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Wie viel Zukunft steckt in Wasserstoff?

Ein Bericht von Daniela Becker

Wasserstoff wird für die Energiewende unverzichtbar sein – doch auf dem Weg in eine klimafreundliche Wasserstoffwirtschaft sind noch viele Fragen offen.

Seitdem das Bundesverfassungsgericht Ende April 2021 mehr Klimaschutz angemahnt und konkrete Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab 2031 eingefordert hat, überschlagen sich die Parteien geradezu mit Absichtserklärungen. Besonders häufig ist dabei von Wasserstoff die Rede, der den Weg in die Klimaneutralität sichern soll. Parteiübergreifend wird die Zukunft mit diesem vielfältigen Energieträger in den schönsten Farben ausgemalt. Woher kommt die scheinbare Einigkeit?

Durch die weitere Elektrifizierung, die für die Energiewende dringend benötigt wird, spielt Strom zwar zukünftig eine deutlich größere Rolle als heute. «Doch werden noch viele Bereiche verbleiben, wo wir fossile Energieträger durch andere Energieträger oder Technologien ersetzen müssen und bei denen Strom nicht infrage kommt», sagt Carsten Rolle vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). «Daher wird das Thema Wasserstoff jetzt mit einer großen Dynamik noch mal neu diskutiert.»

Als große Hoffnung gilt Wasserstoff, weil er bei der Nutzung – im Gegensatz zu fossilen Energieträgern – keinerlei schädliche Emissionen verursacht. Der entscheidende Haken an der Sache ist allerdings, dass die Produktion von Wasserstoff bislang meist alles andere als klimafreundlich ist.

Klimaschonend in der Anwendung

In seiner reinen Form ist Wasserstoff (H2) ein unsichtbares, geruchloses, ungiftiges Gas und leichter als Luft. In der Natur tritt Wasserstoff nur in gebundener Form auf und muss daher zunächst aus einer chemischen Verbindung gelöst werden. Die bisher häufigste verwendete Methode zur Herstellung ist die Dampfreformierung. In der Regel wird dazu Erdgas (CH4) unter Hitze in Wasserstoff und Kohlendioxid umgewandelt. Der auf diese Weise hergestellte, als «grau» bezeichnete Wasserstoff wird heute in unterschiedlichsten Bereichen als Rohstoff genutzt, etwa als Kühlmittel in Kraftwerken, als Treib- und Packgas bei Lebensmitteln oder bei der Herstellung von Dünger. Doch ganz gleich, wofür der Wasserstoff genutzt wird – bei einer erdgasbasierten Produktion fallen pro hergestellte Tonne H2 rund zehn Tonnen CO2 an, das in die Atmosphäre abgegeben wird und so den Treibhauseffekt verstärkt.

Sehr viel umweltfreundlicher ist dagegen «grüner Wasserstoff», der in sogenannten «Elektrolyseuren» hergestellt wird. Dabei setzt man Strom aus Erneuerbaren Energien ein, um das Wasser per Elektrolyse in Sauer- und Wasserstoff aufzuspalten.

Eine Infografik erläutert die Herstellungsmöglichkeiten von Wasserstoff anhand von Piktogrammen und Flussdiagrammen. So wird grüner Wasserstoff durch die Elektrolyse von Strom aus Erneuerbaren Energien erzeugt, als Nebenprodukt entsteht Sauerstoff. Graue Wasserstoff wird unter Einsatz von Strom aus fossilen Energieträgern durch Dampfreformierung erzeugt, als Nebenprodukt wird Kohlendioxid in die Atmosphäre abgegeben. Türkisfarbener Wasserstoff wird durch Pyrolyse aus Erdgas oder Methan gewonnen, dabei entsteht fester Kohlenstoff, der gespeichert wird.
Nur die Erzeugung von Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien ist frei von technischen Risiken und unproblematisch für das Klima. Grafik: Katrin Schoof / Quelle: Öko-Institut e.  V. und Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V.
Die Infografik erläutert nun zwei weitere Herstellungsmöglichkeiten von Wasserstoff anhand von Piktogrammen und Flussdiagrammen. Bei der Herstellung von blauen Wasserstoff aus Methan will man das klimaschädliches Kohlendioxid sicher speichern («Carbon Capture and Storage»), was noch nicht vollständig erforscht ist. Pinkfarbener Wasserstoff wird unter Einsatz von Atomstrom durch Elektrolyse gewonnen, wobei Sauerstoff als Nebenprodukt entsteht.
Auch bei der Herstellung von Wasserstoff aus Methan entsteht klimaschädliches Kohlendioxid, dessen sichere Einlagerung die Voraussetzung für Klimaneutralität wäre. Grafik: Katrin Schoof / Quelle: Öko-Institut e.  V. und Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V.

