Nachbarschaft unter Strom: Die urbane Energiewende
Malte Zieher im Gespräch mit Sophie Schmalz
Wie mit nachbarschaftlichen Projekten, die großstadttauglich und sozial sind, die Energiewende gerettet werden kann, erklärt der Energiewirtschaftler Malte Zieher.
Für das Interview treffen wir uns auf dem Dach eines Wohnhauses in Berlin-Neukölln. Neben uns steht eine neu installierte Photovoltaikanlage, deren Strom bald von mehreren Mietparteien gemeinschaftlich genutzt werden wird. «Anlagen wie diese gibt es noch viel zu wenige», meint Malte Zieher, «dabei könnten sie auch enorme soziale Effekte mit sich bringen.»
Der Energiewirtschaftler kämpft seit zehn Jahren für eine dezentrale Energiewende. Seit 2017 ist er Vorstand vom Bündnis Bürgerenergie (BBEn) in Berlin, einem gemeinnützigen Verein zur Förderung von Bürgerenergie. Die Chancen, dass dezentrale Projekte bald einen Aufschwung erleben, stehen dank eines europäischen Gesetzespakets gerade gut. Für den weiteren Ausbau Erneuerbarer Energien, der aktuell mächtig ins Stocken geraten ist, könnte das Paket laut Malte Zieher sogar die Rettung sein.
Herr Zieher, damit die urbane Energiewende funktionieren kann, setzen Sie auf gute Nachbarschaft. Was meinen Sie damit?
Die nachbarschaftliche Energiegewinnung muss jetzt in den Fokus der Energiewende gestellt werden. Wir vom BBEn wollen eine Vision erarbeiten, wie die Energiewende mit vielen dezentralen Elementen funktionieren und wie sie großstadttauglich gemacht werden kann. Der Ausbau Erneuerbarer Energien steht gerade an einem kritischen Punkt, er ist bedroht und bricht teilweise sogar ein, was vor allem an der Energiepolitik liegt. Aber momentan ist auch die Leidenschaft für die Energiewende verloren gegangen …
… die Leidenschaft?
Ja. Natürlich gibt es viele Gründe dafür, dass der Ausbau der Erneuerbaren Energien derzeit stockt, dazu gehört vor allem eine verbesserungswürdige Energiepolitik. Aber wir brauchen auch neue gesellschaftliche Visionen, damit die Menschen die Energiewende wieder spürbar vorantreiben. Nachbarschaftliche Projekte sind dafür zentral. Für den Erfolg zur Energieversorgung muss allerdings auch an einigen rechtlichen Stellschrauben gedreht werden.
Nachbarschaftliches Engagement soll die Energiewende retten?
Die Energiewende nimmt nur Fahrt auf, wenn sich neue Akteure beteiligen können. Die installierte Leistung der Erneuerbaren Energien bis 2016 geht zu 42 Prozent auf Bürgerinnen und Bürger zurück. Das ist fast dreimal so viel, wie alle Energiekonzerne zusammen auf den Weg gebracht haben. Die klassischen großen Energieversorgungsunternehmen haben den Klimaschutz im Energiesektor bisher nicht vorangetrieben – es waren die Menschen und die vielen kleinen Projekte. Wenn wir das Pariser Klimaschutzabkommen einhalten wollen, müssen wir mit der Energiewende im Stromsektor bis zum Jahr 2030 fertig sein – und ein paar Jahre später mit der Wende im Wärme- und Verkehrssektor. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien wird nur dann schnell genug funktionieren, wenn es für die Menschen einfacher wird, vor Ort auf ihren Häuserdächern massiv Solaranlagen zu installieren und gemeinschaftlich zu nutzen.
Wenn der Ausbau der Erneuerbaren durch Bürgerhand derart gut klappt, warum sollte er jetzt nicht so weitergehen?
In den letzten Jahren hatte es die Bürgerenergie zunehmend schwer. Die Regeln für Erneuerbare Energien sind in Deutschland viel zu bürokratisch geworden und die wirtschaftlichen Risiken gewachsen. Bis 2050 könnten 83 Prozent aller europäischen Haushalte aktiv am Energiesystem teilhaben, aber nur, wenn wir jetzt die richtigen Weichen stellen.
