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«Eine aussterbende Art»

Der Atomindustrieexperte Mycle Schneider im Gespräch mit Armin Simon

Die Zukunft der Atomkraft, die Rolle von China, zivil-militärische Abhängigkeiten – und warum die Anti-Atom-Bewegung weiterhin 
viel zu tun hat.

Mycle Schneider ist im Reisemodus, wie jeden Herbst: Paris, Berlin, Washington und Macao lauten seine Hauptetappen diesmal, einmal um den Erdball, im Gepäck sein Jahreswerk, den «World­ 
Nuclear Industry Status Report 2018» – der Weltzustandsbericht der Atomindustrie. An einem Abend im Oktober 2018 hielt er in Karlsruhe einen Vortrag, die Gewerkschafterin aus dem elsässischen Atomkraftwerk Fessenheim, die anschließend mit ihm auf dem Podium saß, hatte einen schweren Stand.

Der von Schneider seit 2007 jährlich herausgegebene Bericht, der mittlerweile fast 300 Seiten umfasst, hat den Autodidakten zum inter­national angesehenen Berater für Energie- und Atompolitik gemacht. Medien in aller Welt greifen die Publikation auf, von Südafrika bis Großbritannien, von Taiwan bis Mexiko. Der Weltverband der Atomindustrie hält seit einigen Jahren mit einem «World Nuclear Performance Report» dagegen. Schneider, die langen weißen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, erzählt das halb belustigt, halb stolz: «Dann hat man es wohl geschafft!»

Herr Schneider, der Tenor Ihres «World Nuclear 
Industry Status Report» lautet seit Jahren, Atomkraft sei ein Auslaufmodell. Stimmt das wirklich?

Ein älterer Herr im Jacket, die weißen Haare zum Zopf gebunden
Mycle Schneider Foto: Bert Bostelmann

Das stimmt. Ginge es um Lebewesen, könnte man sagen: Atomkraft ist eine aussterbende Art – aus dem einfachen Grund, dass ihre Erneuerungsrate viel zu klein ist. Hinzu kommt, dass es eine invasive Art gibt, die der Atomkraft schwer zu schaffen macht: die Erneuerbare Energie.

Die Zahl der AKW, die installierte AKW-Kapazität und die Atomstromproduktion steigen seit Fuku­shima aber wieder an.

Erstens war der Abstieg nach Fukushima so gewaltig, dass wir trotz des minimalen Anstiegs seither noch erheblich unter der Zeit vor dem 11. März 2011 liegen. Und ihr Maximum hatte die Atomstromproduktion schon 2006 erreicht; die Krise hat nicht erst mit Fukushima, sondern schon viele Jahre davor angefangen. Zweitens ist der Anstieg 2017 das dritte Jahr in Folge ausschließlich auf China zurückzuführen. So wie auch der AKW-Zubau eine China-Geschichte ist – drei der vier 2017 in Betrieb gegangenen Reaktoren stehen dort, den vierten, in ­Pakistan, haben chinesische Firmen gebaut. Nimmt man den chine­sischen Anstieg weg, ist die Weltatomstromproduktion schon das dritte Jahr in Folge wieder gesunken.

China ist Teil dieser Welt.

Wenn aber 31 Länder AKW betreiben und nur ein einziges Land die Ursache dafür ist, dass die Atomstromproduktion steigt, dann ist das kein Welt-Phänomen, sondern ein China-Phänomen. Unser Statusbericht wertet zudem zahlreiche verschiedene Indikatoren aus, um Schlussfolgerungen zu ziehen. Und für eine Aussage über die Zukunft der Atomkraft ist die Frage, ob die Atomstromproduktion heute zu- oder abnimmt, letztlich irrelevant.

Was ist in Ihren Augen dann entscheidend?

Für die langfristige Entwicklung relevant ist zum Beispiel: Wie viele AKW sind im Bau? Deren Anzahl ist verschwindend gering. Mitte 2018 waren es noch 50 Reaktoren, …

Macht einen Reaktor im Bau auf acht Reaktoren in Betrieb: Das ist nicht nichts.

