Die Untergehenden
Eine Reportage von Andrea Jeska
Ob in Kenia, Alaska oder Papua-Neuguinea: Die Folgen des Klimawandels werden weltweit spürbar. Eine Massenflucht wird einsetzen.
Als Chris Letur mit 18 Jahren erkannte, dass die Alten seines Dorfes keine Erklärungen mehr für die Natur und ihre Wandlungen haben, die Legenden vom Wassergott, der im Zorn auf die Menschen die Flüsse anschwellen und über die Ufer treten lässt, den Hunger nicht mehr mildert, wusste er, er muss den Weg seiner Vorfahren verlassen. Er würde nicht mehr leben können vom Hüten der Herde und er würde nicht mehr auf die Weisheit der Alten vertrauen können, denn diese Weisheit hatten angesichts der Not keinen Bestand.
Letur, heute Mitte 30, entschied sich, sein Dorf zu verlassen und sich eine Zukunft zu schaffen, die so gar nichts mit den Traditionen seines Stammes, der kenianischen Samburu, zu tun hat. Mittlerweile arbeitet er als Naturführer in einem Nationalpark. «Es war der richtige Weg», sagt er heute. Denn die Lebensweise seines Volkes sei zum Untergang verdammt. «Probleme gab es schon lange. Doch seit sich das Klima verändert, haben sich die Probleme verschärft und wir können sie nicht mehr von uns aus bewältigen.»
Ein Leben für die Herden
Die Samburu wohnen im Norden von Kenia auf einem Gebiet von gut 2.800 Quadratkilometern. Sie sind ein nilotisches Volk, das im 16. Jahrhundert, vom Nil her kommend, ins heutige Kenia einwanderte. Als semi-nomadisches Volk ist ihre Heimat stets dort, wo die Tiere satt werden, Wasser finden. Alles Sein, alles Leben war und ist dem Erhalt der Herden untergeordnet. Ihnen zuliebe bauen die Menschen Häuser aus Weidenästen, schnell gebaut, schnell wieder abgebaut.
Auch die Nahrungsgewohnheiten sind auf das Ziehen, nicht das Bleiben ausgerichtet. Milch und Dickmilch, vermischt mit dem Blut der Kühe, die am Morgen zur Ader gelassen werden. Niemals haben sie Gemüse angebaut, immer haben sie alles im Tausch gegen Fleisch erworben. Und schon immer kannten sie auch Hunger, haben das Verenden der Tiere in trockenen Jahren erlebt. Doch immer haben sich die Herden wieder erholt, hat es gute Zeiten gegeben.
2006 wurden die ersten Folgen des Klimawandels in Ostafrika sichtbar. In ganz Kenia gab es eine große Hungersnot. Internationale Hilfslieferungen kamen ins Land, die Samburu sahen davon nichts. 2009, 2011 dann weitere Dürren. Das Land, durch die vielen Tiere hoffnungslos überweidet, war staubtrocken. Und immer mehr Land wurde in Nationalparks umgewandelt, der Lebensraum der Samburu und ihrer Herden schwand mit jedem Jahr.
Lange wird es unsere Lebensweise nicht mehr geben. Aber was dann kommt, wohin wir gehen sollen, das weiß keiner.
Wenn Chris Letur in sein Dorf zurückkehrt, wollen nicht nur die Jungen, sondern auch die Alten von ihm wissen, wie es weitergehen kann mit den Samburu und ihren Herden. «Verkauft eure Tiere», sagt Letur zu den Männern. «Und legt das Geld auf die Bank, dann habt ihr wenigstens Essen für eure Kinder, wenn die nächste Dürre kommt.»