Bündnis Bürgerenergie (BBEn)
In dem Verein engagieren sich Privatpersonen und Bürgerenergiegesellschaften, um die dezentrale Energiewende in Bürgerhand zu stärken. Das Bündnis mischt sich in den politischen Dialog ein, streitet für die Schaffung einer Kultur der Bürgerenergie, die demokratischen, sozialen und ökologischen Werten entspricht, und vernetzt Akteure der dezentralen Energiewende. Neben vier Angestellten engagieren sich im Bündnis dutzende ehrenamtliche Mitglieder. Hier geht es zur Website des BBEn
Ist es nicht in Ordnung, dass die finanzielle Förderung für Erneuerbare Energien sinkt? Zu Beginn der Förderung vor knapp 20 Jahren wurde über 50 Cent für jede eingespeiste Kilowattstunde grünen Stroms gezahlt.
Ja, es ist völlig okay, wenn die finanzielle Förderung bei sinkenden Erzeugungskosten zurückgeht. Wir kritisieren vor allem, dass im EEG, dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, das allgemeine Recht, Anlagen jeder Größe bauen zu dürfen, abgeschafft wurde. Für alle Anlagen, die etwas größer sind, gilt nicht mehr das Einspeisevergütungssystem, sondern es werden Mengen ausgeschrieben, auf die sich fertig geplante Projekte bewerben können, wobei das günstigste Angebot gewinnt. Dadurch steigt das Risiko, nicht mehr zum Zuge zu kommen, gleichzeitig entstehen – insbesondere bei der Windenergie – hohe Planungskosten. Kleinere Wettbewerber können sich im Gegensatz zu großen Unternehmen das Risiko, leer auszugehen, schlicht nicht leisten und beteiligen sich daher nicht mehr.
Wie könnte das besser laufen?
Erst einmal bräuchten wir einen unverzerrten Markt, der die wahren Kosten von Atom- und Kohlestrom widerspiegelt. Derzeit zahlt die Gesellschaft die Umwelt- und Gesundheitskosten der Stromherstellung, nicht die Produzenten des dreckigen Stroms. Um dies zu ändern, wäre eine CO2-Abgabe ein wichtiges Instrument. Wenn der Markt fair wäre, könnten viel mehr dezentrale Projekte privat finanziert werden – es bräuchte vielleicht gar keine staatliche Förderung mehr. Weil das aber leider nicht der Fall ist, benötigt man im jetzigen Ausschreibungssystem zumindest Ausnahmen für Bürgerenergieprojekte. Zudem bietet das neue EU-Recht, das «Clean Energy Package» …
… ein Gesetzespaket zur Förderung sauberer Energie, das im Mai 2019 auf EU-Ebene beschlossen wurde.
Es bietet enorme Chancen für Europa und Deutschland. Zum Beispiel sieht es vor, Ungleichbehandlungen in der Förderung abzuschaffen: Individueller und gemeinschaftlicher Eigenverbrauch von Strom sollen gleichgestellt werden. Dadurch können vollkommen neue Mitmachprojekte entstehen. Der Ausbau der Erneuerbaren war schon immer ein Mitmachprojekt – und muss es auch weiterhin bleiben.
Neue Mitmachprojekte, wie zum Beispiel nachbarschaftliche Projekte, die derzeit im Fördersystem benachteiligt werden?
Genau. Ich wohne zum Beispiel in einer Wohngemeinschaft in einem Haus in Bremen. Wegen den derzeitigen gesetzlichen Regeln haben wir keine Solaranlage auf dem Dach.
Und das, obwohl Sie seit zehn Jahren ehrenamtlich Bürgerenergieprojekte umsetzen und freiberuflich in der energiewirtschaftlichen Beratung arbeiten? Sie sollten ja eigentlich wissen, wie man eine Solaranlage aufs eigene Dach bringt.
