Sie wurde vergangenen Juli installiert, besteht aus 1.800 Solarmodulen und produziert insgesamt ein Megawatt Strom. Und da drüben befindet sich unsere erste 405-Kilowattstunden-Anlage, die ist schon anderthalb Jahre in Betrieb», erklärt er.

Panorama: In einer weiten Ebene, zwischen Ölbaumplantagen und Häusern gelegen, befindet sich eine PV-Freiflächenanlage.
In Arkalochori, im Landesinneren von Kreta gelegen, spielt der Tourismus kaum eine Rolle – dafür ist der Ort Vorreiter im Bereich der Energiewende. Foto: Stelios Misinas
Ein Mann mittleren Alters in Jeans und T-Shirt kniet vor einem Wechselrichter während er einige Kabel justiert.
Elektroingenieur Giorgos Viskadouros ist in der Genossenschaft der Experte in Sachen Solarenergie in der Genossenschaft. Foto: Stelios Misinas
 Hinter einer Baumreihe gelegen, erstrecken sich mehrere Ruinen: eine von ihnen besteht nur noch aus Außenwänden.
Überall in Arkalochori sind nach wie vor die Zerstörungen durch das starke Erdbeben von 2021 zu sehen. Foto: Stelios Misinas
Aus der Vogelperspektive: Zahlreiche Wohncontainer stehen in mehreren Reihen – dazwischen parken Pkw.
Viele Bewohnerinnen und Bewohner haben ihr Zuhause verloren, Hunderte von ihnen sind noch immer in Wohncontainern untergebracht. Foto: Stelios Misinas

Schon mit einem Anteil im Wert von einhundert Euro können Interessierte Mitglied der Minoan Energy werden. Je höher der eigene Betrag, desto weniger muss man für den Strom bezahlen. Das Ganze funktioniert nach dem Modell des «Virtual Net Metering», wonach der produzierte Strom ins Elektrizitätsnetz fließt und mit der Stromrechnung verrechnet wird. Die Mitglieder müssen nur für Strom bezahlen, wenn ihr Verbrauch größer ist als die Menge an Strom, die durch ihren Anteil eingespeist wird. «Wenn jemand Mitglied werden will, schauen wir uns seine Stromrechnungen an und berechnen, wie viel Strom sein Haushalt ungefähr verbraucht», sagt Viskadouros. «Eine vierköpfige Familie benötigt etwa 5.000 Kilowattstunden im Jahr. Diesen Strom liefern sechs dieser Solarpanels hier.» Dafür müsse die Familie einmalig etwa 3.300 Euro investieren. 

Energie solidarisch unter Mitgliedern aufteilen

Eine Investition, die sich auf alle Fälle lohnt – da sind sich alle Anwesenden einig. Denn 3.300 Euro würden allenfalls für zwei Jahresstromrechnungen reichen, während mit dem Genossenschaftsanteil mindestens fünfundzwanzig Jahre lang Gratis-Strom garantiert sei. Damit die Mitglieder den Überblick über ihren Verbrauch behalten, kontrolliere die Genossenschaft regelmäßig, ob sie mit ihrem Strom auch wirklich auskommen, erklärt Viskadouros: «Im Sommer braucht zum Beispiel ein Hotel mehr Strom, im Winter hingegen eine Olivenpresse. Das, was beim einen übrig bleibt, können wir dem anderen zuweisen, sodass die gewonnene Energie unter den Mitgliedern aufgeteilt wird und nicht verloren geht.» Bisher dreht sich alles um den Energieverbrauch; Geld erhalten die Mitglieder durch die Stromproduktion nicht. Deshalb ist es ihnen wichtig, dass sie den erzeugten Strom bestmöglich unter sich aufteilen.

Efi Akoumianaki mit ihren beiden Söhnen Nikitas und Giannis. Foto: Stelios Misinas

Efi Akoumianaki ist mehr als froh, diesen Schritt gegangen zu sein: Die 43-Jährige ist Giannopoulos’ Nichte und selbst Mitglied der Genossenschaft. Während ihre beiden kleinen Söhne das Esszimmer ihres geräumigen Hauses in Arkalochori unsicher machen, kocht sie in der offenen Küche schnell Nudeln für die Kinder, denn gleich muss sie zur Arbeit. Akoumianaki ist Griechischlehrerin und betreibt ein kleines Nachhilfeinstitut für Schülerinnen und Schüler. Auch ihr Haus sei beim Erdbeben von 2021 beschädigt worden – die Instandsetzung und die Reparaturen hätten viel Geld gekostet, sagt Akoumianaki. «Dass wir uns nicht auch noch zusätzlich Sorgen um die Stromrechnung machen mussten, war eine echte Erleichterung», erklärt sie lächelnd. Viel Überzeugungsarbeit seitens der Genossenschaft brauchte es nicht, damit Akoumianaki Mitglied wurde. «Charalambos Giannopoulos ist ja mein Onkel – für mich Grund genug, einzutreten. Ich weiß genau, was er alles für unseren Ort getan hat und wie sehr er sich all die Jahre für die Menschen hier eingesetzt hat. Der Umweltschutz und das Wohl der Allgemeinheit liegen ihm sehr am Herzen.» Sie will, dass auch ihr Institut an einem der kommenden Projekte teilnimmt. «Da leiste ich gerade Überzeugungsarbeit, schließlich muss auch meine Geschäftspartnerin damit einverstanden sein.»

