Durch helle Wälder in die verstrahlte Zone
Walter Mossmanns Text «Eine Landpartie» mit Fotos von Volker Kreidler
2009 reiste der Liedermacher und Journalist Walter Mossmann nach Tschernobyl. Seine Eindrücke hinterlegt er mit Erinnerungen an die Zeit nach dem Super-GAU.
Am 26. April 1986 zerstörten zwei Explosionen Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl und schleuderten radioaktives Material in die Atmosphäre. Weite Teile Russlands, Weißrusslands und der Ukraine wurden verseucht. In den nächsten Tagen zog die radioaktive Wolke über Mitteleuropa und bis hin zum Nordkap.
Die Katastrophe in der Ukraine alarmierte auch Walter Mossmann. Der in Freiburg im Breisgau lebende Liedermacher und Schriftsteller war Gründungsmitglied der «Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen». Er engagierte sich bereits Anfang der 1970er-Jahre in der Anti-Atomkraft-Bewegung und war über vier Jahrzehnte am Kampf gegen das elsässische AKW Fessenheim beteiligt.
Im September 2009 besuchte Mossmann Tschernobyl und Umgebung. Das verstörend Ungreifbare, nahezu Unsichtbare des Super-GAUs faszinierte ihn ebenso wie die Geschichte der Region, die lange vor der Katastrophe auch Rückzugsort für Zaristen, Juden und Partisanen gewesen war.
Dem 2010 erstmals veröffentlichten Text «Eine Landpartie» von Walter Mossmann stellen wir Fotografien des Berliner Fotografen Volker Kreidler zur Seite. Die Bildtitel benennen jeweils die Geodaten der fotografierten Orte.
Eine Landpartie
Frühmorgens um halb acht von der elften Etage – dort oben bin ich für ein paar Tage in der Wohnung der Stefanowa untergekommen, über den Dächern von Kiew – um halb acht also mit dem tattrig-stabilen Lift runter zur Haustür und raus auf die Saksahanskyj-Straße, wo der Verkehr erstaunlicherweise schon brummt. Alles geht seinen postsowjetischen Gang, nur mein Mietwagen ist noch nicht da. Also steh ich herum, unbestimmt erwartungsvoll, im Frühtau sozusagen, ein nicht abgeholter Ausflügler. Auch das Wetter ist danach, wahrscheinlich wird das heute wieder so ein prächtiger ukrainischer Indiansummerday, knallbunt, vielleicht auch richtig heiß.
Schließlich kommt der Wagen, ein VW-Bus deutscher Herkunft, ursprünglich vielleicht mal als «humanitäre Hilfe» deklariert (Unsinn! So spricht das notorische Misstrauen der 1990er-Jahre, heutzutage vermutlich ganz unangebracht, aber es sitzt tief, das Misstrauen). Der Fahrer heißt Igor, der Guide heißt Sergij, beide sprechen nur russisch. Ein paar Straßen weiter steigen die Anthropologen zu, Rostyslaw Omeljaschko im grüngescheckten Overall, Militarylook, ich weiß nicht, warum, und Olena Tschebanjuk mit einer Frisur, die zu den Farben des Altweibersommers passt, sie trägt flammendes Rot, das leuchtet mir ein. Die Ethnologen sprechen untereinander ukrainisch, und «für später» hat Olena ein etwas zerlesenes Taschenwörterbuch Russisch-Englisch mitgebracht.