Genau, wir könnten zwar gemeinschaftlich eine Anlage betreiben und nutzen, aber egal wie wir es handhaben: Alleine dadurch, dass mehrere Personen den Solarstrom nutzen wollen, müssten wir auf den Strom, den wir selber produzieren und verbrauchen würden, 100 Prozent der EEG-Umlage zahlen. Das sind über sechs Cent pro Kilowattstunde, die das Projekt unwirtschaftlich machen. Wir können also keine Anlage betreiben, die sich für uns finanziell lohnt. Wenn sich mehrere Haushalte – oder eben eine WG – eine PV-Aanlage anschaffen wollen, geht das nicht ohne Abgaben auf Eigenverbrauch – und damit nicht ohne Wettbewerbsnachteil. Zudem unterliegen nachbarschaftliche Stromversorgungsprojekte, wie unsere, bürokratischen Meldepflichten und komplizierten Auflagen, die enorm abschrecken.
Wenn Sie in einem Einfamilienhaus wohnen würden, hätten Sie das Problem nicht?
Ja. Gegenüber Einfamilienhäusern werden andere Projekte – und damit andere Formen des Lebens – benachteiligt. Ich könnte Ihnen noch viele weitere Beispiele nennen. Das derzeitige Fördersystem ist nicht großstadttauglich. Wenn wir den massiven Ausbau von Solarstrom wollen, muss erlaubt werden, dass es eine gemeinschaftliche Eigenversorgung gibt – das wäre auch ein elementarer Schritt für die urbane Energiewende. Und genau das ist das Ziel des neuen EU-Rechts. Es sieht auch vor, dass ein Dritter die Anlage betreiben könnte, zum Beispiel wenn sich ein Haushalt eine eigene Anlage nicht leisten kann. Durch das neue Recht können dezentrale Modelle angestoßen werden, etwa mit sogenanntem «Peer-to-Peer-Handel», mit dem sich Nachbarn gegenseitig mit Strom versorgen können, oder mit dem «Energy-Sharing-Konzept», das Bürgerenergiegemeinschaften zu Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften machen könnte. Daher fordern wir eine schnelle und umfassende nationale Umsetzung des EU-Rechts. Strom muss lokal genutzt werden können, wenn wir mehr Klimaschutz wollen. Und das Ganze hätte auch eine soziale Komponente.
Was ist daran sozial?
Es ist nicht notwendig, unter einem für Solaranlagen geeigneten Dach zu leben, um von der Energiewende profitieren zu können. Durch Peer-to-Peer-Handel und Energy-Sharing können auch benachbarte Haushalte günstigen Solarstrom beziehen. Und wenn die gemeinschaftliche Eigenversorgung erlaubt wird, lohnen sich plötzlich Solaranlagen auf viel mehr Dächern. Energiearmut ist in ganz Europa ein Thema – und in Deutschland ist es für Menschen, die in Einfamilienhäusern leben, die also gesellschaftlich häufig sowieso schon bessergestellt sind, viel einfacher als für Mieterinnen und Mieter, sich mit eigenem grünem Strom zu versorgen. Diese soziale Benachteiligung will das neue EU-Recht beheben – weshalb wir dazu eine neue Kampagne starten.
Kampagne «Neue Kraft mit der Nachbarschaft»
Mit der aktuellen Kampagne setzt sich das Bündnis Bürgerenergie für die zügige und umfassende Umsetzung des neuen EU-Rechts ein und will damit die Nachbarschaft ins Zentrum der Diskussion rücken. Gemeinsam mit Partnern aus Praxis und Wissenschaft werden Visionen entwickelt, Studien erstellt und Gespräche geführt – mit dem Ziel, einen zivilgesellschaftlichen Konsens für eine dezentrale Energiewende zu schaffen. Ende Juni 2019, beim Schönauer Stromseminar der EWS, stellt Malte Zieher die Kampagne vor.
Ihre Ansichten bauen alle auf der Idee auf, dass die Energiewende dezentral gestaltet werden muss. In der politischen Debatte kommt seit Jahren immer wieder der Grabenkampf zwischen Verfechtern einer zentralen und einer dezentralen Energiewende auf. Wobei auf der einen Seite vor dem Problem begrenzter dezentraler Speichertechnologien und auf der anderen vor Netzausbau und Riesenstromtrassen gewarnt wird. Braucht es nicht beides?