… es waren aber bereits 18 Reaktoren weniger im Bau als noch 2010. Der Trend ist entscheidend. Allein zehn Baustellen wurden aufgegeben. Der zweite Indikator ist die Anzahl der Baustarts. 2010 waren das noch 15, davon zehn in China. 2017 waren es noch fünf und im ersten Halbjahr 2018 noch zwei. In China, das in den vergangenen zwanzig Jahren fast die Hälfte aller Neubauprojekte weltweit startete, ging seit zwei Jahren kein kommerzieller Reaktor mehr in Bau. Die Tendenz ist eindeutig. Und der prozentuale Anteil der Atomkraft am weltweiten Strommix sinkt seit über 20 Jahren.

 

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Ringdiagramm: Alter der Atomkraftwerke weltweit, Stand Juli 2018,

54 AKW sind 0–10 Jahre alt,

35 AKW  sind 10–20 Jahre alt,

70 AKW  sind 21–30 Jahre alt,

177 AKW  sind 31–40 Jahre alt,

77 AKW  sind 41 Jahre alt oder älter.

Der Altersdurchschnitt der 413 laufenden AKW liegt, wie von Ihnen vorgerechnet, bei 30 Jahren. In absehbarer Zeit auslaufen würde die Technik nur, wenn es nicht zu Laufzeitverlängerungen im größeren Stil kommt. Genau das passiert oder droht doch aber in vielen Ländern.

Laufzeitverlängerungen bedeuten doch nur, um beim Bild zu bleiben, dass die Spezies älter wird. Das ist keine nachhaltige Perspektive – die Art wird nur etwas später aussterben.

Aber Laufzeitverlängerungen bestimmen, ob die heutige Generation das Ende der Atomkraft noch erleben wird oder ob sich das bis in die nächste, übernächste Generation hinziehen wird – oder gar länger. Teilweise sind ja Laufzeiten von 100 Jahren im Gespräch.

Die Vorstellung von 100-jährigen Laufzeiten ist ein Witz. Mich hat das schon immer erstaunt: Die Anti-AKW-Bewegung glaubt der Atomindustrie nichts – außer, diese kündigt irgendwelche Projekte an. Ich schaue mir lieber an, was tatsächlich passiert. Nehmen wir doch mal die USA …

Dort haben 87 von 99 AKW Laufzeitverlängerungen bekommen.

Von 98, das AKW Oyster Creek ist gerade vom Netz ge­­gangen.

Der weit überwiegende Rest hat Laufzeitverlängerungen bekommen.

Das bedeutet aber eben nicht, dass die AKW tatsächlich so lange laufen. Im Gegenteil: Es sind seit 2009 bereits sieben vom Netz gegangen und ein Dutzend weitere Abschaltungen sind geplant – obwohl diese Reaktoren Laufzeitverlängerungen um 20 Jahre erhalten und die Investitionen dafür getätigt hatten.

Und warum schalten sie ab?

Sie können am Markt nicht mehr bestehen. Selbst Solarstrom gekoppelt mit Speichern ist in den USA inzwischen billiger als die reinen Betriebs- und Unterhaltskosten manch laufender Reaktoren. Und der Preis für Stromspeicher sinkt noch schneller, als das bei der Photovoltaik der Fall war.

Cover der Studie, ein Atomkraftwerk am Fluß bei blauen Himmel

Der «World Nuclear Industry Status Report» (WNISR) erscheint jährlich. Die frei herunterladbare, von Stiftungen, Umweltverbänden und Sponsoren wie den EWS finanzierte Publikation analysiert den Status der Atomindustrie weltweit.

Hier können Sie den Report in englischer oder französischer Sprache herunterladen.

Warum widmen Sie erstmals in Ihrem Bericht der zivil-militärischen Verquickung im Atombereich ein eigenes Kapitel? Ist das nicht ein alter Hut?

Hier geht es nicht um Atomkraft als Weg zur Bombe – dieses Thema ist in der Tat altbekannt. Abgesehen davon trifft es jedenfalls auf die Atomwaffenstaaten nicht mehr zu, da gibt es mehr als genug waffenfähiges Spaltmaterial.

Bliebe die militärische Überlappung von Infrastruktur, Kompetenz, Ausbildung et cetera – ebenfalls ein nicht ganz neues Thema.