Gesellschaftliches Bindeglied

Die Energiegenossenschaft hat bereits viele Privatpersonen und Institutionen als Mitglieder gewinnen können. Jetzt will man ein noch breiteres Publikum ansprechen, was mithilfe der kretischen Bezirksregierung angegangen wird: Als Mitglied der Genossenschaft finanziert sie ein Weiterbildungsprogramm von Minoan Energy, das die Bevölkerung über die Energiewende und die Rolle der Genossenschaft informieren soll. «Wir besuchen Städte, Kleinstädte und sogar abgelegenste Dörfer auf der ganzen Insel, damit auch einfache Bürgerinnen und Bürger sowie Schülerinnen und Schüler erfahren, was die Energiewende ist, wie sie selbst dazu beisteuern können und welche Rolle die Energiegenossenschaften dabei spielen», sagt die 52-jährige Ermioni Gialyti.

Die Geologin berät die Bezirksregierung in Sachen Erneuerbare und ist auch selbst überzeugtes Mitglied der Energiegenossenschaft von Arkalochori. Sie sei direkt nach der Arbeit aus Heraklion angereist, um beim Rundgang mit uns dabei zu sein, sagt Gialyti. Sie erzählt uns, dass die Bezirksregierung auch bedürftige Haushalte unterstützt, die besonders von der Energiearmut bedroht seien: «Sie hat Genossenschaftsanteile für diese Menschen gekauft, damit auch sie für ihren Strom nicht zahlen müssen.» Rund fünfzig Familien seien aktuell im Programm. Ginge es nach Giannopoulos, würde das Programm noch mehr Menschen erfassen. Er wolle der Bezirksregierung nahelegen, den Fokus dabei vermehrt auf kinderreiche Familien zu richten, die es ohnehin finanziell schwer hätten und in der rasch alternden kretischen Gesellschaft eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Bevölkerungsschwund spielten. Eine Idee, die auch Ermioni Gialyti gut findet: «Herr Giannopoulos ist uns allen immer einen Schritt voraus und steht für Inklusion und soziale Gerechtigkeit. Er mag der Älteste von uns sein – aber er ist unermüdlich.»

Eine Frau im gelben Blazer steht lächelnd vor einer PV-Anlage, die sich unscharf im Hintergrund befindet.
Die Geologin Ermioni Gialyti arbeitet für die Bezirksregierung Kreta und ist Mitglied der Energiegenossenschaft Minoan Energy. Foto: Stelios Misinas

Große Pläne – aber auch große Hemmnisse

Doch damit möglichst viele Menschen von einer Mitgliedschaft bei Minoan Energy profitieren können, braucht die Genossenschaft neue Anlagen. «Aktuell laufen drei Genehmigungsverfahren für weitere Projekte», erklärt Energieexperte Viskadouros. Geeignete Flächen dafür gebe es auf Kreta mehr als genug, die Herausforderung liege in der ungenügenden Netzinfrastruktur. Die bestehenden Netze seien schnell überlastet, daher würden Projekte kleiner Stromproduzenten oft nicht genehmigt, kritisiert Giannopoulos: «Die Großen werden bei der Vergabe bevorzugt, oft ohne ein transparentes Verfahren. Beantragst du dann als Kleiner eine weitere Anlage, heißt es, es gebe keine Kapazitäten mehr.»

Wenn wir nicht aufbegehren, werden nur die großen Player von der Energiewende profitieren.

Charalambos Giannopoulos, Mitgründer und Vorstand von «Minoan Energy»

Die Erneuerbaren würden sich besonders zur dezentralen Energieerzeugung eignen. Doch die Regierung versuche, das alte zentralistische Energiemodell aus Zeiten der fossil betriebenen Großkraftwerke aufrechtzuerhalten, und erteile den Großkonzernen Genehmigungen für riesige Solar- oder Windparks, sagt Giannopoulos.

