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«Eine Idee, die in der Luft lag»

Die Volks- und Sozialwissenschaftlerin Dr. Ingrid Schmale im Gespräch mit Tom Jost

Friedrich Wilhelm Raiffeisens Genossenschaftsidee wurzelt in einer Bewegung, die einst ganz Europa erfasste – und die heute weltweit Wirkung entfaltet.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der am 30. März 2018 seinen 200. Geburtstag feiern würde, war einer der maßgeblichen Anstifter und Vordenker der Genossenschaftsbewegung in Deutschland und damit Teil einer starken europäischen Entwicklung. Auch auf sein Wirken blickt die genossenschaftswissenschaftliche Forschung der Universität zu Köln, die seit 1926 ein spezielles Seminar für Genossenschaftswesen unterhält. Hier forscht und lehrt man umfassend zum genossenschaftlichen Wirtschaften – von der Erfolgsermittlung bis zur Unternehmenskultur. Wie sich der Genossenschaftsgedanke europa- und weltweit entwickelt hat, ist ein weiterer Gegenstand der Forschung. Unsere Interviewpartnerin Dr. Ingrid Schmale forscht und unterrichtet seit fast 30 Jahren am Kölner Seminar für Genossenschaftswesen.

 

Frau Schmale, 2016 hat die UNESCO die Genossenschaftsidee als ersten deutschen Beitrag in die «Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit» aufgenommen. Womit hat man sich diesen Ritterschlag verdient?

Die Genossenschaft ist eben nicht nur eine Form des Wirtschaftens, sondern beinhaltet gerade aus Raiffeisens Sicht sehr deutlich soziale und kulturelle Aspekte. Vor allem bei den heutigen Neugründungen spielt zudem das bürgerschaftliche Engagement eine ganz große Rolle. Das und die weltweite Verbreitung der Genossenschaftsidee haben sicherlich dazu beigetragen.

Kann man sagen, dass mit der Anerkennung durch die UNESCO ein gewisser Wertekanon gewürdigt wurde?

Ganz gewiss. Genossenschaften verkörpern bestimmte Werte oder besser Organisationsprinzipien, mit denen diese Werte erreicht werden. Das könnten beispielsweise «Freiheit» und «Selbstbestimmung» sein. Die Genossen schließen sich zwar zusammen und unterwerfen sich bestimmten Beschränkungen, bleiben aber gleichzeitig in ihrem eigenen Betrieb selbstständig. Sie bekommen durch die Genossenschaft ein Mehr an Möglichkeiten, das sie für sich nutzen können. 

Und alle Welt glaubt, Genossenschaften seien eine deutsche Erfindung …

Klar und richtig ist, dass sich die genossenschaftliche Ideen relativ zeitgleich in Europa entwickelt hat. Es ist eine Sozialstruktur, die es weltweit schon immer gab. Und unter den modernen Genossenschaften waren auch nicht die Flanellweber im nordenglischen Rochdale mit ihrer 1844 gegründeten Konsumgenossenschaft die ersten, sondern 1832 Philippe Buchez in Paris mit einer Produktivgenossenschaft. Es gab eine Idee, die in der Luft lag – und jede Menge Vordenker. Aber es braucht beides: die mit der Vision und jene, die sagen: «Dann packen wir’s mal an.»

Genossenschaften – eine Idee jenseits von Ideologien

Dr. Ingrid Schmale im Gespäch
Foto: Annette Etges

Bei zeitgleicher Entwicklung dürften die Motive ähnlich gewesen sein: Sich selbst und regional zu organisieren, um den Hunger zu mindern und kleinen Wohlstand zu mehren? Oder doch dem kaum gezügelten Kapitalismus ein Schnippchen zu schlagen?

