«Die Stimmung der gesellschaftlichen Mitte hat sich verschoben»
Der Umweltsoziologe Dennis Eversberg im Gespräch mit Guido Speckmann
Mit gezielt geschürter Wut wird bei vielen das Bedürfnis nach dem Erhalt des Status quo bedient. Wie ist diesem Empörungswettbewerb noch beizukommen?
Spätsommer 2024: Das Thema Klima ist aus der deutschen Öffentlichkeit so gut wie verschwunden – und das, obwohl täglich Kurzmeldungen über klimawandelbedingte Wetterextreme die Runde machen. Aber die Politik kennt seit dem mutmaßlich islamistischen Messerattentat von Solingen und den Landtagswahlen mit den Erfolgen der AfD nur noch ein Thema: die Abwehr «irregulärer Migration». Dabei wäre wirksamer Klimaschutz auch ein Mittel, um einen Teil der Migrationsursache zu bekämpfen. Doch die AfD treibt mit ihren Themen die Parteien der Mitte vor sich her. Ihre Erzählung von den Zumutungen eines von «grünen Eliten» verordneten ökologischen Umbaus scheint zu verfangen.
Warum das so ist und wieso sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse mit Blick auf die sozial-ökologische Transformation geändert haben, interessiert den Umweltsoziologen Dennis Eversberg. In Rahmen des Forschungsprojekts «Mentalitäten im Fluss» an der Friedrich-Schiller-Universität Jena hatte er die Möglichkeit, auf Grundlage einer Befragung von 4.000 Personen sozial-ökologische Mentalitäten in Deutschland zu erforschen. Welche Meinungen und Gefühlslagen gibt es unter den Befragten? Wie stehen sie zum anstehenden Wandel und sind sie bereit, Abschied von Alltagsgewohnheiten zu nehmen? Welche Widerstände sind verbreitet? Die Ergebnisse seiner Forschung hat er im Juli 2024 zusammen mit Martin Fritz, Linda von Faber und Matthias Schmelzer in dem Buch «Der neue sozial-ökologische Klassenkonflikt. Mentalitäts- und Interessengegensätze im Streit um Transformation» veröffentlicht.
Dennis Eversberg ist kürzlich von Jena nach Frankfurt am Main gezogen, wo er an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität als Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Umweltsoziologie arbeitet. Wir haben uns Mitte September – zwischen den Landtagswahlen im Osten Deutschlands – zum Videotelefonat verabredet.
Herr Eversberg, der Klimawandel war ab 2019 mit «Fridays for Future» und seinen Massenprotesten in Deutschland ein Riesenthema. Dann kam Corona – aber auch nach Ende der Pandemie hat man den Eindruck, dass das Thema keine große Rolle mehr spielt. Wie erklären Sie sich das?
Das erkläre ich mir im Kern so: Die verschiedenen Krisenerfahrungen der letzten Jahre – Corona, Krieg und Energiekrise – haben bei großen Teilen der Bevölkerung den Wunsch, oder besser gesagt den Willen, so weiterleben zu wollen wie bisher, deutlich Überhand nehmen lassen gegenüber dem, was eine Mehrheit bislang rational als richtig und notwendig erkannt hatte. Das führte zu kollektiven Verdrängungsmechanismen und zu einer steigenden Anfälligkeit für Erzählungen, die Probleme ursächlich irgendwo «draußen» oder bei «denen da oben» verorten statt in der bestehenden Lebens- und Produktionsweise. Und sie bedienen so das «Es soll sich bitte nichts ändern»-Bedürfnis. Ob Klimapolitik oder Migration: Alles, was auf die Unhaltbarkeit der herkömmlichen Lebensweise verweist, wird bekämpft, die offenkundigen Ursachen geleugnet oder ignoriert. Das sieht man inzwischen auch ganz klar in der politischen Stimmung – und das finde ich frappierend.
Inwiefern?
