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Jetstream: Wenn der Klimamotor stottert

Ein Bericht von Benjamin von Brackel

Die Erderwärmung schwächt den Jetstream, einen Höhenwind, ab. In der Folge drohen mehr Hitze­wellen und extremere Überschwemmungen.

Wer verstehen will, warum es bald normal sein könnte, dass wir unter Dauerdürren wie 2018 in Deutschland leiden müssen oder Hitzewellen mit Temperaturen über 40 Grad Celsius wie im Sommer 2019 erleben, sollte ein Seil in die Hand nehmen und dieses in regelmäßigen Abständen nach oben schnellen lassen. Ein Wellenband entsteht, das die Form eines «S» annimmt, welches auf dem Rücken liegt. Und genau so entsteht auch unser Wetter.

Stellen wir uns vor, dass dieses Wellenband auf der Nordhalbkugel der Erde liegt und sich von West nach Ost schlängelt. Dabei schiebt es ständig Hoch- und Tiefdruckgebiete vor sich her. In seinen Einbuchtungen nach Süden trägt es Tiefdruckgebiete, die sich gegen den Uhrzeigersinn drehen, in seinen Einbuchtungen nach Norden trägt es Hochdruckgebiete, die sich mit dem Uhrzeigersinn drehen. Soweit die Ausgangslage.

Seit ein paar Jahren allerdings verhalten sich diese Höhenwinde außerordentlich merkwürdig: Immer wieder schwächen sie sich stark ab und fangen an, extrem zu mäandern. Und das bringt unser Wetter noch mehr durcheinander, als das durch die Erwärmung ohnehin schon passiert.

 

Die Illustration zeigt einen Globus. Um den Nordpol, etwa auf einem Drittel zwischen Nordpol und Äquator ist ein heller, recht glatter Ring eingezeichnet.
Der Jetstream ist ein Band aus starken Höhenwinden, die mit der Erdrotation von West nach Ost wehen. Er entsteht dort, wo kalte Luftmassen aus der Arktis auf warme Luftmassen aus mittleren Breiten prallen. Illustration: Ole Häntzschel
Es sind rote und blaue Druckgebiete eingezeichnet, die den hellen Ring des Jetstream von oben und unten in eine leichtes Wellenmuster zwingen.
Vor allem im Sommer bildet die Luftmassengrenze jedoch Einbuchtungen aus, längs derer die Höhenwinde Hoch- und Tiefdruckgebiete vor sich herschieben. Illustration: Ole Häntzschel
Das Wellenmuster des Jestream wird stärker: die Wellen schlagen mehr nach oben und unten aus.
Weil sich die Arktis klimawandelbedingt schneller erwärmt als die mittleren Breiten und dadurch die Temperaturdifferenz zwischen diesen Klimazonen abnimmt, beginnt der Jetstream immer stärker zu mäandern. Dabei wird er zunehmend langsamer. Illustration: Ole Häntzschel
Das Wellenmuster ist sehr stark: Es sind Wetterereignisse an 22. Juli 2018 eingezeichnet: wie etwa Hitzewellen in Kalifonien und Mitteleuropa und Überschwemungen in den USA.
Es bilden sich stehende Wellen, innerhalb derer sich normale Wetterlagen zu Extremwettern entwickeln. So am 22. Juli 2018, als in Europa eine Hitzewelle herrschte, der Nordosten der USA unter Überschwemmungen litt und in Kalifornien die Wälder brannten. Illustration: Ole Häntzschel

Dynamik zwischen warmen und kalten Luftmassen

Dazu muss man wissen, wie das Band der Höhenwinde auf der Nordhalbkugel, auch Jetstream genannt, überhaupt entsteht: Es umringt unter anderem die Nordhalbkugel und bildet sich dort, wo kalte und warme Luftmassen aufeinanderprallen – also die kalten Luftwirbel aus der Arktis auf der einen und die wärmeren Luftmassen aus dem Äquator auf der anderen Seite. Weil die Atmosphäre ständig bestrebt ist, diese Temperatur- und Druckunterschiede auszugleichen, entsteht der Jetstream. Die Erdrotation lenkt das Band der Höhenwinde von West nach Ost, und zwar in acht bis zwölf Kilometern Höhe über Nordamerika, den Atlantik, Europa und Asien hinweg – einmal im Kreis. Weil das Band den durch die Corioliskraft verursachten «planetarischen Wellen» folgt, den sogenannten «Rossby-Wellen», die die Erdkugel umlaufen, bewegt es sich nicht gradlinig, sondern schlenkert ein wenig.

