Kipppunkt Golfstrom: Was uns erwartet
Ein Bericht von Benjamin von Brackel
Die Wärmepumpe Nordeuropas schwächelt. Geriete sie ins Stocken, stünde uns ein Temperatureinbruch bevor – doch schon jetzt drohen unmittelbare Gefahren.
Wer ein Gefühl dafür bekommen will, was uns der Klimawandel noch an Überraschungen bescheren könnte, sollte sich einmal die Jahre 2009 und 2010 vergegenwärtigen. Damals erlebten einige Teile der Welt höchst merkwürdige Phänomene. In Großbritannien herrschte Anfang 2010 der kälteste Winter seit 1987, die Zeitungen sprachen vom «großen Frost von 2010». Große Teile der Insel erlebten eisige Temperaturen und Schneefall. Asphaltstraßen platzten auf, Wasserleitungen barsten, 22 Menschen erfroren. Zeitweise mussten Flughäfen schließen, und im Tunnel unter dem Ärmelkanal saßen Passagiere stundenlang in einem Zug fest.
Vor New York wiederum stieg der Meeresspiegel innerhalb jener beiden Jahre sprunghaft um 12,8 Zentimeter an. Dieser Anstieg sei seit Beginn der Messungen beispiellos gewesen, erklärten Wissenschaftler der «University of Arizona» und der «National Oceanic and Atmospheric Administration» (NOAA), nachdem sie die langjährigen Aufzeichnungen der Wasserstände analysiert hatten.
Und weiter im Süden der US-amerikanischen Ostküste bauten sich im Sommer 2010 so viele Hurrikans auf wie nur selten zuvor. Darunter listete das «National Hurricane Center» allein fünf Hurrikans der Kategorie drei oder höher. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, dass diese so weit voneinander entfernten Naturereignisse einen gemeinsamen Ursprung haben. Aber genau so war es. Dieser, so stellte sich heraus, befindet sich im Nordatlantik rund um Island.
Teil eines weltumspannenden Systems
Mitte Juli 2021 segelte dort Arved Fuchs mit dem Expeditionsschiff «Dagmar Aaen». Der deutsche Polarforscher ist dafür bekannt, schwierige Herausforderungen anzunehmen – so hat er als erster Mensch sowohl den Nord- als auch den Südpol zu Fuß erreicht. Nun ist der 68-Jährige mit dem grauen Vollbart in den isländischen Gewässern unterwegs. Er schaut auf den Ozean, der heftig in Wallung ist und das Segelschiff hin und her schaukelt. Das Entscheidende aber, weiß er, spielt sich unter der Wasseroberfläche ab, im Verborgenen. Hier, weit unter der Dagmar Aaen, verschwindet ein gewaltiges Wärmeförderband in der Tiefe, das mehr als zwanzigmal so viel Wasser transportiert als alle Flüsse auf der Erde zusammen: die sogenannte «Atlantische Meridionale Umwälzströmung» («Atlantic Meridional Overturning Circulation» – AMOC). Diese wiederum ist nur ein Teil eines noch viel größeren Wasserförderbands, das durch alle großen Ozeane führt und die Wärme auf dem Planeten umverteilt, angetrieben durch Druckunterschiede. Auf einer Karte sieht das aus wie Schleifen, die sich durch den Pazifik, den Indischen Ozean und den Atlantik ziehen. Bis ein Wasserteilchen die gesamte Länge dieses Zirkulationssystems durchwandert hat, kann es eintausend Jahre dauern.
Der Golfstrom ist nur ein kleiner Teil davon: Er beginnt am Zipfel von Florida, lenkt warmes Salzwasser aus dem Golf von Mexiko entlang der US-Ostküste und biegt dann ab in die offene See des Nordatlantiks. Dort wird er durch den Nordatlantikstrom verlängert, aus dem in Europa wiederum der Norwegische Strom hervorgeht. Dieser lenkt die warmen Wassermassen bis vor Island, wo sich Arved Fuchs gerade befindet. Hier saugt die kalte Luft die Wärme aus dem Ozean an, wodurch warme Luftmassen nach Westeuropa wandern. Ohne dieses marine Förderband wäre Westeuropa rund vier Grad Celsius kälter.
