Über den Wolken
Ein Essay von Christopher Schrader
Der Flugverkehr ist ein enormes Problem für das Klima. Experten und Organisationen ringen um Lösungen – oder wenigstens um Linderung.
Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert, denke ich immer an die Ankunftshalle im Flughafen Heathrow», sagt die Stimme aus dem Off. Auf der Leinwand fallen sich ankommende Passagiere und wartende Abholer um den Hals, Kinder rennen auf ihre Eltern zu, alte Freundinnen umarmen sich, Liebespaare tauschen den ersten Kuss nach langer Trennung. Die Bilder legen sich über die Worte des Erzählers; die Stimme hat ihm der britische Schauspieler Hugh Grant geliehen: «Es wird allgemein behauptet, wir lebten in einer Welt voller Hass und Habgier. Aber das stimmt nicht. Im Gegenteil: Mir scheint, wir sind überall von Liebe umgeben», kommentiert er. Damit ist die Bühne bereitet und der zweistündige Reigen des Weihnachtsfilms «Tatsächlich … Liebe» aus dem Jahr 2003 eröffnet.
Emotionen und der Glaube an ein ungebremstes Wachstum
Wer den Flugverkehr vor allem als ungelöstes Problem für das Klima auffasst, wird angesichts solcher Szenen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen – vor allem, wenn man dazu die Aussagen mancher Politiker bedenkt. Der frühere Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) etwa verkündete 2017: «Fliegernationen sind Wohlstandsnationen. Der Luftverkehr ist Garant für Mobilität, Wachstum und Beschäftigung.» Und nun soll man auch noch gegen die tiefsten Empfindungen der Passagiere agieren? Wiedersehensfreude, Geborgenheit, das Gefühl, heiß ersehnt worden zu sein? Die Vorfreude, nun gemeinsam zu einem Abenteuer aufzubrechen? Das ist schwer, zumal praktisch jeder diese Emotionen kennt und selbst erlebt hat.
Klimaproblem Flugverkehr
Bereits heute verursacht die Luftfahrt zwei Prozent der globalen Emissionen. Weil CO2 und andere Gase in großer Höhe ausgestoßen werden und sich die Klimawirkung durch Kondensstreifen noch vergrößert, sind die Flugzeuge für fünf Prozent des gesteigerten Treibhauseffekts verantwortlich.
Die Menge des verbrannten Kerosins verdoppelt sich nach einer Hochrechnung der UN-Organisation für zivilen Luftverkehr (ICAO) bis 2035 und vervierfacht sich bis 2050.
Resignieren muss man angesichts dieses Dilemmas aber auch nicht, sagt Katharina Beyerl vom Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam. Die Psychologin beschäftigt sich dort damit, wie Menschen Nachhaltigkeitsprobleme wahrnehmen und welche Faktoren umweltrelevantes Verhalten motivieren. Das bedeutet unter anderem, das Problem Luftverkehr im Kontext seiner Folgen für Natur und Klima zu strukturieren, so Katharina Beyerl. Es sei gerade diese Vielfalt der Aspekte, der Bogen von Liebe über Abenteuerlust und Profitstreben bis hin zu Kerosinverbrauch und Steuergesetzgebung, die den Luftverkehr zu einem so schwer lösbaren Klimaproblem machen.
Den einen großen Hebel, es in den Griff zu bekommen, wird man darum kaum finden können. Allerdings gibt es mittlerweile viele – jeweils für sich genommen unzulängliche – Ansätze, die womöglich in der Summe wirken könnten. In der Ankunftshalle würde es zum Beispiel helfen, so Katharina Beyerl, den Blick von der Wiedersehensfreude der Privatreisenden auf das Verhalten der übrigen Fluggäste zu richten. «Da kommen auch viele Geschäftsleute mit Augenringen und Rollköfferchen aus dem Flugzeug und huschen emotionslos zum Taxi oder Mietwagen –
haben die alle wirklich einen guten Grund zum Fliegen? Wenn man den Flugverkehr eindämmen will, kann man vielleicht da ansetzen.»