Da wirkt schon beides zusammen. Bei den Produktivgenossenschaften in Frankreich waren auch die Frühsozialisten mit ihren Ideen unterwegs. Die andere geistige Wurzel findet man im Christentum, etwa bei Raiffeisen oder Victor Aimé Huber, und eine dritte ist die liberale. Beispiel hierfür ist Hermann Schulze-Delitzsch, der als politischer Liberaler Genossenschaften als Instrument entdeckte, das Handwerker und Gewerbetreibende, aber auch die Arbeiter zu besseren Lebensbedingungen führen sollte.

Aber Nächstenliebe ist etwas anderes als die Hilfe zur Selbsthilfe …

Ja. Raiffeisen hat sehr stark aus der Nächstenliebe heraus gehandelt. Aber er hat auch als Bürgermeister für seine Gemeindemitglieder nach Möglichkeiten gesucht, den Hunger zu überwinden und die Region, in der er wirkte, den Westerwald, lebensfähig zu erhalten. Hilfe zur Selbsthilfe war nötig, um eine Entwicklung anzustoßen, die dann aus der Kraft der Genossenschaftsmitglieder getragen wird. Diese Erfahrung machte er vorher in seinen Wohltätigkeitsvereinen.

Wenn wir in den Urlaub fahren, stoßen wir unweigerlich auf südfranzösische Winzer-Kooperativen oder auf genossenschaftliche Obstbauern in Südtirol. Das sind wohl nur die bekanntesten internationalen Beispiele?

Italien ist ein Land der Kooperativen, dort soll es über 39.000 Genossenschaften geben, fünfmal so viele wie in Deutschland. Das sind viele kleinere Vereinigungen – und sie sind nicht nach Handlungsfeld, sondern ideologisch in mehreren Sparten zusammengefasst: christlich, liberal, sozialistisch und rechtskonservativ. Ähnliches fand man früher auch in Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Heute aber kaum noch.

Welche Genossenschaften findet man weltweit am häufigsten vor? Und was machen sie?

Das werden die landwirtschaftlichen sein. Da kooperieren hauptsächlich kleinere Landwirte, Kakao- oder Kaffeebauern und versuchen gemeinsam, ihre Produkte auf dem regionalen oder sogar internationalen Markt zu platzieren. Nach der Anzahl der Mitglieder scheinen aber tatsächlich die Kreditgenossenschaften und «Credit-Unions» vorn zu liegen. Es wäre auch kein Wunder: Jede deutsche Volks- und Raiffeisenbank kommt ja auch auf mehrere Tausend Genossenschaftler. Das addiert sich allein zu rund 18 Millionen Mitgliedschaften in Kreditgenossenschaften.

Brauchen die Genossenschaften im internationalen Zusammenhang unsere Unterstützung?

Sie bekommen immer mal wieder Unterstützung. Der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband hat eine internationale Abteilung, die mithilfe der Bundesregierung Projekte in anderen Ländern fördert. Es tut sich viel in Lateinamerika, in Kolumbien zum Beispiel, um dort Genossenschaften nach vorn zu bringen.

Darf man mit Blick auf Asien oder Afrika sagen: Endlich mal ein gelungenes Beispiel von Entwicklungshilfe?

Ich halte Genossenschaften, die wirklich nach genossenschaftlichen Prinzipien funktionieren, für ein ideales entwicklungspolitisches Instrument. In den 1960er- und 70er-Jahren wurden sie allerdings gern von mancher Regierung eingesetzt und genutzt.

Das klingt nicht nach einem Vorteil.

Die konnten sich gar nicht selbstständig frei entwickeln, und ihre Mitglieder waren nicht jene, die die Geschäftspolitik bestimmten. Wenn sie zu stark instrumentalisiert werden, hören sie irgendwann auf, Genossenschaft zu sein, und sind auch nicht immer frei von Korruption und Fehlentwicklung. Die GIZ, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, hat sich deshalb eine Zeit lang abgewandt und nicht mehr gefördert – das hat sich aber wieder geändert. Label wie «Fairtrade» sowie die «Rainforest Alliance» und die Entwicklungsgenossenschaft «Oikocredit» arbeiten sehr gerne mit Genossenschaften zusammen.