Wir fahren auf einer Ausfallstraße nach Norden. Aber die Stadt will einfach nicht aufhören, eine endlose banlieue. Rechter Hand hinter den Plattenbauten vermute ich in Gegenrichtung den Dnjepr, links muss irgendwo die Schlucht von Babij Jar liegen. «Babij Jar» – diesen seltsamen Namen hatte ich erstmals im April 1963 gehört, und zwar im Festsaal der Tübinger Uni. Dort trat der Dichter Jewgeni Jewtuschenko auf und rezitierte sein Babij-Jar-Poem. Jewtuschenko, damals gerade 30, wurde als Sowjetrebell gehandelt, das machte ihn mir sympathisch, und außerdem hatte ich zuvor noch nie erlebt, dass ein Poet seine Gedichte vorträgt wie ein Popstar seine Songs, mit Ganzkörpereinsatz und ohne jede Scheu vor Pathos und feuchtfröhlicher Gefühligkeit. Die Show war toll, die anderen Gedichte erinnere ich nicht, nur eben «Babij Jar». In der Übertragung von Paul Celan heißt es dort:
Die Internationale – ertönen, erdröhnen soll sie – wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde, – im Grab ist, für immer.
Drei Wochen nach meiner Geburt hat die Nazi-Militärmaschine (mein Vater ein Rädchen im Getriebe) die Stadt Kiew in Besitz genommen, eine Woche darauf fand schon der Massenmord von Babij Jar statt. Derweil wurden in der Heimat die Fotos herumgereicht, die den treuherzigen deutschen Landser zeigen, wie er als Ausflügler im ukrainischen Sonnenblumenfeld herumtapert (Was hattest Du dort zu suchen, Emil?).
Über alles wächst Gras, oder vielmehr: es wachsen Plattenbauten, Plattenbauten, Plattenbauten. Etwas weiter nordwestlich hinter Babij Jar muss das Konzentrationslager Syrez' gewesen sein.
Ob ich beim Stichwort Kiew auch mal an irgendwas anderes denken kann als nur an Nazikram? Ja, natürlich, ich denke gern an Dynamo Kiew. Ein wunderbares Ensemble. Die haben doch in den 1960er, 70er-Jahren einen schnellen eleganten Kombinationsfußball gespielt, hinreißend, und ganz in Weiß traten sie auf, und der westdeutsche TV-Reporter hat jedesmal, wenn die sowjetische Mannschaft in der Totale zu sehen war, wie auf Knopfdruck vom «Kollektiv» schwadroniert (Subtext: «seelenlos»), vom Kollektiv ohne Individualisten, als ob es sich um irgendwelche Apparatschiks mit Betonstiefeln gehandelt hätte, wir sahen aber leichtfüßige Fußballer, Ballartisten, Künstler, und sie haben unglaublich schnell und elegant gespielt – «kollektiv» und «elegant», geht das überhaupt zusammen?
Ganz unversehens hat die endlose Stadt Kiew denn doch aufgehört, und nun fliegt richtige Landschaft am Autofenster vorbei: Felder, Wiesen, Weiden, Bäume, Wälder. Sehr helle Wälder. Kiefern und Birken, gelegentlich Pappeln. Und allerlei Gewässer, Flussarme, Fischteiche, Seen. Diese hellen «russischen» Wälder der Ukraine kamen in jeder Kriegserzählung vor. Und die Sümpfe natürlich auch, die berüchtigten Prypjatsümpfe, davon haben die Heimkehrer geraunt, in den Prypjatsümpfen hätten sich die Partisanen versteckt, diese Bestien in Russengestalt, die hätten den erschlagenen Deutschen auch noch die Eier abgeschnitten. Die Partisanen musste man natürlich ausmerzen, da gab es kein Pardon.
Ausgemerzt wurden dann aber entsprechend dem großen Plan die Juden in allen kleinen und größeren Orten der Region, in Mogilev, Gomel, Tschernobyl, Borisov, Vitebsk. Und über 30.000 in Babij Jar. Davon haben die Heimkehrer nicht gesprochen, angeblich nichts gewusst. (Ah, diese verdammte Sechste Armee, wie ich die Götterdämmerungsfilme über Stalingrad hasse!)