Kein Ende des Wachstums in Sicht
Geschäftsreisende, die laut Befragungen an großen Flughäfen wie Frankfurt am Main im Mittel zehnmal pro Jahr fliegen, tragen erheblich zum weltweiten Wachstum bei. 2017 hat die globale Passagierzahl an der Schwelle von vier Milliarden gekratzt und sie 2018 deutlich übersprungen. Starts und Landungen nahmen ebenfalls zu und belaufen sich auf jeweils knapp 36 Millionen. Im Mittel waren vier von fünf Sitzen belegt.
Die Wachstumsrate der Passagierzahlen von zurzeit sieben Prozent dürfte nach Branchenschätzung zwar für absehbare Zeit auf fünf Prozent pro Jahr sinken. Doch insgesamt könnte die Zahl der Fluggäste damit bereits 2035 sieben Milliarden erreichen. Besonders Asien wird zulegen, wenn China die USA überholt, Indien an Großbritannien und Indonesien an Spanien, Japan und Deutschland vorbeizieht. In den kommenden zwanzig Jahren sollen zudem fast 43.000 neue Verkehrsmaschinen ausgeliefert werden, erwartet der Flugzeughersteller Boeing; obwohl Luftlinien viele Jets stilllegen, verdoppelt sich dabei die weltweite Flotte von 24.000 auf 48.000.
Aufsteigendes Liniendiagramm: Flugpassagierzahlen weltweit in Milliarden 1977 bis 2017,
1977: 0,51 Milliarden,
1982: 0,65 Milliarden,
1987: 0,90 Milliarden,
1992: 1,15 Milliarden,
1997: 1,46 Milliarden,
2002: 1,63 Milliarden,
2007: 2,21 Milliarden,
2017: 3,98 Milliarden,
2012: 2,89 Milliarden,
2002: 1,63 Milliarden.
So erschreckend das in der Summe erscheint, so wenig schlägt es auf die individuelle Entscheidung durch, einen Flug zu buchen. «Wer sich dafür entscheidet, ein Flugzeug zu besteigen», sagt Katharina Beyerl, «sieht klar den persönlichen emotionalen oder finanziellen Nutzen, erkennt aber kaum die langfristigen Schäden für die Gemeinschaft.» Der Luftverkehr sei ein typisches Gemeingut-Dilemma: Aus der Summe individueller Vorteile entsteht kollektiver Nachteil. Umgekehrt ist der Verzicht auf den Flug für den Einzelnen ein großer Verlust, hat aber auf das große Ganze kaum Einfluss.
«Um einen Effekt zu erzielen», sagt Beyerl, «muss man darum die Ebenen von individuellem Verhalten, sozialen Normen und wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Rahmenbedingungen getrennt analysieren und adressieren.» In diese drei Bereiche lassen sich auch bisherige Ansätze, den Flugverkehr zu reduzieren, einordnen. Sie helfen überdies vielen womöglich, die eigenen widerstreitenden Wünsche und Gedanken zum Luftverkehr zu sortieren.
Fliegen ist zentraler Teil eines modernen, urbanen, globalen Lebensstils.
Gegensteuern – durch Besteuern
Die Rahmenbedingungen zu verändern, bedeutet für viele Expertinnen und Experten vor allem, die Steuern für das Fliegen zu erhöhen. «Die Fliegerei kommt viel günstiger weg als andere Mobilitätsformen», monierte zum Beispiel die Umweltökonomin Renate Schubert von der ETH Zürich in einem Interview des SRF. «Zudem werden die verursachten Kosten von der Allgemeinheit bezahlt.» In Belgien und den Niederlanden gibt es bereits erste Initiativen, die Versteuerung der Flüge EU-weit zu ändern.
Bislang erhebt der Staat keine Steuer auf Kerosin im kommerziellen Flugverkehr, im Gegensatz zu Benzin, Erdgas oder Strom. Diesem Verzicht liegt eine umstrittene Interpretation der Konvention von Chicago aus dem Jahr 1944 zugrunde, mit der die Staaten Luftfahrt und Völkerverständigung fördern wollten. Außerdem fällt bei internationalen Flügen keine Mehrwertsteuer an. Das Umweltbundesamt bezeichnet beide Befreiungen als «umweltschädliche Subventionen» und taxiert den Ausfall allein für 2012 auf knapp zwölf Milliarden Euro.