Unsere Befragung haben wir 2021 ungefähr parallel zur Bundestagswahl gemacht. Die Parteipräferenzen der Befragten entsprachen zu jener Zeit in etwa dem Ausgang der Wahl, die ja zur Bildung der Ampel als selbst ernannter «Fortschrittskoalition» führte. Aber die Auswertung der Mentalitäten, also der tiefer liegenden Gesamtmuster verinnerlichter Einstellungen zu sozial-ökologischen Fragen, zeigt, dass in diesen damals schon angelegt war, was jetzt politisch passiert. Die Stimmung einer gesellschaftlichen Mitte hat sich verschoben: von «Wir müssen uns ändern, aber wir möchten gerne auch weiter so leben wie bisher» hin zu «Wir möchten weiter so leben wie bisher – und wenn es nicht weh tut, darf auch ein bisschen Klimaschutz sein». Zentral ist das Bedürfnis nach dem Versprechen, dass es so weitergehen kann.
Ist es denn nicht so, dass sich Teile der Bevölkerung auch überfordert fühlen, weil ihnen der gesellschaftliche Wandel zu schnell geht?
Zweifellos, und zu Recht. Aber diese Überforderung wird auch politisch instrumentalisiert, wenn sie dann routinemäßig «diesen urbanen Eliten mit ihren Lastenrädern» zur Last gelegt wird. Und diesen «verkopften Grünen», die unsere Alltagssorgen nicht verstehen.
Stimmt es nicht, wenn eine Altenpflegerin vom Land sagt, sie könne sich die CO2-Bepreisung nicht leisten – dass sie aber täglich mit dem Auto zur Arbeit fahren müsse, weil es keine passende Buslinie gebe?
Klar stimmt das, und das ist ein großer Teil des Problems. Nur: Diejenigen, die in den Medien und der politischen Debatte lautstark diese Überforderung beklagen, blockieren ja genau die notwendigen Lösungen wie Abschaffung der Schuldenbremse, massive Infrastrukturprojekte zum Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und anderer wichtiger Infrastrukturen. Höhere Steuern und Umverteilung, die Mittel zur Verfügung stellen könnten, damit die Leute nicht mehr überfordert sind – all das würden nach unseren Befunden die «grünen Lastenradfahrer» mittragen, aber eben nicht Angehörige der konservativ-steigerungsorientierten und defensiv-reaktiven Mentalitäten und ihre politischen Akteurinnen und Akteure, die ständig so argumentieren. Sie nutzen das Überforderungs-Argument taktisch, um Forderungen nach einer Transformation zu blockieren, die den materiellen Interessen der von ihnen vertretenen, durchaus nicht durchgängig benachteiligten Bevölkerungsteile schaden würden. Salopp formuliert: Das Argument der Überforderung bemühen besonders gern diejenigen, die überhaupt nicht überfordert sind und für die es eher um die Frage geht, ob sie sich den dritten oder vierten Urlaub leisten können.
Es geht also um materielle Interessen und Verteilungskonflikte?
Ja, wir sehen zwei Arten solcher Konflikte. Einer verläuft zwischen oben und unten. Oben finden sich große Vermögen und Konzerngewinne, die infolge des neoliberalen Umbaus seit Jahrzehnten steigen, auch und gerade in Krisenzeiten. Diese gewaltigen Vermögen müssen dringend besteuert werden – aber auch unsere Befunde zeigen, dass dies kaum jemand für realistisch hält. Dieser Verteilungskonflikt wird von vielen Menschen gar nicht wahrgenommern.
Und der andere Verteilungskonflikt?