Riesige Anlagen statt kleinerer Bürgerprojekte? Dahinter steckt nicht zuletzt das ambitionierte Klimaziel der griechischen Regierung: Das aktuell noch stark von Gas- und Ölimporten abhängige Land will bis 2030 80 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien beziehen. Bis 2028 sollen auch die letzten griechischen Braunkohlewerke im Norden des Landes vom Netz gehen.

Griechenland hat es eilig mit der Energiewende – und könnte dadurch eine Riesenchance für eine gerechtere Teilhabe aller verpassen, befürchten die Leute von «Minoan Energy»: «Wenn die Energiegenossenschaften nicht gegen die aktuelle Regierungspolitik aufbegehren, werden von der Energiewende letztlich nur die großen Player profitieren.» Die Bürgerinnen und Bürger würden wieder einmal außen vor bleiben. Giannopoulos wird lauter, das Thema regt ihn auf.

Eine Insel mit Sonne, Wind und Oliven

Dimitris Katsaprakakis Foto: Stelios Misinas

Bei der Besichtigung der PV-Anlage treffen wir Dimitris Katsaprakakis, Professor für Ingenieurwesen an der Hellenischen Mittelmeer-Universität in Heraklion. Kreta habe in Sachen Erneuerbare Energien ein Potenzial wie kaum eine andere Region Europas, sagt der 50-Jährige. Dabei seien die dreihundert Sonnentage pro Jahr nur einer von vielen Vorteilen. «Die Sonnenenergie liefert auf Kreta 2.000 Kilowattstunden pro Quadratmeter im Jahr, auch die Leistungsfähigkeit des Windes ist vielversprechend.» Er schaut auf die Berge in der Ferne. «Der Wind erreicht hier auf Kreta eine Geschwindigkeit von zehn Metern pro Sekunde, bei vielen Windkraftanlagen in Zentraleuropa sind es im Schnitt nur fünf oder sechs Meter.» Und dann gebe es noch die üppige Biomasse, etwa von Olivenbäumen und Olivenkernen – eine reiche, aber bisher kaum genutzte Energiequelle.

Diese Bedingungen machen Kreta zu einem Ort mit einem Potenzial, das mit dem des Nahen Ostens vergleichbar sei, sagt Katsaprakakis: «Nur dass unsere Energiequellen praktisch unerschöpflich sind.» Schon jetzt werden 22 Prozent des Stroms auf Kreta aus Wind und Sonne erzeugt, sagt der Hochschulprofessor. Aber das alleine sage nicht viel aus: «Die Energiewende ist das eine. Das andere ist, dass dieser Reichtum uns – den Menschen, den kleinen Unternehmen, den Gemeinden unserer Insel – zugutekommt. Dafür kämpfen wir.» Katsaprakakis spricht von Korruption, fehlender Transparenz und Lobby­arbeit, die den Energiegenossenschaften Steine in den Weg legen. «Sehen Sie diese Berggipfel hier? Wir haben heute erst erfahren, dass dort ein großer Konzern mit dem Bau von Windkraftanlagen beginnt, obwohl die offizielle Genehmigung noch aussteht.» Diese fehlende Transparenz führe zu einem tiefen Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Erneuerbaren, sagen die Mitglieder von Minoan Energy. «Die Leute sehen, wie rings herum riesige Windkraftanlagen entstehen. Sie selbst haben aber nichts davon, der Strom bleibt teuer und sie sind von der Teilhabe ausgeschlossen. Für die meisten Menschen ändert sich nichts zum Besseren», sagt der 34-jährige Produktionsmechaniker Aris Tsekouras, ein weiteres Mitglied im Wissenschaftsteam der Genossenschaft. Der Umweltschutz alleine sei für die meisten Menschen auf Kreta kein Grund, über Ökostrom nachzudenken.

Zwei Männerbüsten auf Steinsockeln flankieren einen Baum mit schmalem Stamm, dahinter befindet sich ein Lokal.
Zwei Denkmäler im Ort ehren lokale Widerstandskämpfer, die im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Besatzer kämpften. Foto: Stelios Misinas

So erkläre sich auch, warum nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs, der auch in Griechenland die Strompreise in die Höhe trieb, die Energiegenossenschaft regen Zulauf bekam. Gerade in einer Region, die von mehreren existenziell bedrohlichen Krisen heimgesucht wurde – der griechischen Finanzkrise, Corona, dem starken Erdbeben, der Energiekrise –, sei der wirtschaftliche Aspekt entscheidend, so Tsekouras.