 

Dr. Ingrid Schmale am Fenster
Foto: Annette Etges

Nachhaltigkeit und Daseinsvorsorge

In Deutschland boomte zuletzt der Sektor der bürgerschaftlichen Energiegenossenschaften. Findet man international Vergleichbares oder stehen wir noch allein auf weiter Flur?

Energiegenossenschaften gibt es schon lange – beispielsweise seit den 1920er-Jahren im Bergischen Land, um dort die Energieversorgung zu tragen. Aber dieser neue Gründungsboom ist noch eine Einzelentwicklung. Der hat viel mit der Energiewende nach Fukushima zu tun und auch mit der Einspeiseförderung für ökologisch erzeugten Strom.

Und mit den großen Energiekonzernen, die weder die Notwendigkeit einer Energiewende zur Kenntnis nahmen noch danach handeln wollten?

Ganz bestimmt. So gibt es in großen Städten Initiativen, die sich für die Rekommunalisierung der Stromnetze einsetzen. In Hamburg hat das schon vor einigen Jahren mit einem städtischen Unternehmen geklappt. In Berlin ist die Vergabe noch offen, aber unter den Bewerbern ist auch eine Genossenschaft, die gegen die Monopolstellung eines großen Versorgers antritt.

Kommunale Stadtwerke werden auf dem Papier demokratisch geführt. Aber oft zählt da die Stimme ihres «Herrn», des Bürgermeisters, oder der Ratsmehrheit. Und nicht die Stimme jedes einzelnen Mitgliedes …

Dass das nicht immer ganz verlässlich ist, hat sich im Zuge der Liberalisierung gezeigt, wo es um Privatisierung kommunaler Unternehmen ging und viele Städte ihre Netze verkauft haben – nach China oder sonstwo hin. Jetzt geht es ja darum, sie erneut in Bürgerhand zu bekommen und wieder für sich nutzen zu können.

Sind die Qualitäten ihres Wertekanons mit der Grund dafür, dass Genossenschaften sicherer, sorgsamer und nachhaltiger wirtschaften?

Das Identitätsprinzip sorgt für eine ganz andere Herangehensweise: Die Wohnungsmieter sind zugleich Besitzer eines Wohnungsunternehmens, taz-Leser besitzen zugleich die taz selber und den Verbrauchern in einem Bioenergiedorf gehören die Energieerzeugungsanlagen. Diese Genossenschaften sind auf einen Bedarf der Mitglieder ausgerichtet und nicht auf einen anonymen Markt. Und weil die Mitglieder durch den Geschäftsbetrieb statt durch die Dividende gefördert werden, sind sie und die Vorstände auch nicht so gewinngetrieben.

Gibt es Unterschiede bei der Nachhaltigkeit?

Raiffeisen hat dafür plädiert, ein unteilbares Stiftungsvermögen anzusammeln. Genossenschaften sind im gemeinschaftlichen Besitz, aber ihre Mitglieder bekommen bei einem Austritt nur ihren Anteil ausbezahlt und partizipieren nicht an der Wertentwicklung. Im Grunde hat sich da etwas verselbständigt. Und dieses selbstständige Unternehmen ist langfristig angelegt. Es kann auch nicht von Dritten übernommen werden.

Bei allen Vorteilen haben Genossenschaften dennoch zwei Probleme: einkommensschwache Mitglieder sind deutlich unterrepräsentiert – und Frauen auch.

Das kann schon so sein. Aber es ändert sich massiv. Früher haben eigentlich nur Männer das Fach «Genossenschaftswesen» studiert, heute heißt es «Kooperatives Wirtschaften» oder «Selbsthilfe-Ökonomik» – und wir haben sehr viel mehr studierende Frauen als früher. Inzwischen gründen auch viele Frauen Genossenschaften – Genossenschaften von Frauen für Frauen, etwa die Baugenossenschaft «Beginenhof» in Köln oder das Gründungszentrum «Weiberwirtschaft» in Berlin haben bereits eine längere Geschichte. Auf Verbandstagungen oder in den Vertreterversammlungen dominiert aber noch der dunkle Anzug, das stimmt schon.