Nach zwei Stunden Fahrt dann die Zonengrenze. Stoppschild, Schlagbaum, Passkontrolle. Das letzte Pissoir vor dem verstrahlten Gelände, in das man besser nicht austreten sollte. Die Grenze: ein wirklich abgelegener Ort, auf dem Theater würde man sagen «Freies Feld». Unser VW-Bus das einzige Auto weit und breit. Die Grenzer gehen mit Sergij und Rostyslaw recht kollegial um, man kennt sich, und ich erfahre nun von Olena unter freundlicher Mithilfe ihres zerfledderten Wörterbuchs, was der martialische Militarylook von Rostyslaw bedeutet: Rostyslaw Omeljaschko trägt ganz offiziell Uniform, er ist nämlich im Dienst, und zwar als Projektleiter des STATE SCIENTIFIC CENTER FOR CULTURAL HERITAGE PROTECTION FROM MANCAUSED CATASTROPHES, das dem Tschernobylministerium unterstellt ist. Die Expeditionsgruppen dieses Zentrums versuchen seit den frühen 1990er-Jahren zu retten, was noch zu retten ist. Sie holen regelmäßig aus den verlassenen Dörfern der Zone traditionelle Gerätschaften aus Haus und Hof, aus Landwirtschaft und Handwerk (auch Kunsthandwerk, Töpferei, Glas, Schnitzerei, Textil), Mobiliar, Bilder, regionale Trachten, Musikinstrumente, die traditionellen Einbaumboote und die Fangkörbe der Fischer – das Spektrum ist sehr breit. Sie säubern die künftigen Exponate, so gut es geht, und lagern sie in verschiedenen Magazinen in Kiew, Tschernobyl, Ivankiv, Lemberg. Irgendwann soll daraus ein Museum werden, ein Tschernobyl-Memorial.
Der Schlagbaum gibt den Weg frei, und unser Wagen rollt in die gesperrte Zone. Rechts und links immer noch derselbe helle «russische» Wald, über uns derselbe nachsommerlich blaue, leicht verwischte Septemberhimmel, und wenn der Wagen mal anhält, höre ich eine fantastische, geradezu beglückende Stille. Aber mein Kopf macht nicht mit. Irgendeine Instanz in mir hat auf Alarm geschaltet und beginnt zu dramatisieren. Sie muss nun unbedingt auf die stummen Bilder der Landschaft eine Tonspur setzen, ein elektrisches Sirren & Flirren und ein Ticken & Tackern wie vom Geigerzähler. Ich sehe nichts, spüre nichts, rieche nichts, aber ich weiß: Diese Zone ist verstrahlt. So ist das eben, wenn einem das mitgebrachte Wissen die unmittelbare Wahrnehmung versaut.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ich zum ersten Mal versucht habe, mir eine verstrahlte Landschaft vorzustellen. Vielleicht 1973, als Freia (Freia Hoffmann war eine Wissenschaftlerin und Autorin, die gemeinsam mit Mossmann zwei Radiofeatures erstellte; Anm. der Red.) in das Manuskript für eines unserer gemeinsamen Radiofeatures einen Satz über die Atomkatastrophe von Swerdlowsk (1957/58) hineingeschrieben hat. Dort sei ein Gebiet von der Größe Schleswig-Holsteins verstrahlt worden. Damals galt diese Nachricht noch als Räuberpistole, aufgebauschtes Gerede von linken Wichtigtuern, denn die Explosion in der sowjetischen Plutoniumfabrik MAJAK zwischen Tscheljabinsk und Jekaterinburg (= Swerdlowsk) war der bestverheimlichte GAU in der Geschichte der Atomindustrie, und auch die westlichen Atomstromverkäufer wollten darüber nicht geredet wissen. Der russische Biologe Schores Medwedjew hat die Sache aufgedeckt und 1979 in einem Buch dargelegt: «Nuclear Disaster in the Ural». Aber Freia hat es erstaunlicherweise schon 1973 gewusst und im Südwestfunk verbreitet, und ich habe damals versucht, mir eine derart verseuchte Landschaft vorzustellen, die hellen Wälder, die Gewässer, die Felder, die Dörfer – verstrahlt. Es ist mir nicht gelungen. Man kann sich kein Bild davon machen.
