Glas, das Energie erzeugt
Ein Bericht von Sonja Tautermann
Den Grätzel-Effekt vom Labor in die Serie zu bringen, ist eine Herausforderung. In Graz ist gerade das flächengrößte Projekt weltweit in Bau.
Von der Entdeckung eines Wirkungsprinzips bis hin zur industriellen Reife ist es meist ein weiter Weg. Bereits in den späten 1980er-Jahren hatte Michael Grätzel mit seinen Grätzel-Zellen für Aufsehen gesorgt: Seine künstliche Nachbildung der Photosynthese im Labor erzeugte tatsächlich Strom.
Die Funktionsweise: Zwischen zwei Glaselektroden wird eine Beschichtung aus Titandioxid und einem Farbstoff aufgebracht. Das Sonnenlicht sorgt dafür, dass der Farbstoff Elektronen freisetzt. Diese werden vom Titandioxid eingefangen und beginnen, sich von einer Elektrode zur anderen zu bewegen. Die Bewegung führt zur Erzeugung von elektrischem Strom. Mit der Grätzel-Zelle steht ein neuartiger Typ Solarzellen zur Verfügung, der nicht auf der Basis von Silizium arbeitet – und noch dazu als farbiges Glaselement vielfältig nutzbar ist.
Die Grätzel-Zelle wird zu Energieglas
Jahrzehnte später kommt dieses Prinzip endlich zur Anwendung. «Die Grätzel-Zelle ist die kleinste Einheit des Funktionsprinzips der technischen Photosynthese. Von den Erkenntnissen der Grundlagenforschung bis zur Anwendung in Form eines Produktes dauert es grundsätzlich lange. Wissenschafter sind keine CEOs», sagt Dr. Mario J. Müller. Er ist Forschungsleiter von SFL Technologies, einem der wenigen Unternehmen, die sich mit der praktischen Umsetzung des Grätzel-Effekts beschäftigen.
Die Antwort des in Stallhofen, unweit von Graz ansässigen Unternehmens ist «Energieglas»: «Das Energieglas ist die für den Endanwender entwickelte Gesamtlösung, etwa zur Integration in ein Fenster oder eine Fassade.» Mit Grätzel-Zellen lassen sich unter Laborbedingungen derzeit Wirkungsgrade von ca. bis zu 15 Prozent erzeugen. Zum Vergleich: Blätter aus der Natur haben zwei Prozent Effizienz.
In der Praxis sieht die Sache allerdings anders aus. Das Energieglas schafft in der industriellen Fertigung aktuell vier Prozent Energieeffizienz bei 60 Prozent Transparenz. «Der Transparenzwert ist eine wichtige Größe, da das Energieglas ja zwei Funktionen vereint: Glas und Energieproduktion. Würden Sie die Transparenz wie bei Kristallinen auf null Prozent herabsetzen, dann hätte das System zehn Prozent Effektivität – das wollen wir aber nicht!», so der Forschungsleiter.
Zwar ließen sich auch Werte von zwölf Prozent erreichen, allerdings nur mit sehr teuren Materialien. Bei kleinen Stückzahlen sind die Preise derzeit noch hoch und liegen bei etwa 1.000 € pro Quadratmeter. Das werde sich aber bald ändern, so Müller. Zudem kann das Energieglas auch als Sicherheits- oder Isolierglas zum Einsatz kommen, kann grundsätzlich für jedes Projekt maßgeschneidert werden.
«Smart City»: Jetzt ist Fläche gefragt
Das flächenmäßig größte Projekt befindet sich aktuell in Graz im Rahmen der «Smart City» im Bau. «Das ist ein neues, nachhaltiges Stadtteilzentrum, in dem alle Bedürfnisse des täglichen Bedarfs fußläufig erreichbar sind und möglichst 100 Prozent der Energie C02-frei vor Ort erzeugt oder CO2-neutral zugekauft werden», sagt Markus Pernthaler, Architekt und Leiter des Projekts.
Das Energieglas kommt dabei im Science Tower und in der Energiezentrale mit «Smart-Grid-Energienetz» für die Versorgung der Gebäude zum Einsatz – insgesamt knapp über 2.000 m2 Energieglas: «Das ist Weltrekord und wurde in dieser Größenordnung noch nie verbaut», so Müller. Besonders die Materialien und die Produktionsprozesse stellen eine Herausforderung dar. «Vor allem die Verfügbarkeit der Materialien wurde überschätzt. Es ist eine andere Größenordnung, wenn Sie nur Labormuster von wenigen Quadratzentimetern brauchen oder, wie jetzt, in einer Produktionslinie für Tausende Quadratmetern. Deshalb wurde neben der reinen Produktionslinie auch eine chemische Produktion aufgebaut, die die Basismaterialien Titandioxid, Farbstoff, Elektrolyt und andere mehr bereitstellen kann.»
Herstellung von Energieglas
Nicht mit Photovoltaik vergleichbar
In der Fassade des 60 Meter hohen Science Towers spielt das Energie erzeugende Glas eine tragende Rolle. Ob denn eine Energieeffizienz von vier Prozent aus Architektensicht ausreichend sei? «Beim derzeitigen Stand der Entwicklung sehe ich keine Notwendigkeit von zehn Prozent oder mehr, weil dieses Glas ja als Fassade wirkt. Die Energiegewinnung ist ein zusätzlicher Effekt. Man darf es deswegen nicht mit konventioneller Photovoltaik vergleichen. Ich kann das Glas ganz anders einsetzen», so Pernthaler.