Das ist der zwischen privatem und öffentlichem Eigentum. Nachhaltige Strukturen und Lebensweisen sind solche, die auf öffentlichen Infrastrukturen beruhen, die allen zugänglich sind und von allen genutzt werden können. Ein Nahverkehr für alle und ein Schwimmbad in einer Gemeinde verbrauchen weniger Ressourcen als Autos für alle und Pools in den Gärten der reichsten Haushalte. Und hier liegt der Knackpunkt: Ein relevanter Teil der Bevölkerung ist über privates Eigentum, ihre Autos, ihre Eigenheime, an den Status quo gebunden. Diese Bevölkerungsteile zeigen oft wenig Bereitschaft, sich auf einen sozial-ökologischen Wandel einzulassen, der letztlich dieses Eigentum infrage stellen könnte.
Wie hängt das aber mit den Mentalitäten zusammen, die Sie erforschen?
Das materielle Interesse am Status quo schlägt sich auch in den Mentalitäten nieder. Man will sich beispielsweise nicht darauf einlassen, anstelle des Autos die Bahn zu nutzen. Ein Ergebnis unserer Untersuchung finde ich immer wieder erschreckend: Sehr viele Leute fahren prinzipiell nur Auto. Öffentliche Alternativen empfinden sie fast als Zumutung, weil zum Beispiel der Bus als schmutzig und als möglicher Infektionsherd wahrgenommen wird.
Im ökosozialen Spektrum, dessen Angehörige teils überdurchschnittlich viel verdienen, konnten Sie jedoch auch große Zustimmung zur Umwelt- und Klimapolitik ausmachen.
Richtig, dieses Spektrum ist quasi die soziale Basis einer entschlossenen Klimapolitik. Das geht oft, aber nicht immer mit hoher Bildung und darüber auch höheren Einkommen einher. Teils geraten ökologische Überzeugungen auch mit Selbstverwirklichungsansprüchen in Konflikt, aber der privilegierte, gebildete Großstädter, der mit dem SUV zum Biomarkt fährt, ist ein Zerrbild. Die typischen Pro-Kopf-Emissionen dieser Mentalitätstypen gehören teils zu den niedrigsten. Und «ökosozial» meint auch, dass die Unterstützung für Umverteilungsmaßnahmen hier mit am größten ist.
In Ihrem Buch sprechen Sie von einem «neuen sozial-ökologischen Klassenkonflikt». Was muss man sich darunter vorstellen?
Das ist zugegebenermaßen ein großes Wort. Aber ich finde es politisch notwendig, dies so zu thematisieren. Wir wollen damit nicht nur die soziale Frage in der sozial-ökologischen Transformation betonen, sondern auch die Spannungen und materiellen Interessengegensätze hervorheben, die das in den beiden genannten Dimensionen bedeutet. Es ist ein Klassengegensatz zwischen oben und unten, der real ist, der durch die Verschiebung auf Veränderungsabwehr und vage Wut gegen «die da oben» aber so ausgetragen wird, dass Vermögensinteressen «ent-thematisiert» werden. Und es ist ein horizontaler Klassenkonflikt zwischen denen, die ihren privaten Wohlstand erhalten wollen, und denen, die aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitssituation ein Interesse am Allgemeingut haben – und damit auch am Ausbau öffentlicher Infrastruktur, der Arbeitsplätze schafft und es Menschen ermöglicht, ihr Leben auf ökologisch und sozial verträgliche Weise zu führen.
Ihr Schwerpunkt liegt auf der Erforschung von sozial-ökologischen Mentalitäten, die Sie in drei Spektren zusammenfassen: das ökosoziale, das konservativ-steigerungsorientierte und das defensiv-reaktive Spektrum. Die Leserinnen und Leser des Energiewende-Magazins sind vermutlich größtenteils dem ökosozialen Spektrum zuzurechnen. Dem gegenüber steht das konservativ-steigerungsorientierte sowie das defensiv-reaktive Spektrum. Welche Mentalitäten herrschen da jeweils vor?
