Schuld ohne Sühne
Gastbeitrag von Richard Heede, Übersetzung von Dominik Fehrmann
Lediglich 20 Unternehmen verantworten 35 Prozent aller CO₂-Emissionen weltweit. Und dennoch ignorieren sie weiterhin alle Aufrufe zur Veränderung.
Dass fossile Energiekonzerne einen erheblichen Teil der CO2-Emissionen auf der Welt verursachen, ist seit Langem bekannt. Im Oktober 2019 haben wir vom «Climate Accountability Institute» (CAI) neue Daten veröffentlicht, die zeigen, in welchem Ausmaß die größten Mineralöl-, Erdgas- und Kohleunternehmen zur Klimakrise beigetragen haben. Demnach verursachten die von den 20 Branchenriesen produzierten Brennstoffe zwischen 1965 und 2017 einen Ausstoß von 480 Milliarden Tonnen Kohlendioxid und Methan. Das sind 35 Prozent aller in diesem Zeitraum durch fossile Brennstoffe angefallenen Emissionen; zu den Top Ten der Übeltäter zählen Saudi Aramco, Gazprom, ExxonMobil, BP und Royal Dutch Shell.
Wirtschaften, als gäbe es kein Morgen
Sieben Achtel dieser Emissionen entstehen bei der Nutzung ihrer Produkte – also dem Verbrauch von Benzin, Kerosin, Erdgas und Kohle –, ein weiteres Achtel bereits bei der Gewinnung, Veredelung und Lieferung raffinierter Brennstoffe. Die Produktion und Vermarktung kohlenstoffbasierter Energieträger geschieht im Wissen darum, dass diese die Klimakrise weiter verschärfen. Dennoch ignorieren jene Unternehmen nahezu alle Aufrufe, ihre Investitionen von der Rohstoffgewinnung und der Herstellung kohlenstoffbasierter Energieträger hin zu erneuerbaren Technologien zu verlagern – Technologien, ohne die das wissenschaftlich gebotene Ziel, den Netto-CO2-Ausstoß bis Mitte des Jahrhunderts auf Null zu senken, unerreichbar ist.
1965: «Time is running out»
1965 veröffentlichte das «Science Advisory Committee» von US-Präsident Lyndon B. Johnson den Bericht «Restoring the Quality of Our Environment». Darin stellen die Wissenschaftler unter anderem fest, dass sich «weltweit der Kohlendioxidgehalt der Luft verändert hat» und dass «fossile Brennstoffe derzeit die einzige Quelle für das CO2 sind, die dem Ozean-Atmosphäre-Biosphären-System zugeführt wird».
Das «Climate Accountability Institute» nimmt auch deshalb die Produzenten fossiler Brennstoffe ins Visier, weil dieser Branche schon früh klar war, dass ihre Produkte das Klima destabilisieren. Seit Kurzem zugängliche Dokumente belegen, dass die Branche spätestens Mitte der 1960er-Jahre von klimawandelbedingten Gefahren wusste. Doch statt diesen Gefahren zu begegnen, weiteten die Unternehmen ihre Produktion noch aus und setzten weiter auf eine kohlenstoffbasierte Wirtschaft, als seien ihnen die Konsequenzen egal. Dabei wären die Unternehmen moralisch verpflichtet, zur Lösung des Problems beizutragen – denn ihre Produkte haben es schließlich mitverursacht.
