Das Leid der Tschernobyl-Liquidatoren
Ein Bericht von Tilav Rasul-Zade
Rund 6.000 Tadschiken wurden zu Arbeiten nach Tschernobyl abkommandiert. Nur 1.800 von ihnen leben noch – und müssen bis heute um Unterstützung kämpfen.
Kibriyo Ganijewa kann sich noch gut an jenen Abend Anfang April im Jahr 1989 erinnern. Es war bereits dunkel, als die uniformierten Männer ihr Haus aufsuchten. Sie stellten sich als Mitglieder des örtlichen Militärkommissariats vor und wiesen ihren Ehemann Nosir an, am folgenden Tag mit seinen Habseligkeiten in einem Ausbildungslager zu erscheinen. Nosir Ganijew war damals 35 Jahre alt und ein angesehener Koch in Chudschand, einer Stadt im Norden Tadschikistans. Menschen aus dem ganzen Land seien zu seinem Restaurant gereist, um die Spezialitäten dort zu genießen, erzählt seine Frau. Als Nosir abreiste, habe er gesagt, dass er in die Ukraine geschickt würde – ohne den genauen Grund dafür zu kennen.
Kibriyo Ganijewas Mann wurde in der Ukraine als Liquidator bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl eingesetzt. Knapp sechs Monate später kehrte er zurück. Zuvor sei er ein kerngesunder Mann gewesen, erinnert sie sich. Zwar habe er im Anschluss daran noch arbeiten können, doch die hohe Strahlenbelastung zeigte bald schon ihre Wirkung. Nosir erkrankte an Leukämie und war lange Zeit bettlägrig. «Er hat seine Schmerzen tapfer ertragen und sich nie beschwert. Ich war die Einzige, die wusste, wie sehr er leidet», sagt Ganijewa.
Sieben Jahre nach seinem Einsatz in Tschernobyl starb Nosir Ganijew. In Gedenken an ihn begann seine Frau, sich für die Nichtregierungsorganisation «Union der Tschernobyl-Invaliden» zu engagieren. Heute leitet Ganijewa die Regionalgruppe in Chudschand, der zweitgrößten Stadt des Landes. Die Organisation spricht von insgesamt 6.000 tadschikischen Männern, die zwischen 1986 und 1991 als Liquidatoren eingesetzt wurden. Heute, 35 Jahre nach dem Super-GAU, leben noch rund 1.800 von ihnen.
Über die Liquidatoren
Sie löschten den Brand, beseitigten hoch radioaktiven Müll und errichteten einen riesigen Betondeckel über dem havarierten Reaktor: Rund 800.000 meist junge Männer aus der Sowjetunion wurden in den ersten Jahren nach der Katastrophe von Tschernobyl als sogenannte Liquidatoren eingesetzt. Fast alle Helfer hatten danach mit Strahlenkrankheiten zu kämpfen. Bis zum Jahr 2005 verstarben laut einer Studienauswertung des Biologen Alexei W. Jablokow von der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau 112.000 bis 125.000 ehemalige Liquidatoren.
Die Helfer stammten aus allen Ecken der Sowjetunion. Auch aus dem zentralasiatischen Tadschikistan, mehr als 3.000 Kilometer vom Unglücksort entfernt, schickte die sowjetische Führung Tausende Rekruten nach Tschernobyl. Die Männer aus der bitterarmen Sowjetrepublik wurden in die Ukraine gebracht, ohne zu ahnen, was sie dort erwartet. 35 Jahre nach der Reaktorkatastrophe leiden die Überlebenden noch immer unter starken gesundheitlichen Folgen und kämpfen um Anerkennung und Unterstützung.
Auch Nachkommen der tadschikischen Liquidatoren wie Ganijews jüngste Tochter waren betroffen. Sie ist das einzige von vier Kindern, das nach der Rückkehr von Nosir aus dem verstrahlten Gebiet geboren wurde. Die heute 24-Jährige ist an Blutarmut erkrankt. Laut der Union der Tschernobyl-Invaliden leiden in Tadschikistan mehr als 1.300 Kinder von Liquidatoren unter chronischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen. Die Strahlenbelastung war stark genug, um Folgen für die Gesundheit mehrerer Generationen zu haben.
Bewusst in die Irre geführt
Die meisten tadschikischen Männer, die man in das weit entfernte Katastrophengebiet in der Ukraine geschickt hatte, waren Rekruten und Reservisten aus Baubataillonen der Sowjetarmee – unter ihnen Schweißer, Betonbauer, Maler, Kranführer oder Lkw-Fahrer. Es waren junge und gesunde Männer, viele mit Familien, die nicht ahnten, wo genau und für welche Zwecke sie eingesetzt werden sollten – und was für Folgen das nach sich ziehen konnte. Und viele erfuhren erst Monate oder gar Jahre nach ihrer Rückkehr aus Tschernobyl, dass sie dort hohen Strahlendosen ausgesetzt gewesen waren und schwer erkranken könnten.