Würden beide Abgaben zu den üblichen Sätzen erhoben – 65 Cent pro Liter Kerosin und 19 Prozent Mehrwertsteuer –, dann verteuerte sich ein 40-Euro-Economy-Hinflug München-Berlin um 22 Euro und ein 35-Euro-Schnäppchen Hamburg-Paris um 40 Euro. Für zwei Tage Mallorca, derzeit von Köln aus für 40 Euro hin und zurück zu buchen, müsste man 79 Euro mehr bezahlen. Würde zudem irgendwann ein CO2-Preis von 80 Euro pro Tonne verlangt, was viele Ökonomen fordern, kämen beim Berlin-Flug weitere drei Euro hinzu, fünf für die Reise nach Paris und zwölf Euro für den Kurztrip auf die Balearen.
Fortschritt versus Wirtschaftlichkeit
Wer hofft, dass technischer Fortschritt die Klimaprobleme beim Fliegen löst, muss sehr optimistisch sein. Immerhin gibt es etliche Ansätze. So arbeiten viele Firmen bereits am elektrischen Antrieb, von Start-ups wie dem israelischen «Eviation» bis zu Branchenriesen wie Airbus. Zunächst bedeutet das meist, dass die Maschine weiterhin Kerosin tankt, aus dem eine Gasturbine Strom erzeugt, der dann die Triebwerke speist. Das klingt unnötig kompliziert, könnte aber zu höherer Effizienz und einer Einsparung gegenüber den heutigen Modellen führen. Richtig grün würden Flugzeuge erst, wenn sie erneuerbare Elektrizität in viel leichteren Batterien als heute speichern oder grün erzeugten Wasserstoff tanken würden.
Norwegen jedenfalls plant, ab 2040 für Inlandsflüge nur noch Elektromaschinen zuzulassen. Für die Mittel- und Langstrecke geht es eher darum, künstliche Treibstoffe herzustellen. Dazu verknüpft man mit Windstrom gewonnenen Wasserstoff und CO2 aus der Luft zu einem Gas oder einer Flüssigkeit. Im Labor und bei Pilotanlagen funktioniert das bereits und wird zum Beispiel am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erprobt, wo die Anlage zunächst einige Hundert Liter synthetisches Kerosin pro Tag erzeugen soll. Allerdings müssten die Kosten noch erheblich sinken, um derartige Konzepte in Serie zu bringen.
Eine andere, schneller zu realisierende Idee ist es, Flugbenzin aus Biomasse, Algen, Abfall oder gebrauchtem Frittierfett zu erzeugen. Das alles wird bereits erprobt, jedoch gilt – wie im Autoverkehr – auch hier: Wird der Biosprit aus Lebensmitteln gewonnen, geraten womöglich Menschen in armen Ländern in Not. Monokulturen für pflanzliche Rohstoffe sind oft eine Katastrophe für die Umwelt, besonders dann, wenn dafür Regenwald gerodet wird. Kerosin aus Palmöl könnte darum insgesamt ein Mehrfaches an CO2 freisetzen wie Kerosin aus Erdöl.
Insgesamt warnen Experten bereits, dass die Pläne, das Flug-Klima-Problem technisch zu lösen, ein «Mythos» seien. «Derartige Konzepte dämpfen die Unruhe, dass nichts passiert, indem sie auf ‹Wunderlösungen› setzen», warnt Scott Cohen von der «University of Surrey» in den «Climate Change News». «Aber in Wirklichkeit kann das gar nicht klappen.»
Das zweifelhafte Geschäft mit den Zertifikaten
Auch die Luftfahrtindustrie und die zuständige UN-Organisation ICAO haben erkannt, dass Technologie wohl nicht ausreichend und schnell genug helfen kann. Sie setzen darum auf eine Selbstregulierung der Branche und auf das 2016 verabschiedete internationale Abkommen namens CORSIA (Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation). Es soll die Emissionen von 2020 bis 2035 konstant halten und «klimaneutrales Wachstum» ermöglichen. In dem Plan klaffen aber große Lücken: Der Vertrag spricht nur von einem «angestrebten Ziel», und von 2021 bis 2027 ist es den teilnehmenden Staaten freigestellt, ob sie mitmachen.
Knapp 80 Nationen sind zwar bereits dabei, darunter die EU-Staaten, Australien, Amerika und auch kleine Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Singapur, wo viele Reisende nach Asien und Ozeanien umsteigen. Doch große Nationen mit boomendem Luftverkehr wie Brasilien, Russland, China und Indien beteiligen sich voraussichtlich nicht. Die Emissionen aller Maschinen, die dort oder in einer der etwa 110 anderen nicht teilnehmenden Nationen starten oder landen, werden ausgeklammert.