Leugnen und verschleiern statt umsteuern
Meiner Ansicht nach wären fossile Energieunternehmen moralisch wie rechtlich ebenso dazu verpflichtet gewesen, Regierungen, Behörden und Verbraucher darauf hinzuweisen, dass eine andauernde Nutzung kohlenstoffbasierter Energieträger unsere Gesundheit und unseren Wohlstand bedroht. Und sie hätten die Diskussion darüber vorantreiben müssen, wie dieser Bedrohung zu begegnen ist. Stattdessen hat die Branche jahrzehntelang Millionen US-Dollar in die Leugnung und Verschleierung des Klimawandels investiert, um gesetzliche Maßnahmen zu verzögern und so ihre Marktanteile sichern zu können. Vor allem die US-Unternehmen – deren Handeln allerdings auch in Europa und anderswo auf der Welt stillschweigend akzeptiert wurde – haben ganze Gruppen von Pseudowissenschaftlern finanziert, Politiker beeinflusst und die Öffentlichkeit entgegen des wachsenden wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel in die Irre geführt.
1965: «Emotionen, Ängste, Handlungsbedarf»
Frank N. Ikard, damals Präsident des «American Petroleum Institute» (API), dem größten Interessenverband der US-amerikanischen Fossilindustrie, äußerte sich zu dem Johnson-Bericht auf der API-Jahreskonferenz 1965:
«Dieser Bericht wird zweifellos Emotionen erzeugen, Ängste schüren und Handlungsbedarf wecken. Der Inhalt des Berichts besteht darin, dass noch Zeit bleibt, um die Völker der Welt vor den katastrophalen Folgen der Verschmutzung zu bewahren, aber die Zeit läuft ab.»
Zugleich haben Mineralöl-, Erdgas- und Kohleunternehmen jahrzehntelang staatliche Subventionen in Höhe von Hunderten Milliarden US-Dollar genossen und obendrein von weiteren Begünstigungen profitiert, etwa von laxen Umweltschutzkontrollen, günstiger Überlassung von öffentlichem Grund und Boden zur Rohstoffgewinnung oder steuerfinanzierten Aufwendungen wie dem militärischen Schutz der von ihnen genutzten Schifffahrtswege.
Profiteure des größten Marktversagens der Geschichte
Multi-Linien-Diagramm: CO₂-Emissionen 1917–2017, insgesamt und durch Fossilkonzerne, Angaben in Millionen Tonnen CO₂,
1917: insgesamt 3.503, durch Fossilkonzerne 128 Millionen Tonnen,
1937: insgesamt 4.430, durch Fossilkonzerne 780 Millionen Tonnen,
1957: insgesamt 8.317, durch Fossilkonzerne 4.662 Millionen Tonnen,
1977: insgesamt 23.916, durch Fossilkonzerne 15.964 Millionen Tonnen,
1997: insgesamt 36.155, durch Fossilkonzerne 18.345 Millionen Tonnen.
Diese Unternehmen sind also die Profiteure dessen, was der Klima-Ökonom Nicholas Stern das «größte Marktversagen der Geschichte» genannt hat. Sie konnten Gewinne privatisieren und Kosten und Schäden externalisieren. Daher müssen Subventionen und ordnungspolitische Begünstigungen schrittweise reduziert und Kohlenstoffe endlich so bepreist werden, dass jene enormen Kosten und Klimaschäden «internalisiert» sind, die überwiegend von Menschen gezahlt werden, die das Problem nicht verursacht haben – ganz zu schweigen von dem, was auf die nachfolgenden Generationen zukommt.
Diese engen Verflechtungen aufzulösen ist schwierig, aber auch dringend geboten, wollen wir die schrecklichen Folgen eines unkontrollierbaren Klimachaos vermeiden. Unternehmen können eine zentrale Rolle beim Übergang zu jener emissionsarmen Wirtschaft spielen, die weithin als unerlässlich für den Fortbestand geregelter Zivilisation erachtet wird. Staaten, Städte und Wirtschaftsführer haben sich zur Reduzierung der CO2-Emissionen verpflichtet. Jeder Einzelne von uns sollte das ebenfalls tun. Zurecht mahnen Aktivistinnen und Aktivisten wie die unbeugsame Greta Thunberg zum Handeln. Um unsere Abhängigkeit von kohlenstoffbasierten Energieträgern zu verringern, benötigen wir eine Vielzahl an Lösungen, Initiativen, politischen Rahmenrichtlinien und Zielen – und ich bin guter Hoffnung, dass wir die Emissionen senken werden.