Am 17. Mai 1986, also drei Wochen nach der Havarie, habe ich als Gast bei einem Sonderparteitag der Grünen in Hannover eine Tschernobyl-Rede gehalten und versucht, für meine verworrenen Wahrnehmungen Worte zu finden:
Dann redet der Wetterkartenmensch vom Ostwind. Ganz unverfänglich zunächst. Und dann ist ‹es› da. Aber was ist denn da in Wirklichkeit? Nichts ist da außer Wissen, und das ist ungenau. Schon die sogenannte Wolke ist nicht sichtbar, nur ein Bild, das sich das Wissen gemacht hat. Nichts zu hören, zu sehen, zu riechen, zu schmecken, anzufassen, nichts.Vor allem kein ‹Schmutz›. Dieses Saubermänner-Trauma, dieses Idiotengeschwätz von der Umweltverschmutzung! Das Widerwärtige an der Radioaktivität ist ihre Sauberkeit.
Wenn ich aus dem Fenster hinausschaue, sehe ich die sauberste Idylle der Welt: da blüht ein Kirschbaum, da weiden zwei Schafe, da pflücken Kinder die ersten Wiesenblumen. Endlich ist es mal wieder warm und grün, und der Wind fährt durch Haare und Röcke – aber das soll alles an diesem Tag nicht wahr sein. Von da und dort höre ich Warnungen der Wissenden: überall strahlende Teilchen, die herumschweben, eindringen, angereichert werden, Zellen zerstören. Dann diese absurden Becquerelzahlen, über deren Bedeutung ich selber gar nichts weiß, obwohl ich besonders große manchmal in den Mund nehme. Aber was heißt das schon. Das ist ja das Gespenstische: Es findet kein blutiges Drama statt, dessen Tragweite sofort begriffen werden könnte: Hier das Messer, dort die Schnittwunde, das schafft klare Verhältnisse. Hier der Hammer, dort der Schädel – sowas ist verständlich. Wenn unsere Haut wenigstens empfindsam wäre, so eine Art Lackmuspapier, wenn sie sich verfärben würde und eine Reaktion anzeigen! Nichts von alledem – die Schäden, sagt man, werden vielleicht erst in der nächsten Generation auftreten, und beweisen kann man dann den (strittigen) Zusammenhang von Ursache und Wirkung allenfalls mit Hilfe der Statistik. Ich sehe, ich bin vollkommen abhängig von Messungen, denen ich mit guten Gründen nicht mehr traue, und von Interpreten, die ich schon seit über zehn Jahren als Lügner kenne. Die Lage ist fatal, und die Gefühle schwanken. Wenn ich etwas unternehme, ist es vielleicht lächerlich. Wenn ich etwas unterlasse, ist es womöglich fahrlässig. Die Kinder dürfen ihren Dreck nicht genießen, sondern werden dekontaminiert – in der Kneipe verlange ich Konservenfraß statt Salat – kein Ökohändler will je etwas mit glücklichen Hühnern zu tun gehabt haben – wenn es regnet, spielen nur noch Türkenkinder im Sandkasten. Was ist lächerlich? Was ist fahrlässig? Die Gefühle schwanken.
So beschaffen waren meine Sätze im Mai 1986, aufgeschrieben im Café Irlandais an der Place de Contrescarpe, Paris, 5ème arrondissement, inmitten von heiteren, sorglosen Kaffeehausbesuchern – in Frankreich, wo die Electricité de France das Sagen hat, war die Tschernobyl-Wolke angeblich gar nicht angekommen! – und vorgetragen in Hannover bei der Außerordentlichen Bundesversammlung der Grünen vor einem Publikum, das vor Tschernobyl-Betroffenheit nur so triefte, obwohl dieser Parteitag eigentlich vom Hauptwiderspruch Fundis versus Realos umgetrieben war. Und jetzt, dreiundzwanzig Jahre später, fahre ich als Tschernobyl-Tourist durch die verstrahlte Zone, erinnere meine Sätze von damals und bemerke: die Gefühle schwanken immer noch.