Viele Einsatzmöglichkeiten – aber auch viele offene Fragen

Im Rahmen der Energiewende könnte grüner Wasserstoff grundsätzlich in zahlreichen Bereichen eine Rolle spielen: als Ersatz für bislang grau erzeugten Wasserstoff, weiterverarbeitet als Kraftstoff, als Alternative für Erdgas im Wärmebereich sowie als Energiespeicher, um kurzfristige Fluktuationen bei den Erneuerbaren auszugleichen. Und auch für die Langzeitspeicherung von Energie ist Wasserstoff in der Diskussion.

«Insbesondere im Bereich der Flugtreibstoffe und der energieintensiven Industrien besteht durch den Einsatz von grünem Wasserstoff ein großer Hebel zur CO2-Minderung», sagt Felix Christian Matthes, Experte für Energie- und Klimapolitik am Öko-Institut und Mitglied des Nationalen Wasserstoffrats. Denn diese Bereiche ließen sich nicht ohne Weiteres elektrifizieren, weswegen grünem Wasserstoff oder daraus hergestellten Syntheseprodukten wie Methanol oder Methan hier eine womöglich entscheidende Rolle zukommen könnte.

Dekarbonisierung von Industrieprozessen wird noch erprobt

«Ganz besonders in der Stahlindustrie werden wir gar nicht um den Einsatz von Wasserstoff herumkommen», sagt Daniela Jansen, Projektleitung «Wasserstoff» bei der IG Metall und Aufsichtsratsmitglied von Thyssenkrupp. Tatsächlich ist die Stahlindustrie einer der energieintensivsten Industriezweige überhaupt – und Kohle zur Stahlherstellung bislang unverzichtbar: Zum einen liefert sie im Hochofen die Wärmeenergie, um das Eisen aus den Eisenerzpellets herauszuschmelzen. Die Kohle wird aber auch dazu eingesetzt, das Eisen, das in der Natur hauptsächlich in oxidierter Form vorkommt, aus seiner Sauerstoff-Eisen-Verbindung zu lösen.

An seinem Duisburger «Hochofen 9» testet Thyssenkrupp Steel seit 2019 schrittweise ein neues Schmelzverfahren, bei dem der Sauerstoff-Eisen-Verbindung Wasserstoff statt Kohle zur Reaktion angeboten wird. Dank seiner Reaktionsfreudigkeit löst das Gas das Eisenoxid vom Sauerstoff, um sich mit ihm zu H2O zu verbinden.

Doch diese Reaktionsfreude macht Wasserstoff auch zu einem gefährlichen Element: Zusammen mit dem Sauerstoff der Umgebungsluft bildet Wasserstoff das gefährliche Knallgas, ein hochexplosives Gemisch. Die Stahlkocher müssen also dafür sorgen, dass der Wasserstoff wirklich erst im Inneren des Hochofens reagiert. Eine komplett CO2-freie Stahlproduktion hält Thyssenkrupp erst ab 2050 für realistisch, denn das Projekt ist technisch äußerst anspruchsvoll. Dennoch setzt man in die Weiterentwicklung des Verfahrens große Hoffnungen: Immerhin würde jede Tonne Stahl, die mit grünem Wasserstoff erzeugt wird, 25 Tonnen Kohlendioxid vermeiden.

