«Wir brauchen eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede»
Der Risikoforscher David Spratt im Gespräch mit Christian Mihatsch
Eine Klimaerwärmung über vier Grad würde die Menschheit existenziell bedrohen. David Spratt fordert daher eine Mobilisierung der gesamten Gesellschaft – wie in einem Krieg.
Die Klimagefahr ist größer als gemeinhin angenommen: Denn es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Klima mit einem Vier- oder Fünf-Grad-Sprung auf weitere Emissionen reagiert. Wenn die Menschheit den Empfehlungen des Weltklimarats (IPCC) folgt, kann sie die Erwärmung aber lediglich mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent auf 1,5 Grad Celsius begrenzen. Dabei lauern möglicherweise schon unter zwei Grad Erwärmung Kipppunkte, ab denen sich eine weitere Erwärmung nicht mehr stoppen lässt. Der IPCC vertraut den Fortbestand der menschlichen Zivilisation daher dem Ausgang eines Münzwurfs an. Für David Spratt vom australischen Thinktank «Breakthrough – National Centre for Climate Restoration» ist das zu riskant. Er fordert stattdessen eine Mobilisierung der gesamten Gesellschaft – wie in einem Krieg.
Herr Spratt, worin liegt das Problem mit den Berichten des Weltklimarats?
Der IPCC ist zu modellabhängig, das ist das Hauptproblem. Manche Elemente des Klimasystems sind linear und können gut prognostiziert werden. Aber es gibt viele nichtlineare Ereignisse – Kipppunkte, bei denen das System von einem Zustand in einen anderen wechselt. Diese können schlecht modelliert werden. Wir wissen daher oft nicht, dass wir einen solchen Punkt überschritten haben, bis es passiert ist. Die Gesetze der Physik interessieren sich nicht für unsere Prognosen − und schon unter zwei Grad könnten Kipppunkte liegen, ab denen sich die Klimaerwärmung selbst verstärkt. Diese Rückkopplungsprozesse des Klimasystems lassen sich ebenfalls nur schwer modellieren. Der IPCC berücksichtigt zum Beispiel zu wenig die Klimafolgen auftauender Permafrostböden. Das führt dazu, dass die Unterhändler bei den UN-Klimaverhandlungen von IPCC-Berichten abhängen, die kein korrektes Bild der Zukunft vermitteln.
Sie kritisieren auch den IPCC-Ansatz hinsichtlich des Risikomanagements.
Das Risiko wird berechnet als Wahrscheinlichkeit, multipliziert mit den Schäden. Aber wenn man über drei oder vier Grad Erwärmung redet, dann sind die Schäden überwältigend. In einem Vier-Grad-Szenario werden Milliarden Menschen nicht überleben. In diesem Fall sind die Schäden und damit auch das Risiko unendlich. Normales Risikomanagement, das Zahlen vergleicht, wird dann irrelevant. Normales Risikomanagement besagt: Wir machen es so gut wir können, und wenn wir versagen – etwa weil wir mehrere Flugzeugabstürze wegen eines Softwarefehlers haben –, dann lernen wir aus unseren Fehlern. Aber wenn wir das Klimasystem zum Absturz bringen, die Zivilisation zerstören, dann können wir nicht aus unseren Fehlern lernen. Das macht man nur einmal.
Der Zusammenbruch des Klimasystems ist ein existenzielles Risiko, und bei solchen Risiken muss man einen anderen Ansatz verfolgen. In der internationalen Klimapolitik wird zurzeit gesagt: Wir haben ein CO2-Budget, das uns erlaubt, das 1,5-Grad-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zu erreichen. Aber wir würden niemals ein Flugzeug besteigen, wenn wir nur in der Hälfte der Fälle ankommen. Wir würden es auch nicht bei einer Wahrscheinlichkeit von 66 oder 80 Prozent besteigen. Dennoch ist das die Methode in der internationalen Klimapolitik.
Wie müsste der Ansatz beim Risikomanagement denn aussehen?