Die größten Wasserfälle der Erde – unter Wasser
Das aus dem Süden kommende Oberflächenwasser vor Island und Grönland kühlt sich ab, wird schwerer und rauscht mit Urgewalt durch 15 Kilometer breite Säulen in die Tiefe des Ozeans hinab. In 2.000 bis 3.000 Meter unter der Wasseroberfläche fließt nun kaltes und salzarmes Wasser zurück in den Süden.
So war es jedenfalls über viele Jahrhunderte hinweg. Der Klimawandel führt nun allerdings dazu, dass die Eismassen Grönlands abschmelzen und es in der Region zu stärkeren Regenfällen kommt. Deshalb dringt nun massenhaft Süßwasser ins System, das leichter ist als Salzwasser und deshalb schlechter herabsinken kann. «Wenn sich die Ozeane erwärmen und das Grönlandeis abschmilzt, verändert sich die Zusammensetzung des Meerwassers», erklärt Fuchs am Telefon, während sein Schiff am 9. Juli im Hafen von Húsavík Station macht.
Eine Abschwächung der gigantischen Wärmepumpe hätte drastische Auswirkungen.
Damit verlangsamt sich die große Umwälzpumpe. Das hat zur Folge, dass sich der Nordatlantik abkühlt, während sich der Rest der Welt erwärmt. «Eine Abschwächung der gigantischen Wärmepumpe hätte drastische Auswirkungen für die Küstenbewohner West- und Südeuropas», so Fuchs, der mit seinen Messungen für das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel auch dazu beitragen will, jene Veränderung besser zu verstehen: Von der Oberfläche bis in 500 Metern Tiefe nehmen Messbojen, Sonden und andere Geräte CO2-Gehalt, Temperatur und Salinität der Meere auf – und zwar in Regionen, die sonst per Schiff nicht leicht zu erreichen und untersuchen sind.
Der Golfstrom verliert schon jetzt an Schwung
2020 haben Wissenschaftler die Geschichte des Golfstroms mithilfe von sogenannten Proxydaten rekonstruiert – das sind Zeugnisse aus der Vergangenheit wie Schiffslogbücher, Eisbohrkerne, Ozeansedimente und Korallen. Das Ergebnis erschien Anfang 2021 im Fachblatt «Nature Geoscience»: Über Jahrhunderte hinweg verhielt sich der Golfstrom ziemlich stabil, bis er sich um 1850 abzuschwächen begann, und zwar besonders stark ab 1960 – um rund 15 Prozent. Sollte die globale Erwärmung nicht begrenzt werden, rechnen Klimaforscher mit einer weiteren Abschwächung des Golfstroms um bis zu 45 Prozent bis zum Ende dieses Jahrhunderts. «Das könnte uns gefährlich nahe an den Kipppunkt bringen, an dem die Strömung labil wird», warnt der Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
Die bereits jetzt sichtbaren Anzeichen einer Destabilisierung habe ich nicht erwartet und finde sie beängstigend.
So wies Rahmstorfs Kollege Niklas Boers kürzlich nach, dass die Abschwächung des Wärmestroms im Nordatlantik nicht bloß eine normale Schwankung oder lineare Antwort auf die Erderwärmung sei. Der PIK-Forscher hat den Salzwassergehalt und die Meerestemperatur der vergangenen 150 Jahre ausgewertet und diese Werte mit früheren Perioden der zurückliegenden 100.000 Jahre verglichen, in denen die Umwälzströmung in einen schwachen Zustand übergegangen war. «Die Ergebnisse legen nahe, dass dieser Rückgang mit einem fast vollständigen Stabilitätsverlust der AMOC im Laufe des letzten Jahrhunderts verbunden sein könnte und dass die AMOC möglicherweise kurz vor einem kritischen Übergang in ihren schwachen Zirkulationsmodus steht», schreibt Niklas Boers im Fachmagazin «Nature Climate Change».
Wann aber die kritische Schwelle genau überschritten wird, ist unklar. «Wir stochern auf ein Biest ein», sagte Alex Hall, Direktor des Zentrums für Klimawissenschaft an der «University of California», gegenüber der New York Times. «Aber wir wissen nicht wirklich, welche Reaktion wir damit auslösen werden.»