Letur ist nicht der einzige junge Samburu, den die Not forttrieb aus seinem Dorf. Im Kampf um Weideland hat es schon Tote bei Auseinandersetzungen mit anderen umherziehenden Nomadenstämmen gegeben. Auch die Regierung wendet sich gegen die Samburu, Soldaten haben Hütten angezündet und Menschen erschossen. Immer mehr junge Männer gehen nach Nairobi, wo sie sich als Souvenirverkäufer, Schuhputzer und Lastenträger verdingen. «Lange wird es unsere Lebensweise nicht mehr geben», sagt Letur. «Aber was dann kommt, wohin wir gehen sollen, das weiß keiner.»
Die Massenflucht wird bald beginnen
Klimawissenschaftler und Migrationsexperten weisen seit langer Zeit darauf hin, dass durch den Klimawandel und die damit verbundene Lebensnot eine bislang beispiellose Fluchtbewegung ausgelöst werden wird. Bis zum Jahr 2050, so sagen sie es vorher, werden zu den 60 Millionen Menschen, die zur Zeit auf der Flucht sind vor Krieg, Terror, politischer oder religiöser Verfolgung, mindestens 200, wenn nicht gar 300 Millionen weitere Flüchtlinge hinzukommen.
Nicht, weil ihnen Bomben auf den Kopf fallen oder sie Opfer diktatorischer Systeme sind, sondern weil sich die Natur gegen sie wendet. Weil Wüsten sich ausbreiten, Dürren ihnen die Lebensgrundlage nehmen, Flüsse ihre Häuser mitreißen, Stürme ihre Dörfer vernichten, das Eis der Arktis schmilzt und sie den Meereswellen ausgeliefert sind. Oder weil sie, wie im Falle der Samburu, sich den neuen klimatischen Gegebenheiten nicht anpassen können.
Schon heute werden 26 Millionen Menschen jährlich durch Naturkatastrophen aus ihrer Heimat vertrieben, 95 Prozent dieser Vertriebenen kommen aus Ländern des Globalen Südens. Doch ein ungebremster Klimawandel wird nicht nur Hunger und Heimatlosigkeit hervorbringen, er wird ein Multiplikator für bestehende Konflikte sein, er wird Verteilungskämpfe in Bürgerkriege verwandeln, dem Terrorismus Nährboden geben, womöglich die ganze Welt destabilisieren, wenn Scharen von Menschen auf der Suche nach Sicherheit und Obdach, nach Nahrung und einem neuen Leben innerhalb ihrer Länder oder hinweg über Landesgrenzen unterwegs sind.
Klimawandel kennt keine Grenzen
Den Samburu ist es lange gelungen, ihre Lebensweise aufrecht zu erhalten. Die Abgeschiedenheit ihres Siedlungsgebiets hat ihnen dies erleichtert. Doch der Klimawandel kennt keine geografische Abgeschiedenheit, im Gegenteil, er richtet die größten Schäden an, wo die Welt scheinbar noch intakt ist. Wie vielen indigenen Stämmen, die ihre Lebensweise aufgeben mussten, droht den Samburu Untergang und Zersplitterung. «Wir haben keine Lobby und keine Alternativen zu dem, was wir bislang waren», sagt Letur – und klingt sehr bitter.
Der Klimawandel, so sagen Forscher, wird auch das kulturelle Erbe der Menschheit gefährden. Nicht nur Stätten werden untergehen, kulturelle Praktiken einer Gesellschaft wie Erzählkultur, Weltanschauungen, Identität, soziale Beziehungen werden zerstört. Einmal verloren gegangenes kulturelles Erbe, darüber sind sich die Forscher einig, seien es nun Orte, Gebäude, Bücher, Traditionen, gilt als unwiederbringlich.
Seitenblick: Carteret-Inseln
Die Bewohner der Carteret-Inseln in Papua Neuguinea haben für sich einen neuen Lebensraum gefunden, bevor es zum Äußersten kam – dem Hungertod. Vermutlich durch Klimawandel hervorgerufene Stürme hatten schlimme Verwüstungen angerichtet, die Felder waren überschwemmt und versalzen, die Häuser zerstört, die Menschen hungerten, die Schulen schlossen, weil die Kinder nichts zu essen hatten. Die Carteretianer packten ihre Sachen, bestiegen Boote und siedelten sich auf einer anderen Insel an. Eine Option, die den Samburu nicht bleibt.