Der IPCC sollte fragen: Was sind die Hochrisikoszenarien, die tatsächlich eintreten könnten? Denn diese sind viel wahrscheinlicher als gemeinhin bekannt. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung hat einen «Fat Tail». Man muss sich diese Fat-Tail-Ergebnisse anschauen und dann fragen: Was müssen wir tun, um das zu vermeiden? Wir wollen keine 50-Prozent-Wahrscheinlichkeit, dass wir die menschliche Zivilisation zerstören oder dass der Meeresspiegel um 25 Meter ansteigt. Wir wollen eine 0,001-Prozent-Wahrscheinlichkeit, dass dies passiert. Und das ist im Moment nicht Teil der Debatte. Dabei steuert die Welt mit den Selbstverpflichtungen der Länder im Rahmen des Paris-Abkommens auf mehr als drei Grad Erwärmung bis zum Jahr 2100 zu. Und dieser Wert blendet die Rückkopplungseffekte aus. Wenn man diese mitberücksichtigt, liegt die wahre Zahl wohl näher bei vier oder fünf Grad.
Wie konnte es passieren, dass die Menschheit auf einen Pfad der Selbstzerstörung gelangt ist? Wo hat das System − bestehend aus Politik, Wirtschaft und Medien − versagt?
Auf der internationalen Ebene haben wir mit dem IPCC und den UN-Klimaverhandlungen einen Prozess, der darauf ausgelegt ist, zu versagen. Man braucht Konsens, um etwas zu tun, und der Konsens produziert das kleinstmögliche Ergebnis, weil ein einziges Land sein Veto einlegen kann. Die Emissionen sind heute 50 Prozent höher als zu der Zeit, in der die UN-Klimaverhandlungen begannen. Wir brauchen ein anderes Modell, wo einige der großen Player entscheiden, gemeinsam zu handeln – und dann die anderen nachziehen.
Auf der nationalen Ebene haben die Politiker versucht, die Wissenschaft in einen politischen Rahmen zu pressen. Sie haben versucht, mit den Naturgesetzen zu verhandeln. Aber die Naturgesetze wollen nicht mit uns verhandeln. Es gibt ein politisches Paradigma, das besagt: Die Klimakrise ist ein Problem unter anderen, das gelöst werden muss. Das Klima ist aber nicht einfach ein anderes Problem. Wenn wir die Klimakrise nicht lösen, werden alle übrigen Probleme der Gesellschaft irrelevant.
Und schließlich wurde die Klimadiskussion innerhalb eines neoliberalen Paradigmas verortet. Dieses lautet: Ja, wir können etwas tun, aber nur, wenn es keinen signifikanten Bereich irgendeiner Volkswirtschaft der Welt beeinträchtigt. Das ist ein Widerspruch in sich. Die Kohle-, Öl- und Gasindustrie muss abgeschafft werden, und das wird viel Kapital vernichten. Aber das ist nötig.
Und was ist mit der Wirtschaft und den Medien?
Die Wirtschaft hat einen sehr kurzen Zeithorizont und denkt nicht 30 oder 40 Jahre in die Zukunft. Es geht um den Börsenkurs in den nächsten zwei oder drei Jahren. Die Wirtschaft ignoriert daher das Klimaproblem, obwohl es den Akteuren bekannt ist. Bei den Medien bestand das Problem darin, dass es nicht genug Prominente gab, die die Geschichte so erzählt haben, wie sie ist, und die dann von den Medien zitiert werden konnten. In den letzten beiden Jahren hat aber ein neuer Ton in der Konversation Einzug gehalten. Der UN-Chef spricht jetzt von «existenziellen Risiken» und sagt, es handle sich um einen «Klimanotstand». Außerdem gibt es jetzt die sehr brutalen und direkten Statements von Greta Thunberg. Damit haben wir endlich eine ehrliche Debatte darüber, wo wir sind. Aber es hat zu lange gedauert, um hier hinzukommen.
Was wäre eine adäquate Antwort auf die Klimakrise?
Als erstes brauchen wir eine «Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede» des Regierungschefs, idealerweise nach Rücksprache mit der Opposition. Dieser müsste sagen: Wir haben das Klimaproblem analysiert, und wir verstehen, dass das Risiko größer ist, als gemeinhin zugegeben wird. Das ist ein Moment der Krise − und es ist nicht einfach, darüber zu sprechen. Aber wir wurden gewählt, um die Menschen zu beschützen, und dazu müssen wir ehrlich sein. Wir müssen die ganze Gesellschaft mobilisieren, um eine Lösung zu finden. Manches wird schmerzhaft sein, aber der Vorteil ist: In 50 oder 100 Jahren werden wir immer noch eine funktionierende Gesellschaft haben. Wenn wir nicht handeln, dann haben wir diese nicht. Wir werden daher die Klimakrise ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit stellen, denn das ist die Priorität, die das Problem verdient. Es ist die «Kriegsrede».