Der Vorteil: Die transparente Scheibe fängt von beiden Seiten her Sonnenstrahlung ein. Aufgestellt kann sie am Vormittag Licht von der Ostseite, am Nachmittag vom Westen her ernten. «Wenn ich die Scheibe vertikal aufs Dach stelle, bleibt kein Schnee darauf liegen, das ist ein sehr großer Vorteil. Und auch, dass das Glas schon bei sehr geringen Lichtintensitäten eine sehr hohe Leistung bringt. Klar bringe ich auch nur den Prozentsatz an Energie heraus, der da ist und eine geringe Lichtintensität heißt eben wenig Energie, aber sie arbeitet sofort auf über 80 Prozent der vollen Energieleistung – und das ist ein Vorteil in Übergangszeiten. Konventionelle Photovoltaik richtet man immer nach Süden aus, um möglichst viel Sonnenenergie zu haben. Die Grätzel-Zellen werden stehend Nord-Süd ausgerichtet und arbeiten praktisch von den Stunden her wesentlich länger, weil die konventionelle PV ohne direkte Sonneneinstrahlung nicht viel bringt.»
Der Turm dient im Rahmen des geförderten Demonstrationsprojektes nicht nur als städtebauliches Wahrzeichen, sondern auch dazu, neue Technologien alltagstauglich zu machen. «In einem ersten Schritt werden 1.200 Paneele eingebaut, die Gleichstrom erzeugen, den wir im Haus verwenden. Der Science Tower wird danach aber weiterhin als Labor dienen, es werden an der Fassade möglicherweise neue Paneele ausprobiert», sagt der Architekt.
Ich bevorzuge integrierte Technologien, die Teil des Gebäudes werden.
Der Einsatz des Energieglases macht Teile des Towers gar zum Gewächshaus. Denn das Energieglas filtert das Sonnenlicht so, dass es sich positiv auf bestimmte Pflanzenkulturen wie z.B. Tomaten auswirkt. Die Eröffnung des Forschungsturms ist für den Juni 2017 vorgesehen. Einziehen werden in den Science Tower neben der TU Graz und Joanneum Research auch weitere Forschungseinrichtungen und kleinere private Firmen, die im Bereich nachhaltiger Strategien tätig sind.
Im Science Tower kommt das Energieglas in rotbrauner Farbe zur Anwendung. Laut Müller gibt es das Glas mittlerweile aber auch in Grün, Olive, Orange und bald in Blau. Der Farbeffekt lässt sich architektonisch nutzen: «Applizierte PV-Elemente auf Fassaden sind ja nicht unbedingt ästhetisch ansprechend. Doch mit diesen Grätzel-Zellen-Elementen kann ich auch die Architektur entsprechend unterstützen, man kann damit gestalten. Ich bevorzuge integrierte Technologien, die Teil des Gebäudes werden», so Pernthaler.
Die nachhaltige Denkweise des Architekten spiegelt sich auch in der «Smart City» wieder: «Ich bin der Meinung, dass jedes Gebäude einen Gutteil der Energie selbst erzeugen soll – sei es durch Geothermie, Photovoltaik, Solarthermie oder was auch immer.»
Smarte Technik für ein energieeffizientes Gebäude
Auch im Science Tower setzt man zur Energieerzeugung nicht nur auf Energieglas: Neben Windturbinen gibt es auch eine Geothermieanlage fürs Heizen im Winter bzw. Kühlen im Sommer. Innovativ und nachhaltig ist auch der Sonnenschutz: «Wir haben in zehn Hauptgeschossen 320 Fenster. Ursprünglich war ein motorgesteuerter Sonnenschutz geplant. Doch nun hängen wir mehrere Sonnenschutzsysteme zusammen und lassen sie mit der Sonne um den Turm fahren – so brauchen wie nur zehn Motoren statt 320. Die Sonnenschutzelemente sind keine Jalousien, sondern Photovoltaikelemente, die in einer gewissen Distanz vor die Fenster gesetzt werden, sodass seitlich natürliches Licht hereinkommt, die Beschattung gesichert ist und die Sonne nicht direkt in den Büroräumen steht.»
Und auch die gewonnene Energie durch das Energieglas wird «smart» genutzt: «Wenn ein Gebäude wie der Science Tower am Wochenende Energie produziert und nicht selber braucht – aber daneben ein Wohnhaus steht, das auch am Samstag und Sonntag Energie benötigt, kann man dies nutzen», so der Architekt.
Erste realisierte Projekte
Potenzial des Energieglases
Doch längst sind noch gar nicht alle Einsatzmöglichkeiten des Energieglases ausgeschöpft. «Was wir wirklich damit möchten, ist, Glasflächen zu substituieren – sowohl Fenster und Fassaden als auch Innenraumanwendung wie etwa Tischplatten oder Möbel. Wir machen mit studentischen Gruppen kleine Wettbewerbe: Wenn es Energieglas wäre, was könnte ich damit tun? Man braucht kein Kabel mehr, die unerschöpfliche Batterie ist da – und schön!», so Müller. Für ihn ist das Potenzial des Energieglases klar: «Alle Glasflächen der Welt sollten Energieglasfunktionen bekommen! Energieglas wird so essenziell billig sein können, dass in Zukunft wahrscheinlich gar nicht darüber nachgedacht wird, ob man Energieglas oder Normalglas verwendet.»
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Der Chemiker, das Glas und die Photosynthese
Vor knapp 25 Jahren hat Michael Grätzel sein alternatives Photovoltaik-System erfunden – nun könnte es vor dem Durchbruch stehen. Ein Besuch bei dem Chemiker, der für viele als Anwärter auf den Chemie-Nobelpreis gilt.