Das konservativ-steigerungsorientierte Spektrum ist grob der Teil, der lange die Merkel’schen Kompromisse zwischen Klimaschutz und Menschenrechten einerseits und die Verteidigung des deutschen Wachstumsmodells andererseits mitgetragen, in den letzten Jahren aber den Wandel hin zur Verteidigung der Lebensweise vollzogen hat. Eben hier ist das «Wir wollen weiter so leben wie bisher» zur obersten Maxime geworden. Das bedienen CDU und CSU mit ihrem aktuellen Rechtsschwenk – und befördern damit gleichzeitig die Annäherung an die Frustration und die gegen Demokratie und Rechtsstaat gerichtete Wut, die im defensiv-reaktiven Spektrum vorherrscht und von der AfD kanalisiert wird. Sie glauben, dass ihnen das politisch nützt, aber es ist brandgefährlich.
Drei gesellschaftliche Spektren, neun Mentalitäten
Auf Grundlage einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung zu sozial-ökologischen Fragen konnten Dennis Eversberg, Martin Fritz, Linda von Faber und Matthias Schmelzer neun Mentalitäten identifizieren, die sie in drei Spektren zusammenfassen. Die einzelnen Mentalitätstypen sind nicht klar abgrenzbar, sondern mit fließenden Übergängen zu verstehen. Die angegebenen Prozentwerte sind lediglich eine Momentaufnahme und geben nur eine grobe Orientierung über die Zahlenverhältnisse. (Quelle: Eversberg, Fritz, von Faber, Schmelzer: «Der neue sozial-ökologische Klassenkonflikt», 2024)
Ökosoziales Spektrum – 26 %
Vereint durch proökologische und eher wachstumskritische Einstellungen, Abgrenzung von Konservatismus und Konformismus. Transformative Anliegen, alternative Lebensmodelle sowie eine gleichheits- und inklusionsorientierte Gesellschaft werden begrüßt.
Progressive Selbstverwirklichung (11 %): Befürwortet wird ein Wandel hin zu einer harmonischen Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle. Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und die Abkehr von Konkurrenzdenken gehen mit dem steten Drang nach Bildung und Erfahrungen einher, die wichtiger sind als Besitz.
Ökosoziale Aktivbürgerlichkeit (7 %): Klare Abgrenzung vom Konservatismus. Der Hang zu individuellem Engagement spiegelt sich in hoher Zustimmung für Nachhaltigkeit und Klimaschutz wider. Die Umbrüche einer herbeigesehnten Transformation werden als Chance empfunden.
Ökosoziale Reduktion (9 %): Zentral ist eine Lebensweise, die von Verzicht und der Besinnung auf das Notwendige geprägt ist. Für Selbstverwirklichung und Konsum bleibt wenig Raum – klimapolitische Maßnahmen und daraus resultierende Einschränkungen werden in Kauf genommen.
Konservativ-steigerungs-orientiertes Spektrum – 36 %
Geteilt werden konservative und konformistische Einstellungen. Der Erhalt der eigenen Lebensweise gilt als Voraussetzung für gesellschaftliche Veränderungen. Hinzu kommt eine teils klare Forderung nach Wachstum – auch auf Kosten ökologischer Ziele.
Liberaler Wachstumsoptimismus (11 %): Typisch sind eine hohe Wettbewerbsbereitschaft und ein steter Drang nach Macht, die in einem hierarchischen Gesellschaftsbild münden. Der starke Glaube in die eigenen Fähigkeiten führt zur Selbstwahrnehmung als soziale Elite. Privilegierte Stellungen werden erbittert verteidigt, Wachstum und Technologie gelten als fortschrittlich.
Öko-Konservatismus (12 %): Zustimmung für ökologische Anliegen bei zugleich vorherrschender Skepsis gegenüber Veränderungen. Eine kritische Sicht auf Wachstumszwänge und Angst vor der Globalisierung gehen mit der Wahrnehmung einher, dass der eigene Status bedroht ist. Gesellschaftliche Normen sind heilig, Abweichungen werden verurteilt.