Das Pilotprojekt «Crete Valley»

Innovativ will die Genossenschaft auch in Zukunft bleiben. So ist Minoan Energy in das ambitionierte Pilotprojekt «Crete Valley» involviert, das in fünf Jahren abgeschlossen sein soll: Vier Ortschaften rund um Arkalochori sollen bis dahin smarte, energietechnisch unabhängige «Täler» bilden, die nicht mit dem kretischen Stromnetz verbunden sind, sondern ihre eigene Energie produzieren, dezentral speichern und dabei einen Mix aus Erneuerbaren nutzen: Sonne, Windenergie aus kleinen Windkrafträdern (optisch den traditionellen Windmühlen der Region ähnlich), aber auch Fernwärme und Fernkälte durch Biogas und Biomasse. Das avancierte Projekt wird mit zwanzig Millionen Euro aus einem EU-Förderprogramm unterstützt. Giorgos Viskadouros erklärt: «In jedem der vier Orte werden rund zwanzig bis fünfzig Haushalte am Pilotprojekt teilnehmen.» Ziel sei es, das Ganze dann weiter auszubauen. «Und wir wollen einen digitalen Zwilling des Projekts entwerfen, sodass man es auch in anderen Regionen umsetzen kann.» Schließlich sollen so viele Menschen und Gemeinden wie möglich aktiv an den Ideen der Genossenschaft und der Energie­­wende teilhaben können. Das Know-how für sich zu behalten, da sind sich alle einig, sei mit den Prinzipien einer wahren Energiegemeinde nicht vereinbar.

Sowohl bei der Genehmigung neuer Anlagen als auch bei der Energiemenge, die sie produzieren dürfen, müssten Genossenschaften wie Minoan Energy Vorrang haben, fordert auch Vasilis Kegeroglou, der frisch gewählte Bürgermeister von Arkalochori. Schließlich würden sie einen Großteil der lokalen Gesellschaft und der Kommunen der Region vertreten. Das aber sehe die griechische Gesetzgebung bisher nicht vor. Der Kampf von Minoan Energy gegen die großen in- und ausländischen Energiekolosse und deren Interessen: eine moderne Form des Widerstands in einer Region, die schon immer gegen Fremdbestimmung gekämpft hat? Der Bürgermeister nickt zustimmend. Im Laufe ihrer Geschichte habe sich die Insel Kreta vielen fremden Herrschern widersetzt, sagt Kegeroglou – ob den Osmanen, den Venezianern oder der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. 

Ein etwas altertümlich wirkendes Windrad mit acht dreieckigen Windsegeln steht neben einer Stromtrasse.
Ein Prototyp der kleinen Windkrafträder, die Minoan Energy auf Kreta instal­lieren will. Sie ähneln den traditionellen Windrädern der kretischen Region Lasithi. Foto: Stelios Misinas
Ein Mann mit grauem Bart steht neben einer Infotafel und hält einen dicken Filzstift in der Hand.
Der Bürgermeister von Arkalochori, Vasilis Kegeroglou, ist noch nicht lange im Amt. Er sieht auch als modernen Widerstand gegen große Energiekonzerne. Foto: Stelios Misinas

Demokratisch organisierte Energie­erzeugung hat eine große Wirkmacht.

Charalambos Giannopoulos, Mitgründer und Vorstand von «Minoan Energy»

«Man könnte da durchaus Parallelen zur Vergangenheit ziehen. Denn der Widerstand heutzutage hat mit der fairen Verteilung der grünen Energien zu tun», sagt der Bürgermeister. «Ein Widerstand, der nicht mehr selbstverständlich ist», fügt Giannopoulos hinzu. «Unsere Großväter hatten ihre eigenen Wassermühlen, produzierten die Energie, die sie brauchten, um ihr Getreide zu mahlen. Diese Autarkie kennen die Menschen heutzutage nicht mehr. Sie sehen sich nur als Energiekonsumenten – das versuchen wir zu ändern. Energieerzeugung ist etwas, an dem alle teilhaben können. Demokratisch organisierte Energieerzeugung hat eine große Wirkmacht. Und das leuchtet immer mehr Menschen ein, die sich dann in Energiegenossenschaften engagieren. Auch auf Kreta.»

Bevor wir uns verabschieden, frage ich mich, was aus der Genossenschaft wohl wird, sollte sich der omnipräsente Giannopoulos irgendwann zur Ruhe setzen. Eine Frage, die nicht nur mich beschäftigt. «Ich mache mir schon Gedanken darüber, wer mich in Zukunft ablösen wird», sagt Charalambos Giannopoulos. «Doch ich habe viele fähige und aufrichtige Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die wie ich vom Sinn und Zweck unserer Energiegenossenschaft überzeugt sind. Wir teilen dieselben Ideen. Und das ist gut so!»

 

Dieser Text ist auch auf Englisch erschienen. / Titelfoto: Stelios Misinas

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04. April 2024 | Energiewende-Magazin