Im Sommer 2018 kam der Jetstream aber förmlich zum Stillstand, weshalb die kalten und warmen Luftmassen nach oben und unten ausschlagen konnten. «Wir sehen ganz klar in den Modellen wie auch in den Beobachtungen, dass die Stärke des Jetstreams im Sommer abnimmt», sagt Dim Coumou, der am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) eine Forschergruppe ­leitet, die sich mit atmosphärischer Zirkulation und Extremwetterereignissen beschäftigt. «Das bedeutet, dass sich die Wetterlagen langsamer nach Europa bewegen und in geringerer Frequenz Europa erreichen.»

Ist es ein Zufall, dass die extremsten Sommerwetterlagen in den vergangenen Jahrzehnten aufgetreten sind?

Prof. Michael E. Mann, Pennsylvania State University

Weil im Sommer 2018 der Jetstream besonders weit zwischen Nord und Süd mäanderte, entstanden Extremwetterlagen auf der ganzen Nordhalbkugel. Während sich in Westeuropa, im Westen der USA und in Russland eine Hitzewelle einnistete, kam es gleichzeitig in Osteuropa und Japan zu heftigen Überschwemmungen.

Temperaturdifferenz schwindet mit den Eismassen

Ein mittelalter Mann mit Halbglatze schaut in die Kamera.
Der Klimaforscher Michael E. Mann Foto: Joshua Yospyn

«Ist es ein Zufall, dass die extremsten Sommerwetterlagen in den vergangenen Jahrzehnten aufgetreten sind?», fragt der bekannte US-Atmosphärenforscher Michael E. Mann von der Pennsylvania State University und gibt selbst die Antwort: «Meine Kollegen und ich denken nicht.»

Die abnorme Verhaltensweise des Jetstreams ist laut Atmosphärenforschern eine Folge des Klimawandels in den höheren Breitengraden: Die Erderwärmung sorgt dafür, dass das Meereis in der Arktis schmilzt, ebenso der Permafrostboden und das Grönlandeis. Je stärker das Eis aber taut, desto mehr verstärkt sich dieser Prozess selbst. Denn je mehr der hellen Eisflächen verschwinden und dafür dunklere Oberflächen zum Vorschein treten lassen, desto mehr Sonnenlicht können die Böden und die Meeresoberfläche absorbieren. Die Folge: Die Erwärmung schreitet noch schneller voran.

Die Arktis erwärmt sich – das belegen Temperaturmessungen – etwa dreimal so schnell wie der Rest des Planeten. Die Klimaforscher sprechen hier von der sogenannten arktischen Verstärkung. Die jedoch hat zur Folge, dass sich vor allem im Sommer die Temperaturen zwischen Arktis und Äquator angleichen und der Jetstream schwächer wird, manchmal sogar geradezu «einschläft». Dadurch können sich Wettermuster einnisten und über Wochen andauern, schlussfolgern Klimaforscher. Aus ein paar heißen Tagen wird eine Hitzewelle oder Dürre. Aus ein paar Regentagen wird Dauerregen mit heftigen Überschwemmungen.

Stabile Wettermuster begünstigen Extremwetterlagen

«Wir beobachten, dass solche Ereignisse seit etwa dem Jahr 2000 stark zunehmen», sagt Coumou. «Und das ist sehr interessant, denn genau seit dieser Zeit schlägt die Erwärmung der Arktis so richtig durch.» Michael E. Mann wollte nun wissen, wie dieses Phänomen unser Wetter in Zukunft verändern würde. Er und seine Kollegen gingen davon aus, dass sich diese Wettermuster immer häufiger lokal festsetzen und dadurch Extremwetterereignisse befördern würden – schließlich dürfte sich die Arktis weiter erwärmen.

So geht eine UN-Studie aus dem März 2019, die in der Fachwelt für viel Wirbel gesorgt hat, davon aus, dass die Arktis bis zur Mitte des Jahrhunderts um weitere drei bis fünf Grad wärmer werden könnte, selbst wenn wir die Ziele im Pariser Klimaabkommen einhalten. Mit anderen Worten: Egal, was wir tun: Die Aufheizung der Arktis lässt sich nicht mehr aufhalten.