Weil es den knapp 80 Teilnehmerstaaten nicht gelingen kann, die Emissionen tatsächlich konstant zu halten, plant die ICAO massiv in den Markt für Kompensationszahlungen einzusteigen. Diese gehen an Initiativen und Projekte, die irgendwo auf der Welt CO2 eingespart haben. Hier können Luftlinien dann entsprechende Zertifikate kaufen.
Doch derzeit tobt ein heftiger Streit über die Kriterien, anhand derer diese Zertifikate bewertet werden. Grundsätzlich gilt, dass es Emissionsreduktionen sein sollen, die sonst nicht zustande gekommen wären. Daran gibt es bei den einfachsten der Papiere, den sogenannten CER (Certified Emission Reductions) erhebliche Zweifel. 13 von 14 CER-Zertifikaten fielen bei dieser Prüfung durch, besagt eine Studie des Öko-Instituts von 2016.
Es besteht die konkrete Gefahr, dass CORSIA seine Ziele verfehlen wird.
Die Preise dieser Papiere liegen weit unter einem Euro pro Tonne CO2, sodass es sich für Projekte kaum lohnt, sie überhaupt auszustellen. Wenn aber die Preise nur wenig steigen, könnten sehr viele Zertifikate auf den Markt kommen. Der gesamte Bedarf unter dem CORSIA-Abkommen ließe sich dann mit solchen Papieren für längst abgeschlossene Maßnahmen decken, stellte 2016 ein Team von Carsten Warnecke vom NewClimate Institute in Köln bei einer wissenschaftlichen Studie fest. Von nennenswerten Emissionsreduktionen könne dann nicht länger die Rede sein.
Vermeiden und Vermindern vor Kompensieren
Neben gewandelte Rahmenbedingungen sollten darum veränderte soziale Normen treten. Eine davon könnte sein, dass auch Privatleute und Firmen ihre Flüge kompensieren. Hier gelten im Prinzip die gleichen Kriterien, die Warnecke für CORSIA einfordert: Die Reduktion dürfe nicht sowieso auf dem Programm stehen. Überweisungen an Windkraftprojekte sind darum problematisch, und bei der oft genannten Aufforstung bleibe immer die Frage, wessen Land verwendet und ob der neue Wald nicht eines Tages wieder abgeholzt wird. Internationale Qualitätssiegel sollen das verhindern, der «Gold Standard» ist das bekannteste. Viele Projekte leisten dabei tätige Entwicklungshilfe: Wenn arme Familien einfache Biogasanlagen, effiziente Öfen oder Solarlampen bekommen, entstehen weitaus weniger Treibhausgase, zugleich verbessert sich die Lebensqualität vor Ort deutlich.
Wichtig ist zudem, die besondere Wirkung von Treibhausgasen beim Fliegen in großer Höhe zu berücksichtigen. Die Zahlung richtet sich in der Regel nicht nach der reinen CO2-Menge. Darum kommt zum Beispiel der Marktführer «atmosfair» für einen Lufthansa-Flug Frankfurt-Johannesburg und zurück auf effektiv 3,5 Tonnen Kohlendioxid, für die 82 Euro anfallen, während die Luftlinie selbst mit ihrem Partner «myclimate» 1,1 Tonnen und 23 Euro veranschlagt. Beidem liegt ein CO2-Preis von etwas über 20 Euro pro Tonne zugrunde, den viele Experten für viel zu niedrig halten.
Realistischere Preise werden zum Beispiel bei den «MoorFutures» angesetzt, die die Wiedervernässung trockengelegter Feuchtgebiete finanzieren. Das bindet CO2 und verbessert die Biodiversität. Allerdings stellen die seriösen Anbieter von Kompensationszahlungen selbst heraus, dass Kompensieren ihrer Ansicht nach die drittbeste Lösung nach Vermeiden und Vermindern ist.
Kultureller Wandel in Sicht?