Würde der Strom ganz abreißen, droht Europa ein massiver Kälteeinbruch. Doch auch wenn dieses Szenario medial präsent ist (wie in dem Katastrophenfilm «The Day After Tomorrow»), so dürfte das tatsächliche Eintreten eines derartigen Kälteeinbruchs jedoch in weiter Zukunft liegen; er wäre jedenfalls nicht mehr in diesem Jahrhundert zu erwarten. Viel unmittelbarer sind allerdings die Gefahren durch die Abschwächung der Umwälzströmung im Atlantik, die sich heute schon bemerkbar machen – wie 2009 und 2010, als innerhalb eines Jahres die Strömung ein Drittel an Kraft verlor. Das könnte maßgeblich an natürlichen Klimaschwankungen gelegen haben, die sich von Jahr zu Jahr ereignen können. Wenn sich die Strömung aber wie prognostiziert langfristig immer weiter abschwächt, könnten Jahre wie 2009 und 2010 schon bald zur Normalität werden. Sie öffnen quasi ein Fenster in die Zukunft.
Steigender Meeresspiegel, heftigere Wirbelstürme
Eine weitere Folge ist der Meeresspiegelanstieg an der Ostküste der USA. Diesen sagen Studien für den Fall voraus, dass der Golfstrom schwächelt. Dahinter steckt folgender Mechanismus: Normalerweise lenkt die Erdrotation die vom Golfstrom transportierten Wassermassen nach Osten hin ab. Wenn sich aber die Strömung abschwächt, staut sich vor der US-Ostküste das Wasser auf – genau wie es 2009 und 2010 vor New York der Fall gewesen war. Damit droht dieser Landesteil häufiger überschwemmt zu werden, und manche Orte könnten früher als bislang gedacht unbewohnbar werden. Je höher der Meeresspiegel steigt, desto besser können außerdem Hurrikans auf Land treffen und verheerenden Schaden anrichten.
Als ob das nicht reichen würde, dürfte ein schwächelnder Golfstrom Hurrikans auch noch vermehrt auftreten lassen: Damit sich die tropischen Wirbelstürme aufbauen können, muss das Wasser an der Meeresoberfläche mindestens 26 Grad warm sein. Erst dann liefert der Ozean genügend Treibstoff in Form von Hitze, den ein Hurrikan braucht, um seine zerstörerische Kraft zu entfalten. Und hier kommt der Golfstrom ins Spiel: Wenn dieser im Winter schwächelt, wird es im Norden zwar kühler als sonst, aber im Süden umso wärmer, denn irgendwo muss die Wärme schließlich hin. Über fünf Monate baut sich die Hitze im Atlantik zwischen dem 10. und 20. Breitengrad auf der Nordhalbkugel auf, also in der Region, wo die Wirbelstürme vorzugsweise auftauchen. «Wir sehen hier eine signifikante Korrelation», sagt die Meeres- und Klimawissenschaftlerin Samantha Hallam von der irischen «Maynooth University», «wenn auch mit einer gewissen Verzögerung».
Hallam stieß auf diesen Zusammenhang, als sie 2017 ihre Doktorarbeit schrieb. In jenem Jahr hatte es besonders heftige und zerstörerische Hurrikans gegeben – ähnlich wie 2005 und 2010. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin wollte herausfinden, was die genaue Ursache war, also warum es zu so hohen Temperaturen im Ozean kam, die als Ausgangsbedingung für die Stürme gelten. Also überprüfte sie auch, wie schwach die Atlantische Meridionale Umwälzströmung in den jeweiligen Jahren war. Weiter zurück in der Zeit konnte sie nicht gehen, da das sogenannte «RAPID»-Messsystem erst im Jahr 2004 eingerichtet worden war: 226 am Meeresboden befestigte Instrumente messen bei 26,5 Grad nördlicher Breite seither die Strömung. Und diese wird langfristig zwar schwächer, kann allerdings von Jahr zu Jahr auch mal nach oben oder unten ausschlagen. 2005 und 2010 war sie besonders schwach, 2017 aber nicht. Für dieses Jahr machte Hallam auch eher eine Abnahme der Passatwinde aus Afrika als Ursache für die warmen Meerestemperaturen aus. Diese sorgen für trockene Luft und eine Hitzeübertragung in den Ozean.