Die Fossilkonzerne mauern weiter
Allerdings befürchte ich, dass die Fossile-Energie-Konzerne genug Geld, Geschick und politischen Einfluss haben, um die Bemühungen um Netto-Null-Emissionen bis 2050 zu torpedieren. Wie können Emissionen deutlich reduziert werden, wenn Mineralöl-, Erdgas- und Kohleunternehmen planen, das Angebot an fossilen Brennstoffen noch auszuweiten und dafür Hunderte Milliarden US-Dollar auszugeben? Wenn sie, wie kürzlich Ben van Beurden, der Vorstandsvorsitzende von Shell, noch immer behaupten: «Wir haben keine andere Wahl, als in Öl und Gas zu investieren, weil die Welt es nachfragt.» Und ein Umbau der Konzerne ist nicht in Sicht: Zurzeit investieren die großen Mineralöl- und Erdgasunternehmen gerade mal 1,3 bis 7 Prozent ihrer Investitionen in den Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft.
Wir haben beschlossen, uns mit den Konzernen anzulegen.
Das CAI wurde 2011in den USA gegründet, um Fossilkonzerne zur Rechenschaft zu ziehen und sie zu mehr Klimaschutz aufzufordern. Wir rechnen akribisch nach, wie viele Emissionen ihrer Förderung von Rohöl, Erdgas und Kohle historisch zuzuschreiben sind, und schätzen künftige Emissionen auf der Basis ihrer nachgewiesenen Reserven. Wir prangern die unzureichenden Pläne der Konzerne zur Reduzierung der Klimafolgen ihrer kohlenstoffbasierten Lieferketten an. Zwar geben die Unternehmen regelmäßig Auskunft über innerbetriebliche Emissionen, übernehmen aber ungern Verantwortung für Emissionen aus den von ihnen produzierten Brennstoffen. Genau da beginnt unsere Arbeit.
Systemversagen seit 1965
Richard Heede und seine Kollegen haben das Jahr 1965 als Ausgangspunkt für ihre neuen Daten gewählt, weil es mit dem Johnson-Bericht und mit Ikards Rede belegbar sei, dass die Klimaauswirkungen fossiler Brennstoffe bei den Branchenführern damals bekannt waren. Obwohl globale Verbraucher von Einzelpersonen bis hin zu Unternehmen letztlich die Emittenten von Kohlendioxid sind, fokussiert sich CAI auf fossile Energiekonzerne, weil diese die fossilen Kraftstoffe trotz des Wissens, dass ihre Verwendung die Klimakrise verschärfen wird, jahrzehntelang weiter produziert und verkauft haben.
Unsere Informationen werden von Wissenschaftlern und Klimamodellierern genutzt, um den Unternehmen in der CAI-Datenbank Klimafolgen zuzuweisen. Mit unseren historischen Daten zu den Emissionen der weltgrößten Mineralöl-, Erdgas-, Kohle- und Zementunternehmen quantifizieren die Forscher deren jeweiligen Beitrag an der atmosphärischen CO2-Konzentration, der Erderwärmung und den Auswirkungen auf Fischerei, Meeresspiegelanstieg und Meeresversauerung. Dieser sogenannten «Attribution Science» (Zuordnungswissenschaft) gelingt es immer besser, die menschliche – und eben auch die unternehmerische – Verantwortung für Klimaschäden und Extremwetterereignisse differenziert zu ermitteln. Anwälte nutzen diese Daten, um Unternehmen auf Schadenersatz für Kosten zu verklagen, die beispielsweise bei klimawandelbedingten Maßnahmen zum Schutz oder Wiederaufbau von Gebäuden und Infrastruktur anfallen.
Zauderer müssen und werden vom Markt verschwinden.