Neben der Straße tauchen immer mal wieder die vom Wald zugewachsenen, längst verlassenen Bauernhäuser auf, schattenhaft, geheimnisvoll. Ehemalige Dörfer, Weiler, Aussiedlerhöfe, Rostyslaw kennt sie alle mit Namen. Dann, durchaus auffällig in diesem flachen Land, zwei, drei Hügel. Rostyslaw erzählt von einem Dorf, das untergepflügt wurde, weil es zu sehr verstrahlt war, nun liegt es hier unter der aufgeworfenen Erde, unwiederbringlich. Dieser Ort hieß Zalissja. Mich erinnern die Hügel an Kurgane (kegelförmige Grabhügel, wie sie vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetstaaten zu finden sind; Anm. der Red.) Und die Bewohner von Zalissja? Man hat sie evakuiert («in zwei, drei Jahren seid ihr wieder zuhause»), und heute, nach einem Vierteljahrhundert, hausen sie irgendwo, mal besser, mal schlechter, zerstreut in unzähligen Ortschaften zwischen Charkiw und den Karpaten, und gelegentlich kriegen sie Besuch von den Ethnologen der Expeditionsgruppe. Olena Tschebanjuk betreibt derartige sekundäre Feldforschung, sie macht Hausbesuche und sammelt mit Tonbandgerät und Videokamera die uralten Volkslieder, Sprüche, Redensarten, Märchen und Legenden aus den Dörfern von Polissja, fotografiert die Menschen, ihre Erinnerungsstücke, Devotionalien, ihre traditionellen Gewänder.
Landschaftlich wirklich wunderschön gelegen die Kleinstadt Tschernobyl, auf einer Anhöhe über dem Fluss Prypjat. Erstmals als Ortschaft erwähnt im 12. Jahrhundert, eine Stadt mit Vergangenheit. Heute eine Stadt mit nichts anderem mehr als Vergangenheit. Provisorisch und ambulant wohnen hier noch ein paar Leute, die im AKW beschäftigt sind oder sonstwie in der Zone zu tun haben, und richtig, ein Hotel gibt es auch («Extremtourismus!», Olenas Kommentar), und schräg gegenüber dem riesigen verloren-versteinerten Lenin zeigt die Leuchtschrift über dem Postamt die aktuelle Strahlenbelastung an, das schwankt heute zwischen 98° und 101°, auch 3.000° habe es schon mal gegeben, ich weiß allerdings nicht, in welchen Einheiten hier gemessen wird, ich wüsste mit diesem Wissen auch gar nichts anzufangen.
In einem kleinen Park (obwohl – die ganze Stadt Tschernobyl ist ja längst ein reichlich baumbestandener großer tickender Park!) eine Gedenkstätte für die Liquidatoren. Am Eingang eine Plastik in Grünspan, sie stellt eine Kanone aus dem letzten Weltkrieg dar. Artillerie gegen Strahlung? Nein, die Erinnerungskultur greift eben auf die vertrauten Muster zurück, auf alte Gewohnheiten, man zieht den Hut, schlägt das Kreuz und gedenkt der Gefallenen. Tschernobyl-Tag ist so etwas wie Volkstrauertag, Heldengedenktag. Die Blumen am Mahnmal in Tschernobyl erinnern mich an die Blumen in Verdun, an Kriegsgräberfürsorge. Im Tschernobylmuseum in Kiew habe ich eine moderne Ikone gesehen, die den Heiligen Feuerwehrmann darstellt. Im angrenzenden Raum eine Grußadresse der New Yorker Feuerwehrleute. Nine Eleven – Tschernobyl? Ja, das sind durchaus verwandte Mythen. Aus dem amerikanischen Mythos resultiert der Krieg gegen den Terror, aus dem ukrainischen – ich weiß nicht. Vielleicht ist ukrainische Trauer doch etwas selbstvergessener als amerikanische.