Die Offiziere sagten nur, dass ich nach Russland geschickt werde, um dort neue Wohngebäude zu errichten.
Auch der Betonbauer Komidschon Obidschonow aus Chudschand wurde als junger Mann von einem Tag auf den nächsten eingezogen. «Die Offiziere sagten nur, dass ich als Teil eines Bauteams nach Russland geschickt werde, um dort neue Wohngebäude zu errichten», erinnert sich Obidschonow.
Andere Liquidatoren berichten, man habe ihnen mitgeteilt, dass das Kriegsrecht ausgerufen worden wäre und man nun ausrücken müsse, um Häuser in der Stadt Slawutytsch in der Ukrainischen Sowjetrepublik zu bauen. Da die Rekruten einen militärischen Eid abgelegt hatten, wäre eine Verweigerung des Befehls mit Verrat oder Fahnenflucht gleichgekommen.
20 Minuten Arbeit – gefährliches Tagwerk im Reaktor
Die Männer wurden mit Zügen in die Ukraine gebracht. Das wahre Ziel ihrer Reise verschwieg man ihnen bis zur Ankunft. «Als wir ankamen, wurden wir in einem Militärlager rund 18 Kilometer von Tschernobyl entfernt untergebracht», erzählt Obidschonow. «Sie gaben uns Overalls, dazu eine Gasmaske, und schickten uns zur Arbeit.» Er habe im fast vollständig zerstörten Block 4 des Kernkraftwerks gearbeitet und getan, was ihm aufgetragen wurde, zum Beispiel Baumaterialien entsorgt. Ein Arbeitstag habe nur 20 Minuten gedauert. «Danach sind wir alle mit einem speziellen Gerät untersucht worden», sagt Obidschonow. «Die Kleidung wurde chemisch behandelt, dann in einen verschließbaren Behälter geworfen und irgendwo vergraben.»
Auch Berichte anderer tadschikischer Liquidatoren zeigen, wie wenig Rücksicht auf ihre Sicherheit genommen wurde. Sie mussten das Unfallgelände von kontaminierten Gegenständen säubern, organisierten Transporte und gossen Beton. Angetrieben wurden sie dabei von Offizieren, die sich um die «patriotische Erziehung» der Liquidatoren kümmerten.
Agsam Hodschijew, der aus einem Dorf im Norden Tadschikistans stammt, erzählt über den Arbeitsalltag in Tschernobyl: «Je nach Ausbildung wurden wir in Gruppen eingeteilt, die jeweils aus zehn Personen bestanden. Am gefährlichsten war die Arbeit im Block. Unsere Aufgabe dort war es, Metallstücke und Bauschutt zu sammeln und in eine spezielle Kiste zu werfen. Die wurde dann von anderen gereinigt. Manchmal haben wir auch andere Aufgaben übernommen und etwa Wasser aus überfluteten Wohnhauskellern in der Nähe des Atomkraftwerks gepumpt.»
Eigentlich habe es Vorgaben gegeben, wie lange bestimmte Tätigkeiten ausgeführt werden dürfen, erzählt Hodschijew. Das entsprechende Dokument hätten die Offiziere aber lange Zeit unter Verschluss gehalten. Als er es schließlich einsehen konnte, habe sich herausgestellt, dass er über der Norm arbeitete – und beispielsweise statt 15 Minuten eine halbe Stunde an besonders stark kontaminierten Orten eingesetzt worden war. «Leider haben wir von diesen Verstößen zu spät erfahren; es hätte keinen Sinn mehr gehabt, irgendwelche Ansprüche geltend zu machen», sagt er.
Wir wussten nichts über die zulässige Strahlendosis und verstanden die Gefahr nicht.
Auch auf die Bedeutung der sogenannten Akkumulatoren – ein kleines Gerät, das die Strahlendosis speichert und wie ein Abzeichen an ihrer Kleidung angebracht wurde – seien sie nicht hingewiesen worden, beklagt Hodschijew. «Wir trugen die eine Woche lang, dann wurden sie abgenommen und nach Kiew gebracht. Daraufhin erhielten wir neue. Aber wir wussten nichts über die zulässige Strahlendosis und verstanden die Gefahr nicht.»
Hodschijew litt im Anschluss an seinen Einsatz an Schwäche, Schwindel, chronischen Rückenschmerzen und inneren Erkrankungen. «Ein anderer Liquidator, den ich kannte, starb kurz nach seiner Rückkehr. Viele unserer Kollegen hatten nicht das Glück, bis heute zu überleben, obwohl sie noch recht jung waren», berichtet er.
Heutzutage ist es fast unmöglich, noch lebende Personen aus dem Kreis jener Tadschiken zu finden, die unmittelbar nach der Katastrophe in Tschernobyl eingesetzt wurden. Berichten späterer Liquidatoren zufolge wurden die ersten Gruppen direkt in die Anlage gebracht, wo sie extremen Strahlendosen ausgesetzt waren, die alle lebenswichtigen Organe des Körpers angriffen. Viele von ihnen starben innerhalb von kurzer Zeit an Krebs und anderen Krankheiten.