Harmonistischer Konformismus (13 %): Die strikte Orientierung an etablierten Gesellschaftsnormen führt zum Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Arbeit wird mit Konsum ausgeglichen und ein hohes Maß an Selbstverwirklichung abgelehnt. Sorgen um Natur und Klima werden der Vermeidung sozialer Konflikte untergeordnet.
Defensiv-reaktives Spektrum – 26 %
Geeint durch die Abgrenzung von ökologischen und wachstumskritischen Positionen sowie eine skeptische bis aggressive Haltung gegenüber gesellschaftlichem Wandel. Die eigene soziale Position wird zudem als unsicher oder bedroht wahrgenommen.
Instrumenteller Wachstumsindividualismus (7 %): Klare Ablehnung ökologischer Ziele und Befürwortung von Wachstum. Die eigene Situation wird als äußerst gefährdet empfunden, hieraus resultiert die Haltung eines «Einzelkämpfers», der sich durch Härte in einer feindlichen Welt behaupten muss.
Regressive Änderungsaversion (7 %): Klare Abwehrhaltung gegenüber gesellschaftlichem Wandel und Befürwortung von Wachstum. Hinzu kommt große Unzufriedenheit, die sich durch Wut auf Politik, Medien und Wissenschaft äußert. Aus der Angst vor Veränderungen erwächst eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, wobei Geflüchtete und Andersdenkende ausgeklammert werden.
Zurückgezogene Notwendigkeit (12 %): Auf Überforderung wird mit Selbstbeschränkung und Rückzug reagiert, wobei eine Selbstwahrnehmung als machtlos, benachteiligt und gefährdet typisch ist. Hinzu kommt eine Distanzierung von ökologischen und wachstumskritischen Ideen.
Akquieszenz – 7 %
Hierunter fallen diejenigen Mentalitäten, die keinem der beschriebenen Spektren eindeutig zuzuordnen sind. In der empirischen Sozialforschung wird damit die Tendenz der Befragten bezeichnet, unabhängig vom Inhalt der Fragen zuzustimmen.
Was waren denn aus Ihrer Sicht die wesentlichen Schritte in dieser Annäherung? Die Bild-Kampagne gegen den sogenannten «Heizungshammer»?
Das ist ein sehr gutes Beispiel. Hier wurden in der Rhetorik von Politik und Medien die Interessen der sozial Benachteiligten, der armen Rentnerin etwa, in den Vordergrund gestellt, um die Eigentumsinteressen wohlhabender Hausbesitzer zu verteidigen. Mit Erfolg: Der Einbau einer neuen Heizung wird nun mit bis zu 70 Prozent staatlich gefördert. Gleichzeitig wurde eine gegen «grüne Eliten» gerichtete Wut bedient. Wie das zur Normalisierung der AfD und anderer extrem rechter Akteure beigetragen hat, ließ sich auf der Demonstration in Erding im Juni 2023 beobachten. Da protestierten der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und sein Stellvertreter Hubert Aiwanger gemeinsam mit rechten Verschwörungsideologen gegen das sogenannte Heizungsgesetz. Noch zwei Jahre zuvor wäre ein solcher Schulterschluss kaum vorstellbar gewesen.
Was drückt sich hier aus? Verschmelzen die beiden Spektren?
Sie verschmelzen nicht, und sie werden auch nicht viel größer. Doch die Art und Weise, wie das defensiv-reaktive und das konservativ-steigerungsorientierte Spektrum den Konflikt um die Verteidigung der Lebensweise austragen, wird immer ähnlicher. Die Leute wollen zurück in eine Zeit ohne Gendersternchen und ohne das Gefühl, als Autofahrerinnen und Autofahrer diskriminiert zu werden. Und was immer mehr Boden gewinnt, ist eine Systemopposition, dieses Radikale, das in den Coronaprotesten exemplarisch zum Ausdruck gekommen ist: ein komplettes Misstrauen gegenüber «der Gesellschaft» insgesamt. Und das ist das Gefährliche: Wenn auf der Ebene der Mentalitäten keine Abgrenzung mehr nach rechts stattfindet und die Breite der konservativen Basis die Erfahrung macht, dass es normal ist, so zu denken, dass es keine Autoritäten mehr gibt, die auf die Brandmauer nach rechts hin pochen, dann kommt da etwas ins Rutschen. Und das ist im Moment der Fall.