Auch Videokonferenzen können im Prinzip helfen, Emissionen zu vermindern. Ein digitales Treffen einer Flugreise vorzuziehen, wäre ebenfalls eine veränderte soziale Norm. Darüber wird allerdings bereits seit Jahren gesprochen, ohne dass sich Entscheidendes verändert. «Es gibt da schon noch Probleme», meint Barbara Engels vom Institut der deutschen Wirtschaft. «Oft geht die Hälfte der angesetzten Zeit wegen technischer Probleme drauf.» Zudem sagten 2015 in einer Umfrage des Deutschen Reiseverbandes (DRV) unter Führungskräften 71 Prozent, ein persönliches Treffen habe großen Einfluss auf Neu- oder Folgeaufträge. Gegen solche Einstellungen hat es Technik schwer.
Barbara Engels argumentiert daher mit Reisekosten: Acht Milliarden Euro im Jahr könnten die Betriebe in Deutschland per digitaler Kommunikation einsparen. «Man kann ja zunächst bei den Routinetreffen ansetzen», sagt die Ökonomin. «Wenn man sich schon kennt und das Vertrauen da ist, sollten Videokonferenzen gut funktionieren.»
Über kurz oder lang werde ein Kulturwandel stattfinden, davon ist Engels überzeugt. Etliche Firmen, vor allem aus der IT-Branche, machen damit schon gute Erfahrungen. Microsoft konnte laut der New York Times im Geschäftsjahr 2014 mit Online-Meetings fast 100 Millionen Flugkilometer einsparen. In Deutschland nutzt der DAX-Konzern SAP Videokonferenzen und andere Methoden, um Emissionen zu reduzieren – und kauft für unvermeidbare Flüge Kompensationszertifikate. Unternehmen wie Toshiba dokumentieren bereits im Geschäftsbericht, dass die Emissionen für Geschäftsreisen per Flugzeug sinken. Derlei Bestrebungen um Transparenz erhöhen immerhin den internen und externen Druck auf ein Unternehmen, seine eigenen Ziele zu erreichen. Durch das «rasche Entstehen einer immersiven virtuellen Realität», glaubt das Beratungsgremium der Bundesregierung (WBGU), lasse sich per Digitalisierung bald ein «Großteil der Dienstreisen per Flugzeug einsparen».
In einer Umfrage des DRV von 2018 deutet sich ein Umschwung an: Während 47 Prozent der Befragten sagen, nur persönliche Kontakte trügen zu höherem Umsatz bei, hält die knappe Mehrheit Videokonferenzen für gleichermaßen oder sogar besser geeignet. Junge Mitarbeiter bis 34 Jahre ersetzen bereits mehr als jede dritte Reise durch virtuelle Treffen, im Mittel über alle Befragten kann jede vierte Reise vermieden werden.
Wenn Wissenschaftler zu viel fliegen
Mit dem Widerspruch zwischen der eigenen Einstellung zum Klimaschutz und den Anforderungen ihres Jobs tun sich auch viele junge Wissenschaftler schwer; immerhin wird ja die Notwendigkeit eines effektiven Klimaschutzes vor allem durch akademische Studien und Erkenntnisse begründet. Die Forscher hören einerseits Aufrufe, nicht mehr zu Konferenzen, internationalen Projekten, Exkursionen oder zur Datennahme im Ausland zu fliegen. Andererseits stehen sie unter dem Druck, dort Präsenz zu zeigen, weil sie sonst bald außen vor sein könnten. Unter dem Hashtag «#flyingless» tobt dazu ein Streit auf Twitter. «Was in der akademischen Welt als Karriere zählt, müsste überdacht werden, wenn wir unsere Gewohnheiten ändern sollen», schreibt zum Beispiel Anni Kangas von der finnischen Universität Tampere.
Viele Forscherinnen und Forscher sehen allenfalls die Möglichkeit, Flugreisen deutlich zu reduzieren. Catherine Grant von der «Griffith University» in Australien kündigte in einem jüngst erschienenen Aufsatz zum Beispiel eine Halbierung der eigenen Reisen und aktives Werben für CO2-arme, digitale Methoden der akademischen Kooperation an.
ETH Zürich
@ETH ⋅ 22.01.2019
«Die ETH Zürich strebt bewusstes #Fliegen an, um den Zielkonflikt zwischen internationaler Forschungstätigkeit und #Klimaschutz zu entschärfen. Die ETH-Einheiten haben sich nun Reduktionsziele für flugbedingte #CO2-Emissionen gesetzt. https://www.ethz.ch ...»