Fossile Energiekonzerne dürfen nicht damit durchkommen, sich mit Lippenbekenntnissen aus der Affäre zu stehlen, während sie das Klimachaos weiter verschlimmern. Ich dränge die Manager dieser Konzerne zu einer Unternehmensführung, die im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel steht. Unternehmen haben nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die moralische Verpflichtung, den notwendigen Übergang zu einer emissionsarmen Wirtschaft zu ermöglichen.
Der Fokus muss sich verschieben: vom Erreichen der nächsten Quartalsziele hin zu ernsthafter Klimaverantwortung. Sonst hinterlassen wir der Nachwelt einen geplünderten Planeten und einen kaputten moralischen Kompass. Wir haben die Zukunft selbst in der Hand. Und wir schulden es unseren Nachkommen wie uns selbst, Sir Richard Attenboroughs Diktum, wir seien »eine Plage der Erde», durch Intelligenz, Voraussicht und Einfallsreichtum zu widerlegen und dem Klimawandel, der unser Überleben bedroht, noch vor Mitte dieses Jahrhunderts Einhalt zu gebieten. Bleiben wir hartnäckig!
Richard Heede, 1952 in Oslo geboren, ist Mitbegründer des «Climate Accountability Institute» (CAI), an dem er das Projekt «Carbon Majors» leitet. Seit seinem Studium in den 1980er-Jahren beschäftigt sich Heede mit Fragen der Umwelttechnik, der Energiepolitik und des Klimawandels, unter anderem beim «Rocky Mountain Institute» und der Beratungsagentur «Climate Mitigation Services».
Das CAI in Snowmass, Colorado, USA wurde 2011 von Richard Heede, Naomi Oreskes und Greg Erwin gegründet. Es betreibt Forschung und Aufklärungsarbeit zum menschengemachten Klimawandel, speziell zur Verantwortung der fossilen Energiekonzerne für die weltweiten CO2-Emissionen. Die gemeinnützige NGO finanziert sich aus Spenden- und Stiftungsgeldern sowie Forschungshonoraren.
Link: www.climateaccountability.org
Emissionen durch Fossilkonzerne von 1965 bis 2017
Top-20-Fossilkonzerne | Mio. Tonnen CO₂e | Prozent | |
1. | Saudi Aramco, Saudi Arabien | 59.262 | 4,38 % |
2. | Chevron, USA | 43.345 | 3,20 % |
3. | Gazprom, Russland | 43.230 | 3,19 % |
4. | ExxonMobil, USA | 41.904 | 3,09 % |
5. | National Iranian Oil Co., Iran | 35.658 | 2,63 % |
6. | BP, Großbritannien | 34.015 | 2,51 % |
7. | Royal Dutch Shell, Niederlande | 31.948 | 2,36 % |
8. | Coal India, Indien | 23.124 | 1,71% |
9. | Pemex, Mexiko | 22.645 | 1,67% |
10. | Petroleos de Venezuela, Venezuela | 5.745 | 1,16% |
11. | PetroChina / China Natl Petroleum, China | 15.632 | 1,15% |
12. | Peabody Energy, USA | 15.385 | 1,14% |
13. | ConocoPhillips, USA | 15.229 | 1,12% |
14. | Abu Dhabi, Vereinigte Arabische Emirate | 13.840 | 1,01% |
15. | Kuwait Petroleum Corp., Kuwait | 13.479 | 1,00% |
16. | Iraq National Oil Co., Irak | 12.596 | 0,93% |
17. | Total SA, Frankreich | 12.352 | 0,91% |
18. | Sonatrach, Algerien | 12.302 | 0,91% |
19. | BHP Billiton, Australien | 9.802 | 0,72% |
20. | Petrobras, Brasilien | 8.679 | 0.64% |
Top-20-Fossilkonzerne insgesamt | 480.168 | 35,45% | |
Gesamtemissionen CO₂e weltweit | 1.354.388 | 100,00 % |
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