Was bedeutet der Klimawandel für Alaska?
Was es bedeutet, den eigenen Kulturraum zu verlassen, kann man schon heute sehen: am Beispiel von 184 Gemeinden an der Westküste von Alaska, die ihre Heimat bereits aufgegeben haben oder sich auf einen solchen Schritt vorbereiten. Es sind Menschen, die seit Jahrhunderten von der Robbenjagd und vom Fischfang lebten. Doch nun steigt der Meeresspiegel, es gibt nicht mehr genügend Tiere zum Jagen, und das arktische Eis schmilzt, das ihnen bislang Schutz vor Winden und Wellen bot.
Die Temperatur in Alaska steigt heute doppelt so schnell wie die globalen Durchschnittstemperaturen. Wenn Herbststürme über die kleinen Inseln vor der Küste oder über die Küstendörfer hereinbrechen, rollen riesige Eiswellen an und nehmen auf ihrem Rückzug das Land wieder mit. Die Klimaflüchtlinge Alaskas werden im eigenen Land bleiben, werden lediglich einige Kilometer weiter ins Inland ziehen. Doch dort werden sie nicht mehr jagen können, müssen sehen, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen, sich an ein Leben in Mietblocks gewöhnen.
Es gibt keine Regierungs-Agentur, die ein Mandat hat, Menschen umzusiedeln, noch hat irgendjemand das Wissen, wie das gehen soll.
Als Binnenflüchtlinge unterstehen die Jäger und Fischer dem Schutz ihrer Heimatregierungen. Wie der aussieht, erfuhren die Bewohner der Insel Kivalina in der Tscherkessensee, bewohnt von 250 Menschen.
Kivalina wird seit mehr als 1000 Jahren vom Volk der Inupiat als Jagdgrund genutzt. Weil die Insel bis 2025 wohl unter Wasser stehen wird, sollen Kivalinas Dörfer auf dem Festland neu gebaut werden. Das wird rund 90 Millionen Euro kosten. «Wer soll das bezahlen?», hat Bronen die Regierung gefragt. Die hat mit den Schultern gezuckt. «Seit die ersten Umsiedlungspläne gezeichnet wurden, streiten die Behörden auf Orts-, Staats-, Bundes- und Stammesebene über Zuständigkeit – und eine Lösung ist bislang nicht in Sicht.»
Es ist die eine Sache, wenn eine indigene Gemeinde mit 200 Menschen umgesiedelt werden muss und niemand sich verantwortlich fühlt. Weitaus dramatischer wird es, wenn Millionen Menschen, die in den vom Anstieg des Meeresspiegels bedrohten Küstenstädten und Inseln, in von endlosen Dürren geschüttelten Ländern leben, sich auf den Weg machen, wenn politisch und wirtschaftlich instabile Staaten durch einen weiteren Druckfaktor wie den Klimawandel zu failed states werden, wenn ganze Kontinente aus dem Gleichgewicht geraten.
Was bleibt den Samburu?
Die Samburu werden die heutigen Flüchtlingszahlen nur unwesentlich in die Höhe treiben. Doch wer und was sie einmal waren, davon wird man schon bald nur noch in den Büchern lesen können. Sie werden Kollateralschäden einer globalen Katastrophe sein, an der sie nicht schuld sind, die sie nicht einmal verstehen. Zu dem 85jährigen Ibrahim Falu, dem Ältesten aus dem Dorf von Chris Letur, kamen früher die jungen Männer und fragten nach seinem Rat. Heute muss er sie fragen, wenn er wissen will, warum sich die Welt so verändert. Warum sein Volk die Herden aufgeben soll, geht nicht in seinen Kopf.
Was sind wir denn ohne unsere Tiere? Man nimmt einem Mensch doch auch nicht die Luft weg, so dass er nicht mehr atmen kann.