«Das kapitalistische System hat sich verselbstständigt»
Der Ökonom Mathias Binswanger im Gespräch mit Maike Brzoska
Politiker verfallen bei stagnierendem Wachstum in Panik. Kein Wunder, meint Mathias Binswanger. Denn unsere heutige Wirtschaft ist zwanghaft auf Wachstum angewiesen.
Unsere Umwelt- und Klimaprobleme sind immens. Und sie werden trotz aller Bemühungen, die Wirtschaft, also Produktion und Konsum, ressourcenschonender zu gestalten, immer größer. Deshalb fordern immer mehr Wissenschaftler, dass wir weniger konsumieren, weniger produzieren – und damit weniger wachsen sollten. Aber wie könnte der Übergang in ein solches Wirtschaftssystem gelingen?
An dieser Stelle setzt der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger an und fügt der Debatte um eine Postwachstumsökonomie einen wichtigen Aspekt hinzu: Er meint, wir könnten nicht einfach aufhören zu wachsen, denn unserem heutigen Wirtschaftssystem wohne ein Wachstumszwang inne. Der habe über viele Jahrzehnte gut funktioniert und uns enormen materiellen Wohlstand beschert. Nun bringe er allerdings zunehmend Probleme mit sich, die sich aber entschärfen ließen.
Die Erforschung des Wachstumszwangs ist bei Binswangers Familie ein generationenübergreifendes Projekt. Auch Mathias’ Vater Hans Christoph Binswanger beschäftigte das Thema. Er begann damit in den 1970er-Jahren, nachdem der «Club of Rome» den Bericht «Die Grenzen des Wachstums» veröffentlicht hatte. Seit fast 50 Jahren gibt es die Kritik am Wirtschaftswachstum – und auch den Einwand der Binswangers, dass Wachstum im Kapitalismus systemimmanent ist. Mathias Binswanger lehrt als Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und forscht seit vielen Jahren zu den Themen Geldwirtschaft und Umweltökonomie.
Herr Binswanger, wir sehen im Moment, dass durch die Corona-Pandemie unser Wirtschaftswachstum massiv eingebrochen ist und gleichzeitig Umwelt und Klima profitieren. Wäre aktuell ein guter Zeitpunkt für den Einstieg in eine umweltfreundlichere Wirtschaft, die nicht mehr wächst?
Das ist kaum der richtige Zeitpunkt. Wir haben jetzt einen kurzfristigen Einbruch und der wirkt sich positiv auf die Umwelt aus, weil die Aktivitäten heruntergefahren werden. Aber die Politik tut ja gerade alles, um das Wachstum wieder anzukurbeln, und das aus gutem Grund: weil es für eine Wirtschaft eben verheerend ist, wenn das Wachstum über längere Zeit ausfällt. Ein, zwei Jahre kann ein Land das überstehen, danach geraten Wirtschaften in eine Abwärtsspirale.
Wie genau sieht so eine Abwärtsspirale aus?
Es kann damit anfangen, dass einige Unternehmen keinen Gewinn mehr erwirtschaften und Konkurs machen. Dadurch sinkt die Nachfrage nach Vorleistungen von Lieferanten. Deshalb geraten auch andere Unternehmen in Schwierigkeiten und gehen vielleicht pleite. Die Arbeitslosigkeit steigt, der Konsum geht zurück – und das führt zu noch mehr Pleiten und Entlassungen. So kommen wir in diese Abwärtsspirale hinein. Irgendwann wird es auch für die Sozialkassen schwierig, weil immer mehr Menschen Unterstützung brauchen, aber gleichzeitig weniger eingezahlt wird.
Gibt es Beispiele, wo das passiert ist?
Es gibt tatsächlich nur ganz wenige Länder, deren Wirtschaft über längere Zeit nicht gewachsen ist. Aber ein Beispiel gibt es: Griechenland. Da ist die Wirtschaft nach der Finanzkrise sechs Jahre lang hintereinander geschrumpft. Am Ende lag die Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent und etwa ein Drittel aller Unternehmen ist vom Markt verschwunden. Da konnte man so eine Abwärtsspirale beobachten.
Das klingt, als wären wir zum Wachstum verdammt.
So wie unsere Wirtschaft heute ausgerichtet ist, müssen wir weiterwachsen. Weil so eine Ökonomie eben dynamisch verläuft und alles Rückwirkungen hat. In der Summe geht es dann entweder nach oben oder nach unten. Der Wachstumszwang ist unserer Wirtschaft eingewoben.
Seit wann gibt es diesen Zwang zu wachsen?