Das zeigt ja auch die aktuelle Migrationsdebatte infolge des Anschlags von Solingen und der AfD-Erfolge bei den Landtagswahlen. Sogar Teile der SPD nähern sich mit ihren Forderungen nach mehr Abschiebungen und Zurückweisungen der AfD und ihren Milieus an. Könnten also demnächst auch Parteien der Mitte aus Angst vor AfD-Erfolgen ihre Forderungen nach mehr Klimaschutz zurücknehmen?
Davon gehe ich aus. Die AfD könnte bald auch die klimapolitische Debatte prägen. Schon werden angesichts der jüngsten Krise bei VW Rufe lauter, die die umweltpolitischen Vorgaben für die Autoindustrie wieder infrage stellen.
Sie formulieren konkrete Anforderungen an eine sozial-ökologische Transformation und stellen klar, dass Umverteilung ein ganz wichtiger Punkt dabei ist. Wieso?
Weil Umverteilung, also die Begrenzung der größten Vermögen, eines der wirksamsten Mittel ist, Emissionen zu senken. Die Lebensweise der Reichsten verschmutzt Umwelt und Klima am meisten – nicht nur durch ihren Konsum, sondern auch dadurch, wie und wo sie ihr Geld anlegen und in welche Produkte sie investieren. Wir müssen diese Folgeschäden der Anhäufung von Reichtum in den Griff kriegen. Hinzu kommt: Die Menschen wissen, wer am meisten zu den Emissionen beiträgt. Wenn aber diejenigen die Kosten tragen sollen, die daran den geringsten Anteil haben, dann muss ich keinen rechten Verschwörungen anhängen, um das ungerecht zu finden. Insofern sollte zwingend wieder über Reichtumsverteilung und soziale Gerechtigkeit geredet werden – in beiden Dimensionen und ohne Furcht, sich auch mit Teilen der Bevölkerung anzulegen, die in ein Klassenbündnis zur Verteidigung von Besitzständen eingebunden sind.
Die Widerstände dieser Klassenallianz dürften enorm sein – gerade, wenn es um die Demokratisierung der Wirtschaft geht. Denn wenn beispielsweise Eigentümer von Chemiefabriken nicht mehr allein über Investitionen und Produktion entscheiden dürfen, rührt das an die Grundfesten bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften.
Allerdings! Aber die gegenwärtigen Krisen verlangen nach einem grundlegenden Umbau unserer Gesellschaften, nicht nach Pragmatismus. Wichtig ist auch: Die Demokratisierung der Wirtschaft erachten wir nur als notwendige, nicht als hinreichende Bedingung der sozial-ökologischen Transformation. Denn es ist ja nicht ausgemacht, dass in einem demokratischen Unternehmen die Belegschaft sofort aufhört, umweltschädliches Plastik herzustellen. Immerhin geht es um ihre Arbeitsplätze. Neben der Demokratisierung muss es auch um Suffizienz, also die Reduktion von Produktion und Konsum auf ein Maß gehen, das ökologische Grenzen einhält und die Befriedigung von grundlegenden materiellen und sozialen Bedürfnissen ermöglicht.
Die Themen Umverteilung und Obergrenzen für Superreiche könnten dazu führen, dass sich das ökosoziale Spektrum und die Mentalitäten aus dem konservativ-steigerungsorientierten und dem defensiv-reaktiven Spektrum wieder annähern. Denn viele Menschen mit unterdurchschnittlichem Einkommen würden davon profitieren. Warum gelingt es linken und ökologischen Akteurinnen und Akteuren nicht wirklich, diese Forderungen medienwirksam in die Öffentlichkeit zu tragen?