Über einem rotglühenden meterlangen Stahlblock, dem Rauch entsteigt, schwebt ein Lastenkran mit vier massiven Greifern.
Große Stahlproduzenten wie Thyssenkrupp und die Salzgitter AG – hier deren Warmbreitbandstraße – wollen Stahl zukünftig mit Wasserstoff statt mit Kohlenstaub produzieren. Im Gegensatz zu Kohlenstoff reagiert der Wasserstoff im Hochofen nicht zu CO₂, sondern zu Wasser. Foto: Salzgitter AG
Luftfoto: Blick über ein riesiges Industriegelände, das an einer Flussschleife liegt
Auf dem direkt am Rhein gelegenen STEAG-Gelände in Duisburg soll künftig die Herstellung von «grünem Stahl» erprobt werden. Foto: Marko Kosczowsky / Capture Media

Ein Vorreiterprojekt zeigt, wie die Zukunft aussehen könnte

Die Chancen, durch Wasserstoff Industrieprozesse zu dekarbonisieren, sind also gewaltig – ebenso allerdings auch die damit verbundenen Herausforderungen. Doch auch bis zu einem großflächigen Einsatz von Wasserstoff als Energieträger sind noch vielerlei Hürden zu überwinden. Wie eine Wasserstoffwirtschaft im Kleinen funktionieren könnte, zeigt das Unternehmen Enertrag seit einigen Jahren im brandenburgischen Prenzlau. Direkt an einem kleinen Windpark steht dort ein Elektrolyseur mit einer elektrischen Leistung von 0,5 Megawatt. Drehen sich die drei Windräder auf Höchsttouren, wird aus dem Windstrom auch Wasserstoff erzeugt. Dieser kann in Tanks gespeichert und an windstillen Tagen wieder verstromt werden. Auf diese Weise dient das Gas als flexibler Energiespeicher.

Auch an der Langzeitspeicherung von Wasserstoff wird aktuell geforscht. So untersuchen Wissenschaftler des Instituts für Vernetzte Energiesysteme des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oldenburg mit dem Forschungsprojekt «HyCavMobil» (Hydrogen Cavern for Mobility), wie sich Wasserstoff sicher in Salzkavernen speichern lässt.

Nur mit ganzheitlichen Lösungen kann der Schritt in eine nachhaltige Wasserstoffwirtschaft gelingen.

Prof. Dr.-Ing. Karsten Lemmer, Vorstand des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt

Doch auch synthetischer Kraftstoff wird in Prenzlau aus Wasserstoff produziert. Die Herstellung solcher Kraftstoffe, die beispielsweise Kerosin ersetzen können, bedarf allerdings noch eines weiteren Schritts: Im sogenannten «Power-to-Liquid-Verfahren» wird Wasserstoff mit gespeichertem Kohlendioxid zu künstlichen Kohlenwasserstoffen veredelt, die sich als klimaneutrale Treibstoffe nutzen lassen. Die Umwandlung erfolgt dabei durch Elektrolyse – sie ist jedoch sehr energieaufwendig. Dadurch wird mit jeder Umwandlung – sei es von Strom zu Gas oder von Wasserstoff zu Treibstoff – der Wirkungsgrad kleiner.

In Prenzlau wird durch Elektrolyse Methan gewonnen, dessen brenntechnische Eigenschaften nahezu identisch mit denen von fossilem Erdgas sind. Es könnte zur Wärmeversorgung direkt ins Erdgasnetz eingespeist werden, wird jedoch im Rahmen des Pilotprojekts als Erdgas-Wasserstoff-Gemisch unter dem Namen «Windgas» für Busse, Lkw oder Boote vermarktet.

So wird in Brandenburg im Kleinen erprobt, was für unsere Energiewirtschaft im Großen zukünftig Anwendung finden könnte. «Doch nur wenn wir dabei vernetzt denken, die Sektoren Strom, Wärme, Mobilität und Industrie zusammen betrachten und ganzheitliche Lösungen finden, kann der Schritt in eine nachhaltige Wasserstoffwirtschaft gelingen», meint Karsten Lemmer, Vorstand des DLR und dort für das Ressort «Innovation, Transfer und wissenschaftliche Infrastrukturen» zuständig.