Plötzlich zwischen den Bäumen eine Synagoge aus dem 19. Jahrhundert. Zwei Birken wachsen aus der Fassade heraus. Richtig, die Stadt Tschernobyl hatte auch ihr Schtetl. Um 1900 beispielsweise lebten hier 7.000 Juden bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 10.000. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts habe es hier eine für ganz Osteuropa bedeutende chassidische Dynastie gegeben, begründet von Reb Menachem Nachum Twersky. Das war zur selben Zeit, als hier auch die russischen Altgläubigen eingewandert sind auf der Flucht vor der unduldsamen Moskauer Autokratie. Langsam öffnet sich der Blick auf die vergangene Menschengesellschaft von Polissja, deren Geschichte am 26. April 1986 abrupt und definitiv beendet wurde. «Tschernobyl» ist eben mehr als eine Chiffre für eine Nuklear-Katastrophe. (Die jüdische Geschichte von Tschernobyl endete 1941, und zwar in Babij Jar).
Mit Rostyslaw stromere ich ein bisschen um eine orthodoxe Christen-Kirche herum (ob das gefährlich ist, mit offenen Sandalen herumzulatschen im verstrahlten Gras?), und er rupft im Kirchhof ein Kraut ab und hält es mir unter die Nase: „Tschornobyl! Tschornobylnyk! Schau Dich um, das wächst hier überall!“ – Ach ja, ich weiß schon, jetzt kommt die Geschichte mit der Apokalypse. Mystizismus spielt in der ukrainischen Volkskultur seit jeher eine große Rolle, manche Ethnologen meinen, Mystizismus sei ein Teil der „slawischen Identität“. Mit großer Begeisterung wurden beispielsweise schon 1986 die Verse 10 + 11 aus Kapitel 8 der Johannes-Offenbarung als Voraussage der Tschernobyl-Katastrophe genommen: Und der dritte Engel posaunte; und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel und fiel auf den dritten Teil der Wasserströme und über die Wasserbrunnen. Und der Name des Sterns heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser ward Wermut, und viele Menschen starben von den Wassern, denn sie waren bitter geworden. Die Pflanze Wermut ist aber verwandt mit der Pflanze Beifuß, und Beifuß heißt auf Ukrainisch Tschornobyl. Voilà! q.e.d. Im Kiewer Tschernobyl-Museum hat mir eine ahnungslose junge Frau dieses Zitat als eine Prophezeiung des Nostradamus serviert. Das hat mir natürlich gefallen.
Prypjat. Die sogenannte «Geisterstadt». Ich finde hier nichts Geisterhaftes. Ich finde, diese Stadt ist vor allem leer. Und ich sehe nichts, was ich zuvor nicht schon auf Fotos und in Filmen gesehen hätte. Ich erlebe Prypjat als eine unvergleichliche Installation: Die vom Wald zugewachsenen Wohnblocks, das berühmte Schwimmbad, die berühmte Sporthalle, die berühmte Musikschule, das berühmte rostende Riesenrad. Wir sind übrigens nicht die einzigen, die in Prypjat herumgeführt werden. Inzwischen ist Mittag, und der Tschernobyl-Tourismus nimmt zu. Manchmal habe ich den Eindruck, morgens geht hier jemand durch und richtet die Scherbenhaufen, dass sie auch was hermachen, drapiert vielleicht eine Puppe dahin oder einen demolierten Teddybär dorthin, legt am Beckenrand ein Gästebuch aus, riskiert da und dort Graffitti – die ganze Stadt Prypjat ist eine Installation mit derart vielen Bedeutungsebenen, dass mir der Schädel brummt.