Wenn wir uns darauf einigen, dass die Menschen der Motor der Energiewende sind, muss die Energie vorrangig dort erzeugt werden, wo sie auch verbraucht wird. Auf neue Netze könnten wir dann teilweise verzichten. Speicher sind zwar eine Herausforderung, aber sicherlich keine unlösbare: Eine Vielzahl etablierter Studien zeigt, dass es genug Speicherpotenziale gibt. Es wird Langzeitspeicher brauchen, zum Beispiel «Power-to-Gas»-Technologien und Sektorkopplung, also die gemeinsame Optimierung der Bereiche Elektrizität, Wärmeversorgung und Verkehr, damit die dezentrale Energiewende umgesetzt werden kann.
Wenn das so klar ist, warum wird da noch politisch gestritten?
Vor allem das Bundeswirtschaftsministerium und die CDU blockieren eine dezentrale Energieversorgung – das ist fatal. Jüngste Gesetze gehen alle in Richtung einer zentralen Ausrichtung des Energiesystems. Dezentrale Elemente werden seit 2012 systematisch verkompliziert und damit verhindert. Dahinter stehen eine starke Lobby – und rein wirtschaftliche Überzeugungen und Interessen. Die Bedeutung eines dezentralen Systems wird nicht geschätzt. Dabei ergeben viele kleine Projekte eine große Summe.
Neben der technischen gibt es auch eine gesellschaftliche Dimension. Bürgerinitiativen und Proteste gibt es auf allen Seiten: sowohl gegen Windräder als auch gegen Riesenstromtrassen. Will die Gesellschaft überhaupt eine dezentrale Energiewende?
Bürgerinitiativen sind oft kritisch, wenn ihnen etwas vorgesetzt wird, in dessen Planung sie nicht einbezogen werden und das sie nicht mitgestalten können. Interessanterweise sind die meisten Bürgerinitiativen, die gegen neue Übertragungsnetze sind, für den dezentralen Ausbau der Erneuerbaren in Bürgerhand. Die Menschen sind sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst und möchten aktiv zum Klimaschutz beitragen. Dabei wollen sie jedoch ihre Belange selbstbestimmt in die eigenen Hände nehmen und die Energiewende vor Ort eigenständig gestalten. Deshalb steht in unserer Kampagne die Nachbarschaft im Zentrum. Und wenn die Menschen Projekte selbst umsetzen und gestalten können, steigt auch die Identifikation – und damit die gesellschaftliche Akzeptanz für die Energiewende.
Malte Zieher
Seit 2017 arbeitet Malte Zieher im Vorstand und in der Geschäftsstelle des Bündnis Bürgerenergie (BBEn). Bereits während seines Studiums der Politik- und Wirtschaftswissenschaften realisierte Zieher Bürgersolaranlagen. Er gründete mehrere Bürgerenergieprojekte, u.a. die «Bürgersolaranlage Sandhausen», die Genossenschaft «solar popular» und den «Bremer SolidarStrom», bei dem er weiterhin ehrenamtlich aktiv ist und Solaranlagen in der dortigen Region realisiert. Seit 2012 berät Zieher Unternehmen und Institutionen zur Umsetzung der Energiewende und zum Management von dezentralen Erneuerbaren Energien.
Seinen Vortrag beim Schönauer Stromseminar 2019 finden Sie auf dem YouTube-Kanal der EWS.
-
Balkonsonne in die Steckdose
Gerade für Mietwohnungen sind steckertaugliche Komplett-Solaranlagen eine sinnvolle Möglichkeit, Ökostrom zum Direktverbrauch zu erzeugen.
-
EIN ÖKODORF IN EIGENREGIE
In den 1990er Jahren formulierten einige Vordenker in den Niederlanden ihre Vision: Urbaner Lebensraum, gemeinsam ökologisch gestaltet. Ein Besuch.