Wann die Nordatlantikzirkulation das nächste Mal schwächeln und zerstörerische Hurrikans heraufbeschwören wird, ist unklar. «2020 war ganz offensichtlich eine aktive Hurrikansaison, und auch in diesem Jahr sieht wieder alles danach aus», sagt Hallam. «Aber wir haben noch keine Daten, um zu sagen, warum.» Die Datensammlung ist nämlich alles andere als einfach: Die Forscherinnen und Forscher müssen jede der 226 Messbojen im Ozean eigens mit einem Boot ansteuern und alle 18 Monate vor Ort auslesen, da es bislang noch keine Satellitenverbindung gibt. Erst in einigen Monaten, so rechnet Hallam, werden alle aktuell gesammelten Daten vorliegen.
Ernährungskrisen drohen
Eine schwächelnde Atlantikzirkulation hat aber noch weitere Folgen. Sie ist wie ein wichtiges Verbindungselement in einer Maschine: Blockiert dieses oder läuft es nicht mehr rund, wirkt sich das aufs ganze System aus. Und dann kann es sogar zu solchen atypischen Wintereinbrüchen wie in den Jahren 2009 und 2010 in Großbritannien kommen, weil der Wärmenachschub aus dem Süden fehlt. Samantha Hallam arbeitete damals am «National Oceanography Centre» in Southampton und kann sich noch gut an die Schneemassen und das Verkehrschaos erinnern. «Wir sind nicht gewohnt, mit Schnee umzugehen», erzählt sie. Aber auch gravierende Hitzewellen und Winterstürme in Europa sowie eine Verschiebung der Regenfälle in den Tropen halten Klimaforscher für möglich.
Schon eine partielle Schwächung könnte katastrophale Auswirkungen haben.
Außerdem können die Meere weniger Kohlendioxid aufnehmen, wenn weniger Oberflächenwasser im Nordatlantik in die Tiefe gesogen wird. Sogar ganze Meeresökosysteme wären von einem Kollaps bedroht: Gerät die Umwälzpumpe ins Stottern, werden nicht mehr genügend Nährstoffe aus der Tiefe an die Oberfläche gespült. Bereits eine partielle Schwächung ließe möglicherweise die Planktonbestände einbrechen, warnte schon im Jahr 2005 der Klimaforscher Andreas Schmittner von der «Oregon State University» in einer «Nature»-Studie. Das wiederum «könnte katastrophale Auswirkungen auf die Fischerei und die menschliche Nahrungsversorgung in den betroffenen Regionen haben».
An der US-Ostküste steigt der Meeresspiegel, die Hurrikans nehmen zu, das Wetter in Europa wird durcheinandergewirbelt und Fische verhungern im Atlantik: Das sind die Folgen, auf die sich die Weltgemeinschaft einstellen muss. Und nicht auf etwaige Eiszeiten in Europa. Falls der Golfstrom in ferner Zukunft tatsächlich abreißt, dann würde die Abkühlung möglicherweise gerade einmal die Erwärmung durch den Klimawandel ausgleichen. Eventuell hätte das sogar einen positiven Effekt für Europa. Im Gegensatz zu den vielen negativen Begleiterscheinungen – sollte das System der Wärmeversorgung Europas nach und nach erlahmen.
Diese Entwicklungen stimmen auch Arved Fuchs sorgenvoll. «Ich bin seit vier Jahrzehnten in den Polarregionen unterwegs und beobachte die Veränderungen im Eis und Ozean», sagt er. Manchmal erkenne er die Region kaum wieder, dabei haben die Umbrüche dort gerade erst begonnen. «Wir verändern die Funktionsweise des Planeten – und das kann nicht im Interesse der Menschen sein.»
Titelfoto: Die Halbinsel Florida und das tiefblaue Wasser des Golfstroms. Quelle: NASA
-
Offene See
In der Arktis schwindet das Meereis. Eine Forschungsreise längs der russischen Küste soll dazu beitragen, die Folgen für die Klimaentwicklung besser abzuschätzen.
-
Jetstream: Wenn der Klimamotor stottert
Die Erderwärmung schwächt den Jetstream, einen Höhenwind, ab. In der Folge drohen mehr Hitzewellen und extremere Überschwemmungen.