Sehr abstrakt wirkendes Foto mit grünlichen großen und kleinen Flecken, die aussehen wie Blasen.
Teiche, die durch auftauenden Permafrost auf der Jamal-Halbinsel im Nordwesten Sibiriens entstanden sind. Aufgenommen von der Raumfahrtmission «Sentinel-2» des «Copernicus-Programms» der EU. Foto: ESA

Neue Simulationen zeichnen ein differenzierteres Bild

Mann bediente sich zur Modellierung von Simulationen der Erkenntnisse der Quantenmechanik. Was auf kleinster Ebene passiert, ist für den Klimatologen eine Analogie für Prozesse, die sich auf dem ganzen Planeten abspielen: Ein Elektron würde sich gar nicht so anders verhalten wie eine atmosphärische Welle – es verhält sich gleichzeitig wie ein Teilchen und wie eine Welle –, und zwar in Form einer Sinuskurve. Ist das Elektron von Wänden aus starker Energie umgeben, ist es gefangen und prallt zwischen ihnen hin und her. Genauso sei es bei den planetarischen Wellen: Die Atmosphäre fungiert als eine Art Leitplanke für stehende planetare Wellen und sperrt sie auf vergleichbare Weise ebenfalls ein. Das führt dazu, dass die Amplitude der Welle wächst, als würde man, um beim Einstiegsvergleich zu bleiben, das Seil immer schneller hoch und runter peitschen. Die Folge: Extremwetterereignisse.

Auf dieser Basis ließ Mann Computersimulationen durchlaufen. Das Ergebnis, das im Oktober 2018 im Fachblatt «Science Advances» erschien, war auch für ihn selbst eine Überraschung: In den kommenden Jahren dürften die Extremwetter zumindest nicht häufiger werden. Sie pendeln sich den Computermodellen zufolge auf derzeitigem Niveau ein – zumindest bis zur Jahrhundertmitte.

Was hemmt den Klimawandel?

Wie aber passt das mit der viel zitierten UN-Studie zusammen, die ja eine massive Erwärmung der Arktis vorhersagt, egal, was wir in Zukunft tun werden? Mann hält diese Prognose für unrealistisch. Die Studie habe einem Faktencheck nicht standhalten können. «Die Zahlen unterstellen, dass keinerlei weitere Anstrengungen unternommen werden, um CO2-Emissionen zu senken», so Mann. Sie würde von einem Szenario ausgehen, das für das Ende des Jahrhunderts eine Erwärmung von etwa drei Grad vorsieht, also dem Pfad folgend, auf dem wir uns derzeit bewegen, nicht dem Pfad, den das Pariser Klimaabkommen vorsieht.

Würde sich die Welt aber tatsächlich an das Pariser Klimaabkommen halten, sei bis zur Jahrhundertmitte «nur» mit einer Erwärmung der Arktis zwischen 0,8 und 4,5 Grad Celsius auszugehen. Das wäre zwar immer noch eine massive Erwärmung, allerdings unterscheide sich diese doch erheblich von der Erwärmung im Drei-Grad-Szenario. Mit anderen Worten: Es ist nicht egal, was wir tun – je mehr wir tun, desto weniger wird sich die Arktis erwärmen. «Der Punkt ist also, dass wir die CO2-Emissionen reduzieren müssen, um solch ein Erwärmungsniveau zu vermeiden», so Mann.

Nichtsdestotrotz müsste sich aber die Arktis dennoch stärker erwärmen als der Rest der Welt und das Temperaturgefälle damit weiter abnehmen – und die Extremwetter sich verstärken. Dass unser Wetter – zumindest durch den Jetstream – in den nächsten drei Jahrzehnten kaum chaotischer werden dürfte, führt Michael E. Mann ausgerechnet auf einen der größten Verursacher des Klimawandels zurück: die Kohlekraftwerke. Neben Kohlendioxid stoßen sie nämlich auch massiv Schwefeldioxid aus – ein Gas, das zur ­Bildung von Kleinstpartikeln beiträgt, die etwa zweitausend Mal kleiner sind als der Punkt am Ende dieses Satzes.

Schwefelfilter bremsen den Klimawandel kurzfristig aus

Weil das Gas sauren Regen verursacht, rüstete der Westen ab den 1950er- bis in die 1970er-Jahre Kraftwerke mit Filteranlagen aus. Das, so glauben Klimaforscher heute, beschleunigte aber die Erderwärmung seit den 1970er-Jahren massiv. Denn in großer Zahl können die sogenannten Aerosole Sonnenstrahlen abschirmen und damit die Erde abkühlen. Die bittere Ironie lautet: Je sauberer die Kraftwerke, desto ungehinderter kann die Sonne angreifen.