An der ETH Zürich gibt es ein hochschulweites Programm, um die Pro-Kopf-Emissionen bis 2025 um elf Prozent zu reduzieren. Es beruht auf freiwilligen Zusagen der einzelnen Departemente. Jürgen Gerhards von der Freien Universität Berlin schlug Anfang 2019 im Tagesspiegel vor, Gremien um ein Drittel zu verkleinern, internationale Gutachter bei Promotionsprüfungen per Video zuzuschalten statt einzufliegen und eingesparte Reisemittel für andere Zwecke umzuwidmen. «Es geht nicht darum, das Rad der Internationalisierung der Wissenschaft zurückzudrehen. Eine Reduktion des Fliegens von Akademikern ist aber nötig», schreibt er.
Warum kein Verzicht auf Inlandsflüge?
Eine weitere soziale Norm könnte sein, innerhalb von Deutschland nicht mehr zu fliegen. Unter den 20 meistgeflogenen Strecken sind nur zwei länger als 500 Kilometer Luftlinie: Hamburg-München und Berlin-Stuttgart. Darauf entfallen 14 Prozent der Starts und Landungen.
Die drei am häufigsten genutzten Verbindungen sind kürzer: Berlin–München, Berlin-Frankfurt und Düsseldorf–München. Oft ist inzwischen die Bahn von Stadtzentrum zu Stadtzentrum schneller, wenn man Check-in- und Wartezeiten rechnet – der ICE-Sprinter, der auf der Neubaustrecke in vier Stunden von Berlin nach München rast, habe den Fluggesellschaften viele Kunden abgejagt, berichtete der Bayerische Rundfunk. Die Deutsche Bahn hat ihren Marktanteil auf der Strecke von 23 auf 46 Prozent verdoppelt, die Flieger befördern statt 48 nur noch 30 Prozent der Reisenden.
Ein Verbot wäre möglicherweise eher eine Entlastung als ein Problem.
Der Soziologe Andreas Knie von der Technischen Universität Berlin denkt in einem Gastbeitrag für das Online-Magazin «Klimareporter» darum sogar über ein Verbot von Inlandsflügen nach. Er ist überzeugt: «Die Geschäftstermine in Deutschland wären weniger dicht gesteckt. (…) Es gäbe aber genügend Alternativen, und ein Verbot wäre – wenn es früh genug angekündigt wird – möglicherweise für viele eher eine Entlastung als ein Problem.»
Balkendiagramm: Vergleich Schiene, Straße und Luft, Treibhausgas (in Gramm pro Personenkilomenter),
Schiene (Fernverkehr): 36 Gramm,
Schiene (Nahverkehr): 60 Gramm,
Stadtbahnen: 64 Gramm,
Reisebus: 32 Gramm,
Linienbus: 75 Gramm,
Pkw: 139 Gramm,
Flugzeug: 201 Gramm pro Personenkilometer
Dieser Vorschlag ist stark umstritten, immerhin lenkt Knie den Blick aber auf individuelle Faktoren wie eine Neudefinition der Werte, die mit dem Fliegen oder dem Verzicht darauf verbunden sind. Wer weniger fliegt, wählt seine Termine vielleicht bewusster und ist dann zufriedener mit sich. «Es gibt inzwischen ja auch schon eine Slow-Travel-Bewegung, die von den bereichernden Erfahrungen einer Reise spricht, die man bewusst mit langsamen Verkehrsmitteln wie Fahrrad oder Bahn macht», ergänzt Agnes Kreil von der ETH Zürich und der studentischen «Initiative Psychologie im Umweltschutz».
Es gibt in meiner Generation einen enormen Erwartungsdruck, ins Ausland zu gehen.
Doch solche Ideen fruchten womöglich eher bei Touristen, die in Zukunft ihre «kostbarsten Wochen des Jahres» anders verbringen, als an die Strände im Süden zu jetten. Den Fluggästen hingegen, die an weit entfernten Zielen Verwandte, Freunde oder Geschäftspartner treffen wollen, helfen Bahn und Fahrrad wenig. «Die sehen sich eher in der Pflicht», sagt Kreil. «Und sie folgen einem tief sitzenden essenziellen Wert, dass direktes, körperliches Erfahren stets viel besser ist als indirektes, vermitteltes.» Hier könne es vielleicht helfen, Ressentiments gegen technische Hilfsmittel abzubauen – sie denkt dabei an Verfahren wie virtuelle Realität oder Datenhandschuhe, die Tastempfindungen über das Internet übertragen. «Schon eine Reduktion solcher Reisen wäre ja ein Fortschritt.»