Die Stadt Prypjat steht ja auch ganz zeichenhaft für den sowjetischen Traum. Im April 1986 war sie noch nagelneu, gebaut erst 1970 für die Belegschaft der Tschornobyls’kyj Atomnyj Elektro-Stantsija. Gut, einige sagen Retortenstadt, eine dieser in der Sowjetunion seriell hergestellten Industriestädte, wie sie in Sibirien aus dem Boden gestampft wurden, im Kaukasus, in der Ukraine, am Ural, und wie sie jetzt wieder verfallen und ganz ohne GAU grotesk verrosten. Allerdings war Prypjat immer etwas Besonderes, ein Schaufenster für den Rest der Welt, und: dieser sowjetische Traum war gut finanziert und auf dem neuesten Stand. Es gab in dieser Stadt keine alten Leute, Durchschnittsalter 26 Jahre, mietfreies Wohnen, hervorragende Jobs, pro Jahr etwa 1.000 Geburten. 1986 hatte Prypjat 48.000 Einwohner, in Kürze sollten es 80.000 sein.
Dann die Havarie. Von einem Moment auf den anderen wurde hier 36 Stunden nach dem Unfall das Leben angehalten. Wie in Dornröschen, es fehlen nur die eingefreezten Bewohner, die man durch Prinzenkuss wieder erwecken könnte. Denn die Bewohner von Prypjat hat man damals in 1.100 Bussen evakuiert. Seither steht die Stadt definitiv leer, der Wald nimmt sie in Besitz, von den Rändern her. Und nun kommen wir Tschernobyl-Touristen vorbei und erleben eine sehr eindrucksvolle Installation.
Höhepunkt jeder Tschernobyl-Tour ist natürlich die Besichtigung von Block IV des Atomkraftwerks, der explodierte Block IV, der zugeschüttete, ummantelte, immer noch unruhige, meine Damen und Herren, sehen Sie hier: der weltberühmte Sarkophag von Tschernobyl! Ständig rollen nun mehr oder weniger luxuriöse Limousinen auf die reichlich vorhandenen Parkplätze, Standardbesetzung: ein Fahrer, ein professioneller Tschernobyl-Guide, ein Dolmetscher, ein Besucher, der für die Erlaubnis, in die Zone eindringen zu dürfen, mächtig gelöhnt hat. Seltsam, je mehr Leute ich treffe, die hier dasselbe tun wie ich, um so lockerer und leichtsinniger werde ich. Die Anspannung, die ich noch an der Zonengrenze gespürt habe, lässt deutlich nach. Stattdessen ein etwas dümmlicher Übermut. Auch ich lasse mich mit meiner Gruppe vor dem Sarkophag fotografieren.
Dann dirigiert uns Rostyslaw zu einer Eisenbahnbrücke über einen kanalisierten Prypjat-Arm, irgend ein betongefasstes Bassin. Er hat einen Laib Weißbrot mitgebracht, reißt ihn in Stücke und wirft die Brotbrocken ins Wasser. Drunten ein wildes Fischgewimmel, alle starren hinunter, vielleicht sehen wir nun endlich mal die redensartlichen AKW-Karpfen, die im radioaktiv verseuchten Kühlwasser zu ungeahnter Größe anschwellen? (In den 1970er Jahren war der AKW-Kühlwasser-Karpfen eine beliebte Witzfigur). Nein, die Erwartungen werden gewaltig übertroffen. Wir sehen meterlange Tiere mit riesigem flachen Schädel und breitem Maul, rechts und links lange, bewegliche Barteln, die aussehen wie die gedrehten Schnurrbartschnüre der Zaporozher Kosaken. Es sind Welse. «Tschernobyl Som» diktiert mir Olena ins Notizheft. Und alle schauen wir hinunter, als hätten wir nun endlich ein sichtbares Bild des Schreckens gefunden, in dieser Nachsommer-Idylle, die fürs Auge so harmlos tut. Endlich etwas Sichtbares! Tschernobyl Som, ein aufgeblasenes Nuklear-Monster! Obwohl das Vieh wahrscheinlich nur so groß geworden ist, weil es von den Tschernobyl-Touristen soviel Brot zu fressen kriegt. Ich schau den Monstern begeistert zu und verstehe, warum sich die Menschheit den Teufel erfunden und derart begeistert immer und immer wieder lustvoll abgebildet hat.