Kerngesund gegangen, schwer krank heimgekehrt
Der Betonbauer Komidschon Obidschonow ist heute 66 Jahre alt und leidet noch immer unter den gesundheitlichen Folgen seiner Arbeit als Liquidator. «Ich hatte zwei Kinder, bevor ich nach Tschernobyl ging. Als ich zurückkehrte, bekamen wir keine weiteren Kinder, obwohl meine Frau und ich das wollten», erzählt er. Er habe nach Tschernobyl alle Zähne verloren, sein Gedächtnis ließ nach, die Gelenke fingen an zu schmerzen. «Ich war jung und gesund, aber kam schwer krank zurück.»
Wie die meisten der ehemaligen Liquidatoren ist Obidschonow arbeitsunfähig und lebt heute von einer monatlichen Rente von umgerechnet 58 Euro. Den größten Teil davon gibt er für Medikamente zur Behandlung seiner Erkrankungen aus, die auf die Strahlenbelastung zurückzuführen sind. Für das tägliche Überleben bleibt ihm nur wenig Geld.
Wir sollen uns jedes Jahr in einer Kureinrichtung behandeln lassen. Aber dafür reicht das Geld nicht aus.
Die Regierung Tadschikistans hat 2007 ein Gesetz zum Schutz der Tschernobyl-Invaliden verabschiedet. Es sieht vor, dass direkt Betroffene sowie deren Kinder Anspruch auf Sozialleistungen haben. Ihnen werden Steuervergünstigungen gewährt und sie sollten kostenlos medizinische Versorgung und Medikamente erhalten. Tatsächlich müssten sie jedoch viele teure Medikamente auf eigene Kosten besorgen, beklagen Betroffene.
Hilfen für Überlebende gestrichen
«Es wird empfohlen, dass wir uns jedes Jahr einer 24-tägigen Behandlung in einer staatlichen Kureinrichtung unterziehen», sagt der ehemalige Liquidator Abduwachob Khodschibojew. Der Staat stelle jedem Tschernobyl-Überlebenden dafür zwar 2.930 Somoni (rund 210 Euro) zur Verfügung. Diese Summe decke jedoch nicht sämtliche Kosten der Behandlung in den Sanatorien. «Deshalb muss man entweder die Aufenthaltsdauer verkürzen oder aus eigener Tasche zuzahlen.» Zudem habe der Staat Leistungen für Tschernobyl-Invaliden wieder gestrichen, kritisiert Khodschibojew. «Bis 2007 haben wir für Strom, Wasser und Müllentsorgung nichts bezahlt, jetzt zahlen wir den Strom komplett und die Hälfte der Rechnung für Wasser und Müllentsorgung.»
Kibriyo Ganijewa, die damals ihren Mann verloren hat, unterstützt mit ihrer Organisation Tschernobyl-Überlebende und Angehörige. «Es geht darum, sie zu stärken und sie zu beraten, wo man rechtliche Hilfe erhalten kann», sagt Ganijewa. Auch finanzielle Hilfen seien wichtig. Der Verein versuche beispielsweise, die Regierung dazu zu bringen, die Stromkosten der Betroffenen wieder komplett zu übernehmen.
Einmal noch nach Tschernobyl zurück
Die tadschikischen Tschernobyl-Invaliden kämpfen noch immer Tag für Tag mit den Folgen ihrer unfreiwilligen Hilfeleistung in der ukrainischen Sperrzone vor über drei Jahrzehnten. Gute Erinnerungen haben manche an die Bekanntschaften, die sie damals mit Menschen aus allen Ecken der Sowjetunion gemacht haben – und mit denen sie im Unglück vereint sind. Abduwachob Khodschibojew antwortet auf die Frage, was er sich noch im Leben wünsche: «Ich möchte Tschernobyl noch einmal besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie es dort jetzt aussieht. Tschernobyl hat schließlich unser ganzes Leben verändert.»
Wenn die Welt am 26. April der Katastrophe von Tschernobyl gedenkt, werden die tadschikischen Liquidatoren nicht innehalten. Weil der Tag in diesem Jahr in den muslimischen Fastenmonat Ramadan fällt, haben sie beschlossen, die Gedenkfeier zu verschieben. Derweil kämpfen sie weiter um Anerkennung und Entschädigung – und beten zu Gott, dass sich eine solche Tragödie niemals wiederholt.
Über diesen Bericht
Für die russische Nachrichtenplattform «Fergana News» schrieb der tadschikische Journalist Tilav Rasul-Zade 2020 über das Schicksal der Liquidatoren aus Tadschikistan. Auf unsere Bitte hin aktualisierte und ergänzte er seinen Bericht für das Energiewende-Magazin. Die Übersetzung lieferten Hannah Riedler und Florian Coppenrath von «Novastan.org», einer Nachrichtenseite, die auf Deutsch, Französisch und Englisch über Zentralasien berichtet.
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