Dr. Ingrid Schmale im Gespäch
Foto: Annette Etges

Und waren nicht einkommensschwache Menschen die originäre Zielgruppe?

Bei den Einkommensschwachen muss man sich etwas einfallen lassen. Die «Wohnungsgenossenschaft Am Beutelweg» in Trier hat in einem sozialen Brennpunkt Stück für Stück Häuser aufgekauft und die Arbeitslosen des Viertels mit der Sanierung beschäftigt. Die konnten über die «Muskelhypothek» den Genossenschaftsanteil aufbringen und dort einziehen. Das Stadtquartier hat sich enorm entwickelt, etliche Bewohner fanden Arbeit bei der Genossenschaft oder ihrer Tochtergesellschaft.

Schauen wir noch einmal über die Grenzen: Mittlerweile gibt es die Rechtsform der «Europäischen Genossenschaft», eine europaweite Vernetzung ist bislang aber kaum erkennbar.

Jein. Die Prinzipien der «Redlichen Pioniere von Rochdale aus England» waren 1895 die Basis der Gründung des Internationalen Genossenschaftsbundes. Der ist weltweit aktiv, vernetzt und hat eine Menge Dependancen. Auch die UNO und die «Internationale Arbeitsorganisation» (ILO) haben einen starken Blick auf die Genossenschaften. Die Prinzipien von Raiffeisen und Schulze-Delitzsch sind unabhängig davon weltweit diffundiert. Die britische Kolonialverwaltung hat beispielsweise bei einer Hungersnot in Indien überlegt, welche Konzepte man anwenden kann – da sind sie auf Raiffeisen gestoßen und haben quasi auch gleich das deutsche Genossenschaftsgesetz mit rübergezogen. Auch in Brüssel sitzen Organisationen, die für die ländlichen, gewerblichen, Kredit- oder Wohnungsgenossenschaften stehen. Es gibt eine solche transnationale Zusammenarbeit in Europa – aber man hört nicht viel von ihr.

Ist es um Raiffeisen und seine Ideen heute eher besser als schlechter bestellt?

Diese Ideen haben sich ja nicht so realisiert, wie Raiffeisen es selbst wollte. Durch unser Genossenschaftsgesetz dominiert eigentlich die liberale Version des Genossenschaftswesens. Als die UNO 2012 das Jahr der Genossenschaften feierte, zeigte ihr Logo dazu viele ausgestreckte Arme, die einen Würfel tragen: Was der Einzelne nicht schafft, schaffen viele gemeinsam. Dazu die neuen Genossenschaften, die stark von bürgerschaftlichem Engagement und Ehrenamt getragen werden: Das wiederum wäre Raiffeisen pur, der sich ja auch nicht mit den Zuständen im Westerwald abgefunden hat. Und die Anerkennung der Genossenschaftsidee als immaterielles Kulturerbe hätte ihn sicher auch sehr gefreut.

 

Porträt von Dr. Ingrid Schmale

Dr. Ingrid Schmale studierte Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Universität zu Köln. Mittlerweile forscht und unterrichtet sie dort am Seminar für Genossenschaftswesen. Ihre Dissertation befasste sich mit Kreditgenossenschaften und der Frage, wie sich dort die Automatisierung der Bankabläufe auf die Beschäftigten auswirken würde. Jüngste Publikation: «Genossenschaft innovativ als neue Organisation in der Sozialwirtschaft» (2017). Ehrenamtlich ist sie in Verbandsorganisationen tätig – aber auch als Finanzbeauftragte der Kempener Gruppe von «amnesty international». 

Website des Seminars für Genossenschaftswesen der Uni Köln 

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