Das seit Jahrzehnten zur kaum hinterfragbaren Normalität gemachte neoliberale Gesellschafts- und Politikverständnis hat individuelle Freiheit zum alles überragenden Prinzip erhoben. Tatsächlich können aber gerade Verbote demokratisch und sozial gerecht sein. Wenn beispielsweise niemand mehr Inlands- oder Privatflüge anbieten kann, ist das viel gerechter, als wenn diese bloß teurer werden. Ein solches Verbot würde nur die Wohlhabendsten einschränken, die pro Kopf die größten Emissionen verantworten – sonst niemanden.
Wie ist in diesem Zusammenhang die von Ihnen vorgeschlagene «Politik der Internalisierung» zu verstehen?
Politik der Internalisierung bedeutet eine Einschränkung der Möglichkeiten, soziale und ökologische Lasten auf andere abzuwälzen, sprich, dass verbreitete Lebensweisen in Deutschland auf Ressourcen und Arbeitskraft in Ländern des Globalen Südens zugreifen und diesen dann auch noch mit Emissionen oder Müllexporten die Folgen aufbürden. Das verlangt im Kern die Aufwertung von Tätigkeiten der Sorge für Menschen und Natur – nicht indem die ein Preisschild aufgeklebt bekommen, sondern durch Ermächtigung der Menschen. Das stellt allerdings die Strukturen der vorherrschenden Lebensweise, der sozialen Arbeitsteilung und der Macht- und Herrschaftsverhältnisse stark infrage.
Was heißt das konkret?
Die Lieferkettengesetze in Deutschland und auf EU-Ebene sind ein Beispiel für einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Die verpflichten Unternehmen auf Menschenrechte und Umweltstandards in ihren globalen Lieferketten, schränken also ihre Externalisierungsmöglichkeiten ein.
Sie schlagen zudem eine «gezielte und langfristige Infrastrukturpolitik» vor. Damit, so habe ich Sie verstanden, ließe sich Umweltpolitik aus der Moralisierungs- und Appelle-Sackgasse befreien. Wie das?
Infrastruktur ist etwas Kollektives. Strukturen sind zunächst einmal unabhängig davon, ob jemand die richtigen Überzeugungen hat oder sich nach den richtigen Standards verhält. Eine ausgebaute Infrastruktur ermöglicht es, einen ökologisch verträglichen Alltag zu führen. Und dann ist es egal, was ich darüber denke, und es gibt keinen Anlass, sich darüber als moralisch überlegen darzustellen, wodurch sich dann andere abgewertet sehen. Es muss also darum gehen, gesellschaftliche Ressourcen in eine Infrastruktur zu investieren, die es zur Normalität macht, ökologisch zu leben.
Prof. Dennis Eversberg, geboren 1978, studierte Sozialpsychologie, Politische Wissenschaft und Rechtswissenschaften an der Leibniz Universität Hannover und promovierte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu den subjektiven Auswirkungen aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Er war dort Teil des DFG-Kollegs «Postwachstumsgesellschaften» und leitete die Forschungsgruppe «Mentalitäten im Fluss». Seit 2024 ist er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Umweltsoziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
«Der neue sozial-ökologische Klassenkonflikt – Mentalitäts- und Interessengegensätze im Streit um Transformation» von Dennis Eversberg, Martin Fritz, Linda von Faber und Matthias Schmelzer ist 2024 im Campus Verlag erschienen.
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Die Angst protestiert mit
Der «Schönauer Stromrebell 2024» Jakob Springfeld kämpft für Klimaschutz, für demokratischen Freiraum – und gegen rechts.
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«Wie schaffen wir eine machtvolle Gegenkultur?»
Die Fakten zur Klimakrise sind klar. Doch wir als Gesellschaft müssen ins Handeln kommen. Ein abendlicher Austausch in der «Kulturfabrik Moabit».