Beim Austritt aus der Zone wieder die Grenzkontrolle und ein Hand-Fuß-Kontaminationsmonitor. Ein vorsintflutliches Gerät, du legst oben rechts und links außen die Hände an die markierte Stelle und trittst mit den Schuhen in die vorgestanzten Fußstapfen, dann ein bisschen Geratter und Geknatter und Spannung, ob die Maschine nun rot oder grün blinkt. Sie blinkt immer grün. Niemand glaubt an dieses Gerät, aber alle freuen sich über Grün. Prima Placebo.
Der Ausflug ist zu Ende, ich habe Hunger. Wart’s ab!, signalisiert mir Olena mit ihrem Wörterbuch, «wait a minute!» Dann biegt der Wagen ab, hinein in den hellen Wald, und da ist auch schon eine passende Picknick-Stelle mit rustikalen Tischen und Bänken, aus diversen Plastiktaschen wird alles ausgepackt, was man bei solchen Gelegenheit auspackt, Brot, Käse, Wurst, Schinken, Tomaten, Gurken, Paprika, und Rostyslaw hat auch schon eine Wodkaflasche bei der Hand und bringt einen Toast aus, der Wodka macht wirklich gute Stimmung, fehlt nur noch das Lagerfeuer, was soll ich sagen?
Seltsamerweise habe ich gut geschlafen in dieser Nacht, im elften Stock, Saksahanskyj-Straße 45, Kiew, Zentrum. „Über alles wächst Gras“, sagt die Sprache in einem gewissen tröstenden Ton. Aber wenn auch das Gras – und das erst recht! – verstrahlt ist? „Das hältst du doch im Kopf nicht aus!“, sagt die Sprache an anderer Stelle.
Der Text erschien u.a. als Extra-Beilage im FABRIK-Rundbrief Nr. 50 zum 25. Jahrestag der Havarie in Tschernobyl 2011. Den Text von Walter Mossmann, gelesen von Ralph Bienzeisler, können Sie auch hören.
Walter Mossmann
Walter Mossmann, 1941 in Karlsruhe geboren, war Liedermacher, Autor, Journalist. Seit Beginn der 1970er-Jahre war er in der Anti-AKW-Bewegung aktiv, war Gründungsmitglied der «Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen», Aktivist unter anderem in Gorleben, Brokdorf und Malville. Sein Denken war internationalistisch, basisdemokratisch und fern aller Ideologien. Er lebte in Freiburg im Breisgau und zeitweise in der ukrainischen Partnerstadt Lwiw (Lemberg). 2015 starb Mossmann in Breisach am Rhein.
Fotoserie «Third Nature»
Die Fotos zum Beitrag nahm Volker Kreidler 2016 in der Sperrzone von Tschernobyl auf. Der Berliner Fotograf bereist seit über 20 Jahren Ost- und Mitteleuropa. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich mit Transformationsprozessen von Orten und sucht nach den sichtbaren und unsichtbaren Wechselbeziehungen verschiedener Kultur- und Natursysteme. www.volkerkreidler.de
-
Die Ärztin von Tschernobyl
Paulina Zerluk gehörte zu den ersten Helferinnen nach der Katastrophe von Tschernobyl. Sie überlebte, trotz Krebs. Doch der Super-GAU lässt sie nicht los.
-
Das große Danach
Mit seinem Tschernobyl-Dokumentarfilm «Roadside Radiation» stellt der Regisseur Moritz Schulz eine große Frage: Wie wäre die Erde ohne uns?