Die «Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede» geht auf den britischen Premierminister Winston Churchill zurück, der am 13. Mai 1940 mit seiner Rede vor dem Unterhaus seine Landsleute auf den Krieg gegen Nazideutschland einschwor. «I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat» wurde zu einem der berühmtesten Churchill-Sätze überhaupt und läutete das Ende der britischen Appeasement-Politik ein. Die Dreiheit aus Blut, Schweiß und Tränen stammt aus dem 17. Jahrhundert von dem englischen Dichter John Donne. Auch Giuseppe Garibaldi, der italienische Freiheitskämpfer, hat von dieser Sprachfigur Gebrauch gemacht.
In angelsächsischen Ländern wird der Kampf gegen den Klimawandel oft mit der Mobilisierung im Zweiten Weltkrieg verglichen. Sie tun das in Ihrer Studie auch.
Das ist natürlich kein perfekter Vergleich, denn beim Krieg geht es um das Töten von Menschen – und beim Klima um den Versuch, Millionen, wenn nicht gar Milliarden Menschen zu retten. Aber der Vergleich zeigt, welche Anstrengungen nötig sind, wenn man einem Problem oberste Priorität einräumt. Im Jahr 1942 haben die USA 31 Prozent, Großbritannien 52 Prozent, Deutschland 64 Prozent und Japan 33 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts auf den Krieg verwandt. Es ist eine Geschichte von der Fähigkeit der Gesellschaft, auf eine überwältigende Gefahr zu reagieren.
In Australien, Großbritannien und Deutschland kommt es vermehrt zu zivilem Ungehorsam, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Ist das gerechtfertigt?
Ziviler Ungehorsam hat eine lange und ehrwürdige Geschichte. Wenn man sich Gandhi oder die Bürgerrechtsbewegung in den USA anschaut oder Osteuropa zur Zeit der Wende: Das waren alles Ereignisse mit massenhaftem zivilem Ungehorsam. Ungehorsam ist offensichtlich eine legitime Form des Handelns, wenn der politische Prozess nicht bereit ist, zu reagieren. Ob es die einzige Strategie ist, die ein Resultat erzielen kann, ist eine schwierigere Frage. Es existieren viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen. In Australien gibt es etwa die «Farmers for Climate Action». Verschiedene Gruppen werden sich unterschiedlich organisieren − und man sollte ihnen keine Taktik vorschreiben.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Wie gehen Sie mit dem Wissen um, dass unsere Zivilisation zerstört werden könnte?
Aus psychologischer Sicht ist das ein Riesenproblem. Man sieht es unter jungen und alten Menschen, unter Wissenschaftlern: Es gibt Verstörung, Angst, Depressionen angesichts der Aussicht, dass die menschliche Gesellschaft so dumm sein könnte, die Voraussetzungen für ihren eigenen Untergang zu schaffen. Das ist ein schockierender Gedanke. Ich habe eine Weile gebraucht, bevor ich das so artikulieren konnte. Aber nachdem ich es getan hatte, fühlte ich mich besser, weil ich nicht länger die Realität bekämpft habe. Ich akzeptierte, dass wir so dumm sein könnten. Der italienische Philosoph und Politiker Antonio Gramsci hat einmal «Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens» gefordert. Das ist es, was mich weitermachen lässt.
David Spratt
David Spratt, 1950 im australischen Armidale, New South Wales geboren, ist Forschungsleiter des Thinktanks «Breakthrough – National Centre for Climate Restoration». Der Ökonom und Analyst für Klimapolitik und -risiko ist Leitautor der Studie «What Lies Beneath: The scientific understatement of climate risks». Diese zeigt, dass die IPCC-Autoren in der Vergangenheit unterschätzt haben, wie schnell das Erdsystem auf die gestiegene CO2-Konzentration in der Atmosphäre reagiert, und dass sie der Gefahr einer extremen Erwärmung noch immer zu wenig Beachtung schenken. Die Studie steht im Internet kostenlos zum Download bereit.
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