Luftaufnahme: Inmitten der Landschaft stehen drei Windräder, daneben drei Speicher mit kuppelförmigen Dächern sowie weitere Gebäude; auch drei große zigarrenförmige Tanks sind zu erkennen.
Im brandenburgischen Prenzlau erzeugt das Unternehmen Enertrag Wasserstoff aus Wind – durch Elektrolyse. Foto: Silke Reents / Enertrag
Zwei runde, liegende Tanks in einer Industriehalle, beide mit dem Unternehmensnamen «ENERTRAG» beschriftet, auf dem einen der Tanks steht in großen blauen Lettern zudem «O₂», auf dem anderen «H₂» in Rot
Der grüne Wasserstoff wird unter anderem zu Heizzwecken, zur Betankung von Pkw und Bussen und in industriellen Prozessen eingesetzt. Foto: Silke Reents / Enertrag
Blick auf einen grünen, kreisrunden Speichertank an einem Waldrand, neben dem einige weitere kleine Zweckbauten angeordnet sind
Windwärmespeicher wie dieser nutzen unregelmäßig anfallenden Strom aus Produktionsspitzen von Windkraftanlagen, um Wasser für Nahwärmenetze zu erhitzen und zu speichern. Foto: Silke Reents / Enertrag

Ohne Infrastruktur keine Wasserstoffwirtschaft

Der zuverlässige und sichere Transport von Wasserstoff ist ein weiterer entscheidender Faktor für eine zukünftige Wasserstoffwirtschaft. Dabei geht es sowohl um internationale Transportwege als auch um die lokale Verteilung bis zum Endnutzer. Für die Pilotphase des Duisburger Hochofens 9 wird der Wasserstoff zum Beispiel noch per Lkw angeliefert. «Aber das ist natürlich kein langfristig tragfähiges Konzept», sagt Thyssenkrupp-Aufsichtsrätin Daniela Jansen mit Blick auf die großen Mengen Wasserstoff, die eine klimaneutrale Stahlproduktion perspektivisch benötigt.

Um Wasserstoff in eine transportable Form zu überführen, kommen unterschiedliche Ansätze infrage: flüssiger Wasserstoff oder die Umwandlung des Gases in Ammoniak, in Methan oder in flüssige organische Wasserstoffträger (LOHC). Im Moment ist allerdings noch nicht abzusehen, welcher dieser Ansätze sich durchsetzen wird. Und es ist auch noch unklar, auf welchen Wegen der Energieträger zu seinem Einsatzort gelangt. Denn um Wasserstoff oder Produkte daraus im großen Maßstab aufzunehmen, müssten viele der unterirdisch verlegten Rohrleitungen erst noch ertüchtigt und optimiert werden. Eine ebenso zeitintensive wie teure Aufgabe, besteht das deutsche Gasnetz doch aus einem Transportnetz von rund 40.000 Kilometern und einem Verteilnetz von 470.000 Kilometern Länge. Und auch ein Wasserstofftankstellennetz, an denen Lkw, Busse oder Schwermaschinen betankt werden können, müsste erst noch aufgebaut werden.

Ein blauer Nahverkehrszug an einem Waldrand
Dieser Zug des Herstellers Alstom wird durch eine Brennstoffzelle angetrieben – statt giftiger und klimaschädlicher Abgase entsteht hier während der Fahrt lediglich Wasserdampf. Foto: Hermann Kolbeck / Alstom

Grün oder blau – der Streit um den richtigen Weg

Doch ganz gleich, in welcher Form und auf welchen Wegen der Wasserstoff zu seinem Bestimmungsort gelangt: Letztlich ausschlaggebend ist für die Klimabilanz des Energieträgers vor allem seine Herstellungsweise. Der sogenannte «grüne Wasserstoff», der vollständig aus Sonne und Wind produziert wird, könnte zwar zur Mitte des Jahrhunderts in vielen Ländern günstiger sein als Erdgas, so der Forschungsdienst Bloomberg NEF. Dazu trage maßgeblich die Kostenentwicklung und der weitere Ausbau der Photovoltaik bei. Doch das ist Zukunftsmusik. Noch ist die Wasserstoffproduktion aus Erdgas erheblich günstiger – und es wird im nächsten Jahrzehnt nicht ausreichend Strom aus Erneuerbaren für die Elektrolyse zur Verfügung stehen.

Im Moment wird deswegen heftig über den richtigen Weg in eine Wasserstoffwirtschaft debattiert. Ein zentraler Streitpunkt ist dabei, ob außer «grünem» Wasserstoff auch andere «Farben» als «sauber» eingestuft werden können.

Wir müssen, solange fossiles Gas billiger ist, Übergänge gestalten.