Agnes Kreil ist sich aber bewusst, wie groß die Aufgabe ist. «Es gibt in meiner Generation einen enormen Erwartungsdruck, mal für ein Semester oder Jahr ins Ausland zu gehen. Viele finden dort Freunde oder Partner und können die Beziehung dann nur mit dem Flugzeug aufrechterhalten.» Weltoffenheit und Völkerverständigung, die sich hier ausdrücken, sind uneingeschränkt positive Werte und eng mit dem Luftverkehr verknüpft. Und die Hürden, hier ein Umsteuern anzumahnen, entsprechend hoch.
«#Flugscham» – oder individuelle Einsicht?
Um das Blatt langsam zu wenden, ist Kreil wie viele andere überzeugt, müssen sich die Rahmenbedingungen ändern. Und auf der individuellen Ebene sind Verweise auf positive Alternativen Erfolg versprechender als moralische oder negative Appelle. Schließlich zeigen viele Beispiele, dass Menschen, denen man ihrem Empfinden nach mit einer vermeintlichen Lösung zu viel abverlangt, stattdessen bestreiten, dass es überhaupt ein Problem gibt.
Das setzt auch mindestens ein Fragezeichen hinter die aus Schweden stammende Bewegung mit den Hashtags «#flygskam» oder «#Flugscham». Sie hat berühmte Vorbilder wie die Opernsängerin Malena Ernman und ihre Tochter, die junge Schülerstreik-Aktivistin Greta Thunberg, sowie die frühere schwedische Kulturministerin Alice Bah Kuhnke und den Sportreporter und ehemaligen Biathleten Björn Ferry. Sie alle lehnen es ab zu fliegen und heben ihren Verzicht von der rationalen Ebene auf die der Emotionen, gar der Selbstachtung. Sie bekunden schließlich implizit oder explizit, es sei inzwischen ein Grund für Scham, sich in ein Flugzeug zu setzen.
Sobald sich solcher Verzicht nicht mehr auf das eigene und freiwillige Verhalten beschränkt, können Konflikte den beabsichtigten Zweck überlagern. Wenn etwa das Konzerthaus im südschwedischen Helsingborg ankündigt, ab der Saison 2020/21 sollten Musiker und Dirigenten mit Zug, Schiff und Bus anreisen, kann das einerseits aus individuellen Entscheidungen eine neue soziale Norm entstehen lassen, andererseits aber auch von manchen als Bevormundung aufgefasst werden. Und wenn auf dieser Basis persönliche Entscheidungen öffentlich kommentiert werden, drohen Beschämung, Diffamierung und Demütigung.
Es müsste einen Konsens aller demokratischen Kräfte geben, sich tatsächlich über die Sache zu streiten.
Das musste zum Beispiel die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im bayerischen Landtag, Katharina Schulze, erleben, als sie Bilder ihres Kalifornien-Urlaubs postete. «Der Vorwurf der Doppelmoral spielt in der öffentlichen Kommunikation um Moral immer eine ganz große Rolle», sagte der Münchner Philosoph Alexander Filipović in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. «Argumentation, die auf bloße Abgrenzung vom politischen Gegner abzielt, führt nicht weiter. (…) Es müsste einen Konsens aller demokratischen Kräfte geben, sich tatsächlich über die Sache zu streiten.»
Grundsätzlich wäre in diesem Sinn viel gewonnen, wenn sich Fluggäste die Motive für ihre Reise jedes Mal genau vergegenwärtigen, ist Katharina Beyerl vom IASS in Potsdam überzeugt. «Es müsste ein Abwägen zwischen positiven Werten sein, und dazu könnte auch das aktive Bewahren der Umwelt zählen. Ein Flug nach New York führt schließlich pro Passagier dazu, dass drei Quadratmeter der arktischen Eisfläche abschmelzen, hat vor einer Weile jemand ausgerechnet. Wer sich das vor Augen hält, wird sicherlich bewusster entscheiden, ob dieser Flug wirklich nötig ist.»
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