Auch China und zahlreiche Schwellenländer rüsten ihre Kraftwerke angesichts der dramatischen Luftbelastung inzwischen mit Filteranlagen aus. Mann berechnete, was das für die Zukunft bedeutet: Besonders in den mittleren Breiten dürfte die Erwärmung massiv zunehmen. So stark, dass sie auf einmal Schritt hält mit der Erwärmung in der Arktis. Die Folge: Das Temperaturgefälle wäre ein Stück weit wiederhergestellt. Und der Jetstream würde sich eine Zeit lang zumindest auf derzeitigem Niveau stabilisieren. «Das aber ist ein Faustischer Pakt», schreibt Mann.

Den kurzfristigen Minderungseffekt gibt es nur zu größeren Langzeitkosten.

Prof. Michael E. Mann, Pennsylvania State University

Etwa ab Mitte des 21. Jahrhunderts dürfte das System der Höhenwinde völlig aus dem Ruder laufen und werden vermutlich Extremwetter in hoher Frequenz und massiver Stärke auftreten. Zu diesem Zeitpunkt dürften die Aerosole nämlich mehr oder weniger aus der Atmosphäre verschwunden sein, weshalb sich die arktische Verstärkung wieder voll entfalten könne, der Jetstream abschwäche und Megadürren und Überflutungen zunehmen würden.

Mann rechnet damit, dass das vor allem die ­mittleren Breiten betreffen wird – und damit die Regionen, in denen die meisten Menschen auf der Erde leben und die größten Getreidefelder gedeihen. «Wir sehen bereits jetzt eine Verschärfung extremer Wetterereignisse, wie wir sie im Sommers 2018 beobachten konnten», erklärt Michael E. Mann gegenüber dem EWS-Energiewendemagazin. Und das, obwohl der Klimawandel gerade erst anfängt, den Jetstream aus der Bahn zu werfen – und damit Wetter­lagen noch auf vergleichsweise niedrigem Niveau extremer macht. «Es wird in Zukunft noch sehr viel schlimmer werden, wenn wir die Kohlendioxid-Emissionen nicht senken.»

 

Orangerote Flammen erfassen Bäume.
Verheerende Waldbrände häufen sich, wie hier in Kalifornien. Foto: Kari Greer / Forest Service
Rauschwaden mit orangenem Feuerschein über der Akropolis
Ende Juli 2018: Hitzewellen und Dürren haben große Teile Europas im Griff. Waldbrände in der Nähe Athens Griechenland bedrohen gar die Akropolis. Foto: Alkis Konstantinidis / Reuters
Luftbild einer vom Hochwasser umspülten Landschaft
Zeitgleich zur Hitzewelle in Europa kommt es im Nordosten der USA zu heftigen Überschwemmungen. Keine zwei Monate später sorgt Hurrikan Florence dafür, dass die Region erneut unter Wasser gesetzt wird. Foto: Rodrigo Gutierrez / Reuters

Einziges Gegenmittel: die Begrenzung der Erderwärmung

Dim Coumou, der an der Studie beteiligt war, hält Manns Prognose aus physikalischer Sicht für durchaus plausibel. Allerdings weist er auf Unsicherheiten in den Modellen hin. Und zwar wegen des schwer einschätzbaren Einflusses von Aerosolen auf die Wolkenbildung, der die Klimaforscher noch immer vor Rätsel stellt. Das Problem: Die Kleinstpartikel und die Wolken bilden sich auf kleinen Räumen – zu winzig, als dass die Klimamodelle sie adäquat abbilden könnten; schließlich arbeiten die besten von ihnen mit einer Auflösung von 25 Kilometern. «Die Unsicherheiten sind noch zu groß, um exakte Vorhersagen für die nächsten 20, 30 Jahre zu treffen», sagt Coumou. 
«Es gibt noch einige Fragezeichen.»

Aber selbst wenn wir noch ein paar Jahre Aufschub bekommen, bis der Jetstream vollends verrückt spielt, bleibt ja noch die direkte Klimawirkung der Erwärmung. Und die wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Das bedeutet extreme Hitze und Dürren, Starkregen und Überflutungen. Obendrauf kommen dann irgendwann 
– sollte die Menschheit nicht rasch ihren CO2-Ausstoß senken – die Folgen durch einen irrlichternden Jetstream, der all diese Extremereignisse noch extremer macht. Um die zu erwartende Katastrophe aufzuhalten, gebe es, so Mann, nur ein Gegenmittel: die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen.

 

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10. September 2019 | Energiewende-Magazin