Aber dass das zu einem öffentlichen Beweggrund wird, das ist neu! 50 Jahre lang hat man uns erzählt, dass man sehr gut unterscheiden könne zwischen ziviler und militärischer Nutzung von Atomkraft. Plötzlich heißt es nun, man müsse die zivile Nutzung beibehalten, weil die militärische sonst nicht bezahlbar sei. Dass ein hoher Offizieller wie Ernest Moniz, ehemaliger Energieminister der USA, sagt: «Wir brauchen die zivile Atomindustrie wegen nationaler Sicherheitsinteressen», das hat es bisher noch nicht gegeben.

Deshalb haben Sie dafür auch einen neuen Begriff gesucht?

Genau. Nicht «link», wie die altbekannte zivil-militärische Verknüpfung, sondern «interdependencies», gegenseitige Abhängigkeit. Das Militär bedient sich aus demselben Fundus an beispielsweise Ingenieuren oder Fachleuten wie die zivile Atomindustrie. Die Kompetenzen, um die es geht, Sicherheits- und Konzeptstudien, Material- und Alterungsprobleme und so weiter, das sind alles dieselben. Die Militärs wissen: Wenn die zivile Atomindustrie nicht überlebt, dann haben sie ein echtes Problem.

Weil sie dann die ganze Ausbildung und das Fachwissen selber finanzieren müssen?

Richtig, das würde dann entsprechend erheblich teurer.

Die Militärs sind also schuld daran, dass noch AKW gebaut werden?

So wird das inzwischen manchmal dargestellt, leider. Aber die Vorstellung, es gebe nur eine einzige Erklärung dafür, die ist sicher falsch. Klar ist: Es gibt eine ganze Palette unterschiedlicher Beweggründe, aufgrund derer einige Staaten immer noch an Atomkraft festhalten oder gar neu auf sie setzen. Nehmen wir doch mal das geplante AKW Hinkley Point C. Das ist ein Projekt dreier Regierungen: China, Frankreich, England. England hat unter anderem militärische Interessen, für China ist der Reaktor ein winziger Teil seiner billionenschweren geopolitischen «Belt and Road Initiative».

 

Große Baustelle mit Kränen und Betonmischer, im Hintergrund der blau bemalte Reaktorblock A des AKW HInkley Point
Die Baustelle des AKW Hinkley Point C, im Hintergrund Reaktor A Foto: Ben Birchall 65 / PA Wire

 

Und Frankreich? Selbst der Finanzdirektor von EDF war doch gegen dieses Projekt – er ist deswegen sogar zurückgetreten!

Stellen wir uns einmal vor, die französische Entscheidung – EDF ist ja ein Staatskonzern – wäre gegen Hinkley Point C ausgefallen. Dann wäre von heute auf morgen klar gewesen, dass EDF nie wieder irgendwo einen Reaktor bauen wird – wenn sie das nach so vielen Jahren nicht mal im Nachbarland hinbekommt. Und damit wäre klar geworden, dass auch die französische Atomindustrie dem Ende entgegengeht.

Weil dann auch die angekündigten sechs neuen AKW in Frankreich selbst zur Diskussion gestanden hätten?

Die wurden nie offiziell angekündigt. Man kann auch in Frankreich nicht mal so eben sechs Reaktoren bauen. Die kriegen doch selbst nicht den einen fertig, an dem sie seit über zehn Jahren herumbauen. Übrigens hat das Papier, aus dem diese Zahl stammt, nie jemand gesehen, das sind bloß Wortfetzen.

Den Presseberichten darüber zufolge taucht aber auch in diesem französischen Papier die militärische Argumentation auf.

Dabei war es eine Studie im Auftrag des Umwelt- und Wirtschaftsministeriums, nicht des Verteidigungsministeriums. Durchgeführt wurde sie aber von einem der Elitetechnokraten, die den Atomsektor beherrschen, und einem Militär.

Was bedeutet die zivil-militärische «interdependency» für die Auseinandersetzung um Atomkraft?