Das hat vor etwa 200 Jahren mit der industriellen Revolution begonnen. Seitdem wurde Wachstum zum Dauerzustand unserer Wirtschaft. Das bedeutet, dass wir immer mehr produzieren und gleichzeitig auch immer mehr konsumieren. Lange Zeit war dieses Wachstum sehr willkommen, denn es hat uns enormen materiellen Wohlstand beschert – nun bringt es aber immer mehr Schwierigkeiten mit sich. Das ist das Paradoxe: Wir bekommen durch das Wachstum große Umweltprobleme, aber wenn wir aufhören würden zu wachsen, rutschen wir in diese Abwärtsspirale. Es geht also nicht ohne Wachstum. Das kapitalistische System hat sich verselbstständigt: Es ist wie eine Maschine, die immer weiterläuft. Wobei hinter diesem Wachstumszwang keine bösen Kapitalisten oder irgendwelche konkreten Personen stecken. Es ist das System selbst, das uns dominiert.
Wir sprechen hier also von einem System, das seine eigenen ökologischen Grundlagen zerstört. Immer mehr Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass wir unsere Umwelt- und Klimaprobleme nicht in den Griff bekommen werden, solange die Wirtschaft immer weiter wächst. Sie fordern deshalb, dass wir weniger wachsen.
Das ist ja nachvollziehbar, weil das Wachstum die wesentliche Ursache für diese Umweltprobleme darstellt. Aber diese Postwachstumskonzepte ignorieren, wie unsere Wirtschaft funktioniert.
Glauben Sie, wir können so weitermachen? Davon scheinen ja viele Regierungen auszugehen: Sie setzen dabei auf grünes Wachstum, auch die EU mit ihrem «Green Deal». Denken Sie, wir können durch Innovationen und ressourcenschonende Technologien wirklich unsere Probleme lösen?
Ja, das ist jetzt die große neue Vision [lacht]. Dass man eine Wirtschaft gestaltet, die die Umwelt nicht mehr belastet. Weil wir dann alle mit Elektroautos rumfahren und nur noch Strom aus Erneuerbaren verbrauchen. Das ist typisch für kapitalistische Gesellschaften. Sie brauchen diese positiven Visionen, weil sonst niemand mehr investieren würde.
Das hört sich jetzt nicht so an, als ob Sie das für eine Lösung hielten.
Ich denke, wir brauchen beides. Auf der einen Seite muss unser Wachstum ressourcenschonender werden, da gibt es noch einen erheblichen Spielraum im Vergleich zu heute. Man kann schon auf Elektroautos oder Solarheizungen umstellen, aber die verbrauchen ja auch Ressourcen. Der ökologische Fußabdruck eines Elektroautos ist zwar besser als bei Autos mit Verbrennungsmotoren, aber er liegt natürlich nicht bei null. Deshalb müssen wir auf der anderen Seite das Wachstum mäßigen, weil unsere Wirtschaft auch mit weniger Wachstum funktioniert.
Wie könnte das gehen? Sie haben den Wachstumszwang ja gerade eindrücklich beschrieben.
Man kann sich anschauen, woher der Wachstumszwang kommt, wo er am stärksten ist. Und da sehen wir, dass er stark davon abhängt, wie Unternehmen organisiert sind. Bei uns dominieren heute Aktiengesellschaften. Und die sind ganz extrem auf Wachstum ausgerichtet, weil ihre Aktien – und damit der Unternehmenswert – an der Börse gehandelt werden. Der Wert dieser Aktien ist von den zukünftigen Gewinnerwartungen abhängig. Wenn jetzt ein Unternehmen sagt, wir maximieren ab sofort nicht mehr unseren Gewinn, sondern achten vor allem auf unseren Ressourcenverbrauch, dann sinkt sofort der Wert der Aktien. Und dann wird das Unternehmen schnell zu einem Übernahmekandidaten. Da kommen dann Investoren, die sagen, wir können mehr aus diesem Unternehmen herausholen.
Wobei viele Unternehmen ja heute eine Abteilung für «Corporate Social Responsibility» haben, die sich um die gesellschaftliche Verantwortung kümmert.
Aber das ist ja nur aufgesetzt und dient in erster Linie dem Image. Solang die Aktien eines Unternehmens an der Börse gehandelt werden, steht es in direkter Konkurrenz zu anderen Firmen. Deshalb kann das Management gar nicht anders, als auf den Gewinn zu fokussieren. Es gibt einen permanenten Druck, den Shareholder-Value zu maximieren.
Wie könnte man den Konkurrenzdruck entschärfen?
Man könnte beispielsweise die Laufzeit von Aktien begrenzen. Dann wäre ein Wertpapier zum Beispiel 20 Jahre gültig und würde danach zum Nennwert zurückgekauft, also zu dem Preis, zu dem es ausgegeben wurde. Die Aktien wären weiterhin handelbar und es würde ein Teil der Gewinne in Form von Dividenden ausgezahlt. Aber weil die Aktien nicht mehr stetig an Wert gewinnen können, wäre die Spekulation erheblich gebremst. Das würde den Druck, immer mehr Wachstums- und Gewinnerwartungen zu generieren, mindern.
Aktiengesellschaften gehören sicherlich zu den Taktgebern unserer Wirtschaft. Aber genügt es, nur ein paar Börsenregeln zu ändern, um unsere Probleme zu lösen?