Prof. Dr. Veronika Grimm, Ökonomin und Mitglied des Rats der Wirtschaftsweisen

So möchte Wirtschaftsminister Peter Altmaier den aus Erdgas erzeugten «blauen» Wasserstoff, bei dem CO2 abgeschieden und gespeichert wird, gerne als sauber einstufen – auch wenn noch völlig unklar ist, wo das Treibhausgas sicher gelagert werden kann. Norwegen plant, Kohlendioxid in alte Öl- und Gasfelder zu pressen. Die verwendete Technologie ist allerdings umstritten. Andere Länder wie Frankreich oder Japan haben wiederum vor, Wasserstoff mithilfe von Atomstrom zu erzeugen. Kritiker befürchten deswegen gar, dass unter dem Deckmantel des Klimaschutzes Laufzeiten von AKW verlängert, noch mehr Erdgas als ohnehin schon importiert und weitere Pipelines wie «Nord Stream 2» gebaut werden könnten.

Andere weisen darauf hin, dass man mit dem Aufbau einer funktionsfähigen Transport- und Produktionsstruktur für Wasserstoff nicht bis 2050 warten könne. «Ich bin überzeugt, dass wir eine Zeit lang blauen Wasserstoff benötigen werden. Wir müssen in der Phase, in der das fossile Gas noch viel billiger ist als alles, was aus Erneuerbaren erzeugt werden kann, Übergänge gestalten», sagt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm, Ökonomin von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Gleichzeitig, so Grimm, müsse geregelt werden, dass das nicht zu zusätzlichen massiven CO2-Emissionen in dieser Übergangszeit führt.

Grüner Wasserstoff – priorisiert für die Industrie?

Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage, ob und in welchen Bereichen der Wasserstoff und seine Folgeprodukte priorisiert eingesetzt werden sollen. Die Ökonomin Claudia Kemfert plädiert daher dafür, Wasserstoff nur in jenen Bereichen einzusetzen, in welchen Strom nicht genutzt werden kann. Einige Lobbyisten sehen das naturgemäß anders: Der Verband der Automobilindustrie (VDA) fordert – obwohl immer mehr Autohersteller ankündigen, komplett auf E-Autos umzusteigen – «Technologieoffenheit» und möchte Verbrennungsmotoren in Pkw, die sich mit synthetischen Kraftstoffen befeuern ließen, die Zukunft offenhalten.

Vor einer Wasserstofftankstelle stehen eine Frau und ein Mann; sie trägt ein Klembrett mit sich, während er den Tankschlauch in der Hand hat. Davor steht ein silberfarbenes Auto.
Eine Wasserstofftankstelle «efarm» des Anbieters GP Joule in Nordfriesland Foto: Gesche Jäger / GLS Bank

Eine sehr ähnliche Debatte spielt sich im Heizungsbereich ab. «Obwohl es ineffizient und teuer wäre, Wasserstoff im Wärmesektor einzusetzen, gibt es massiven Lobbydruck genau dafür», sagt Julia Verlinden, Sprecherin für Energiepolitik in der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Denn auch die Heizkesselhersteller haben großes Interesse daran, dass weiter auf eine Wärmeversorgung per Gas und nicht etwa ausschließlich auf elektrische Wärmepumpen in Kombination mit Solarthermie gesetzt wird.

«Eine politische Einigung über die Einsatzschwerpunkte von Wasserstoff für die nächsten 15 Jahren wäre ein großer Fortschritt», meint Felix Matthes, Forschungskoordinator für Energie- und Klimapolitik am Öko-Institut. Die scheint jedoch nicht in Sicht. Die «Nationale Wasserstoffstrategie» des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sieht im Moment eher eine Gießkannenförderung von Modellregionen und Forschungsprojekten in allen Sektoren vor.

Importe sind notwendig – aber wie viele und woher?

«Weil bei uns der Raum für Erneuerbare begrenzt ist, werden wir die größte Menge Wasserstoff importieren müssen», sagt Patrick Graichen, Direktor des Berliner Thinktanks Agora Energiewende. Ein Szenario des Öko-Instituts beziffert die benötigten Mengen Wasserstoff für eine klimaneutrale Stahl- und Chemieindustrie, für die Reserveleistung für Windkraft sowie für synthetische Kraftstoffe für den Flug- und Schiffsverkehr bis 2030 auf rund 60 und bis 2050 auf rund 270 Terrawattstunden. Dabei wird angenommen, dass etwa ein Drittel dieser Menge im Inland aus erneuerbarem Strom per Wasserelektrolyse erzeugt werden könnte.