Zum Beispiel, dass diese Studie nicht veröffentlicht, sondern als militärische Verschlusssache eingestuft wurde. Das ist ein Skandal. Denn wenn die Beweggründe, neue AKWs zu bauen oder Laufzeiten zu verlängern, ganz andere sind, als die vorgeblich wirtschaftlichen oder energiepolitischen, dann müssen wir auch über genau diese eigentlichen Beweggründe diskutieren. Wenn der Steuerzahler über seine Stromrechnung eine militärische «interdependency» mitfinanzieren soll, dann muss er das auch wissen.

Was ist mit den AKW-Neubauprojekten in Nicht-­
Atomwaffen-Staaten?

Warum bauen die Russen in der Türkei ein AKW? Obwohl ihnen einen Monat vor dem offiziellen Baubeginn die türkischen Investoren wegbrechen, die 49 Prozent der Anteile gehalten haben? Das hat doch mit Energiepolitik nichts zu tun! Da mag es um das Verhältnis zwischen der Türkei und Russland im Dreieck mit der Nato gehen, um Militärbasen, um Gaslieferungen, um – ich weiß es nicht. Oder im Iran, wo alle immer nur auf die mögliche militärische Nutzung schauen. Als Atomingenieur gehört man da zur Top-Elite. Das ist auch ein Antrieb. In jedem Land ist es ein anderer Mix.

 

Ein älterer Herr gestikulierend, im Vordergrund ein jüngerer Mann mit Pferdeschwanz.
Armin Simon im Gespräch mit Mycle Schneider. Foto: Bert Bostelmann

 

Warum ist es in Ihren Augen so wichtig, Atomkraft als aussterbende Art zu begreifen?

Man kann einen Euro nur einmal ausgeben. Frankreich hat neulich mal so eben neun Milliarden Euro in seine Atomindustrie gepumpt, um sie vor dem Bankrott zu retten. Damit hätte man verdammt viel für Energieeffizienz und Erneuerbare Energien tun können. Stattdessen wurde das Budget für energetische Gebäudesanierung halbiert. Und es gab null Debatte darum. Wenn man versteht, dass Atomkraft langfristig gesehen eine aussterbende Art ist, steckt man da kein Geld mehr rein. Dann könnte man auch so ein Projekt wie Hinkley Point C einfacher beerdigen.

Und was bedeutet diese Sicht für die Anti-Atom-­Bewegung? Braucht es sie überhaupt noch?

Kuriose Frage. Unser Bericht zeigt, dass Atomkraft keine Perspektive hat und dass die wirtschaftliche Situation der Atombranche katastrophal ist. Das hat gravierende Auswirkungen auf die Sicherheit der Anlagen und auf die Frage, wie Müllkonzepte zusammengebastelt werden.

Das Risiko wächst?

Der Druck, überall zu sparen, steigt. Die Sicherheitsmargen schrumpfen, weil niemand mehr so viel investiert, wie es nötig wäre. Selbst die Atomaufsicht gerät unter Druck, Dinge zu genehmigen, die eigentlich nicht genehmigungsfähig sind. Und das, obwohl es heute ganz neue Bedrohungen gibt, für die 30, 40 Jahre alte Anlagen gar nicht ausgelegt sind. Eine kritische Öffentlichkeit ist in dieser Situation absolut essenziell – viel mehr sogar, als das vor zehn Jahren der Fall war.

 

Porträt von Mycle Schneider, grauer Bart, graues langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Mycle Schneider

Jahrgang 1959, ist unabhängiger Berater für Energie- und Atompolitik und lebt bei Paris. Seit 2007 beschreibt und analysiert er mit einem internationalen Team im von ihm initiierten und herausgegebenen «World Nuclear Industry Status Report» den Zustand der Atomindustrie weltweit. 

Er ist Mitglied im «International Panel on Fissile Materials» (IPFM), einem an der US-amerikanischen «Princeton University» ansässigen Expertengremium zur Nichtweiterverbreitung waffenfähiger Materialien. Für seine «Warnungen vor den beispiellosen Gefahren durch Plutonium für die Menschheit» wurde er 1997 mit dem «Right Livelihood Award» (dem «Alternativen Nobelpreis») ausgezeichnet.

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05. Dezember 2018 | Energiewende-Magazin