Vermutlich nicht. Aktiengesellschaften waren lange Zeit ein Erfolgsmodell. Sie haben uns immer mehr Konsum ermöglicht, viel materiellen Wohlstand beschert. Aber in einer Gesellschaft, wo Wachstum oder steigende Konsummöglichkeiten nicht mehr das vorrangige Ziel sind, kann man den Sinn von börsennotierten Aktiengesellschaften hinterfragen.
Woran denken Sie dabei konkret?
An Genossenschaften oder Stiftungen beispielsweise: Die können als Unternehmenszweck auch andere Ziele festschreiben. Bei beiden Organisationsformen ist der Druck, Gewinne zu machen, sehr viel geringer. Stiftungen begnügen sich in der Regel mit niedrigen Ausschüttungen, der Großteil der Erträge bleibt im Unternehmen. Das erleichtert die Finanzierung langfristiger Investitionen. Ebenso bei Genossenschaften. Da kann man seinen Anteil im Vergleich zu einer Aktie auch nicht so einfach verkaufen. Man muss erst jemanden finden, der den Anteil übernimmt. Da gibt es also gewisse Bremsen, die eingebaut sind.
Könnte man eine ganze Wirtschaft über Genossenschaften organisieren?
Man könnte jedenfalls sehr viel mehr haben als heute. Vor allem im kleineren, regionalen Rahmen machen Genossenschaften Sinn. Beim Anbau und Vertrieb von Nahrungsmitteln etwa, das sollten wir ohnehin viel stärker regional organisieren. Aber diese Organisationsform stößt irgendwann an ihre Grenzen. Sehr große Genossenschaften, wie etwa Migros oder Raiffeisen, erinnern in vieler Hinsicht eher an Aktiengesellschaften – auch weil die Chefetage sich von den einfachen Genossenschaftlern weit entfernt hat. Da entstehen dann Governance-Probleme bei der Frage, wie Mitarbeiter und auch Vorgesetzte geführt und kontrolliert werden sollen. Für größere, international tätige Konzerne müssen wir deshalb vielleicht ganz neue Ideen entwickeln. Welche Unternehmensform hilft am besten dabei, unsere Umwelt- und Klimaprobleme in den Griff zu bekommen? Meines Wissens wird diese Frage in den Wirtschaftswissenschaften noch gar nicht erörtert.
Die Corona-Pandemie zwingt uns alle ja gerade zum Umdenken. Was können wir denn aus der Krise lernen für eine Wirtschaft, die weniger wachsen soll?
Was wir auf jeden Fall beibehalten sollten, ist die Arbeit im Homeoffice und weniger zu fliegen, vor allem auf der Kurzstrecke. Wenn wir den Pendlerverkehr zu einem guten Teil vermeiden könnten, dann wäre das schon ein wesentlicher Beitrag. Die aktuelle Krise zeigt zweierlei: wie schwierig es für unsere heutige Wirtschaft ist, wenn das Wachstum ausfällt – aber auch, wie flexibel wir sind, wenn es nötig ist. Wir können Lösungen finden, wenn wir wollen.
Und was müsste langfristig passieren?
Längerfristig müssen wir weg von diesem Ziel des maximalen Wachstums. Man sollte sich die Geldpolitik als Vorbild nehmen. Wenn das Inflationsrisiko zu groß wird, erlauben wir der Zentralbank ja auch, das Wachstum zu bremsen. Dann setzt die Zentralbank die Zinsen hoch, weil es sonst zu unerwünschten Nebenwirkungen der Geldentwertung kommt. Dieses Denken könnten wir auf die Wirtschaftspolitik übertragen.
Regierungen, die darauf hinarbeiten, dass wir künftig weniger wachsen – im Moment kann ich mir das noch nicht so richtig vorstellen.
Dafür wäre in der Tat ein Paradigmenwechsel nötig. Als Gesellschaft müssen wir verstehen, dass die ständige Zunahme an materiellem Wohlstand wichtige Probleme nicht mehr löst, sondern selbst zum Problem geworden ist.
Mathias Binswanger
Mathias Binswanger, 1962 in St. Gallen geboren, studierte zunächst Chemie und wechselte nach dem Vordiplom zu den Wirtschaftswissenschaften an die Universität St. Gallen. Seit 1998 ist er Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich Makroökonomie, Finanzmarkttheorie und Umweltökonomie. 2019 erschien sein Buch «Der Wachstumszwang: Warum die Volkswirtschaft immer weiter wachsen muss, selbst wenn wir genug haben».
-
«Kein System wächst endlos»
Kate Raworth bricht mit der gängigen Wirtschaftslehre. Ihre «Donut-Ökonomie» vereint die Bedürfnisse der Menschen und die natürlichen Grenzen des Planeten.
-
«Es bedarf systemischer Veränderung»
Unsere Wirtschafts- und Lebensweise beruht auf Übernutzung und Ausbeutung. Ulrich Brand beschreibt sie als «imperial» – und will sie auf neue Füße stellen.