Schon jetzt droht eine Ökostromlücke.

Dieter Janecek, Sprecher für digitale Wirtschaft und Industriepolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Das ist allerdings eine optimistische Annahme – denn der Ausbau der Erneuerbaren in Deutschland stockt. Im Stromsektor lassen sich die gesetzten Klimaziele kaum erreichen, sodass nicht die Rede davon sein kann, in naher Zukunft zusätzlich zahlreiche Elektrolyse-Standorte mit heimischem Grünstrom zu bedienen. «Schon jetzt ist klar, dass uns da eine Ökostromlücke droht, die wir schleunigst schließen müssen», sagt der grüne Bundestagsabgeordnete Dieter Janecek.

Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI nahm für eine Studie das Thema Wasserstoffimporte genauer unter die Lupe. Es zeigte sich, dass beispielsweise Nordafrika als Exportregion gute Voraussetzungen bietet: Dort gibt es viel mehr Flächen für Grünstrom-Anlagen, deutlich höhere Energieerträge als in Deutschland aufgrund der günstigen klimatischen Voraussetzungen. Aus Wind- und Sonnenstrom erzeugte Exporte böten auch Ländern wie Russland oder Saudi-Arabien, die wirtschaftlich stark von der Erdöl- und Erdgasförderung abhängen, eine Perspektive – für die importierenden Länder allerdings auch neue Abhängigkeiten von zum Teil bislang wenig demokratischen Ländern.

Patrick Graichen plädiert daher dafür, nicht ausschließlich auf außereuropäische Importe zu setzen, sondern auch für einen starken europäischen Heimatmarkt zu sorgen. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass beispielsweise die Stahlindustrie in Länder abwandert, in denen Wasserstoff günstiger produziert werden kann. Der Energieexperte meint: «Zielführend für eine zukunftssichere Gestaltung des Industriestandorts Europa wären eine gemeinsame Wind-Offshore-Planung für Nord- und Ostsee, die Wasserstofferzeugung aus Solarstrom in Südeuropa und der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur.»

Riesige, noch unverbundene Teilstücke einer Pipeline liegen in einer flachen Baugrube, die von Agrarflächen umgeben ist.
Die Erdgaspipeline «Nord Stream 2» in Brandenburg: Diese gerade verlegten Rohre müssten umgerüstet werden, um sie für den Transport von Wasserstoff nutzen zu können. Foto: CeHa / Adobe Stock
Acht Wasserstofftanks liegen, von einer Stahlkonstruktion gesichert, auf einem Autoanhänger. Rote Warnschilder weisen auf die Art und die Entzündlichkeit des Transportgutes hin.
Bis eine leistungsfähige Wasserstoffinfrastruktur aufgebaut ist, muss der viel diskutierte Energieträger ganz konventionell transportiert werden. Foto: Jochen Tack / Alamy Stock

Noch viele ungeklärte Fragen

Laut einer Erhebung der Initiative «Hydrogen Council» haben bereits mehr als 30 Länder eine Wasserstoff-Roadmap veröffentlicht und planen, viele Milliarden in Industrieprojekte zu investieren. Hier entwickelt sich ein völlig neuer Markt, die Begehrlichkeiten wachsen. Nicht ausschließlich der Klimaschutz ist daher der Grund, weswegen der Energieträger heiß debattiert wird, sondern handfeste ökonomische Interessen. Und so haben zwar inzwischen alle Parteien und viele Interessengruppen das Thema Wasserstoff für sich entdeckt, in Detailfragen herrscht aber wenig Einigkeit.

Zweierlei steht fest: Eine wirklich klimafreundliche Wasserstoffwirtschaft ist kein Selbstläufer. Und um auf dem Weg in das Wasserstoffzeitalter die Klimakrise nicht auch noch zusätzlich anzufeuern, muss die Politik bei dieser Transformation frühzeitig den Klimaschutz als oberstes – und verpflichtendes – Ziel setzen.

 

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30. Juni 2021 | Energiewende-Magazin