Aus Eis wird Flut
Ein Bericht von Benjamin von Brackel
Der grönländische Eisschild verliert zunehmend an Masse. Gelingt es nicht, das Abschmelzen zu bremsen, könnte der Meeresspiegel um sieben Meter steigen.
Im Morgengrauen des 14. August 2021 ereignete sich am Ende der Welt Geschichtsträchtiges: Auf 3.216 Metern, an der höchsten Stelle des grönländischen Eisschilds, befindet sich eine Beobachtungsstation der US-amerikanischen «National Science Foundation» (NSF). Inmitten jener riesigen Eiswüste studieren Wissenschaftler die Physik und Chemie von Schnee und Eis. An diesem rauen Ort kam es um fünf Uhr morgens zu einer kleinen Veränderung, die großes Unheil ankündigen könnte: Das Quecksilber in den Thermometern stieg über den Gefrierpunkt auf 0,48 Grad Celsius. Etwa zur gleichen Zeit begann es zu regnen.
Einige Stunden hielt der Regen an – und die fünf Forscher der Beobachtungsstation «Summit Station» schauten entgeistert zu, wie die Tropfen den Schnee benetzten. Schon gegen Mittag gefroren sie und bildeten eine glitzernde Schicht aus Eiskristallen. Kurz nach 14 Uhr fielen die Temperaturen wieder unter den Gefrierpunkt, bevor am nächsten Morgen wie gewohnt klirrend kalte minus 8,5 Grad herrschten – als wäre nichts gewesen. Dabei war gerade Ungeheuerliches passiert.
Ein flüssiger Zustand als Novum
Noch nie seit Beginn der kontinuierlichen Beobachtungen in den 1980er-Jahren hatte es auf dem höchsten Gipfel Grönlands geregnet, noch nie war überhaupt von Regen in dieser eiskalten Region berichtet worden. Und auch Computersimulationen legen nahe, dass dort seit Zehntausenden von Jahren immer nur Schnee auf Schnee gefallen war. Der minimale Temperaturanstieg brachte zugleich auf mehr als der Hälfte der Fläche Grönlands die Schneeschichten zum Schmelzen, wie Auswertungen von Satellitenaufnahmen zeigten.
Extremes Wetter heute über dem grönländischen Eisschild … Temperaturanomalie von +18 °C.
Derartiges hatte es zwar schon ein paarmal zuvor auf einem Großteil gegeben: 2019, 2012, 1995 und davor zuletzt Ende des 18. Jahrhunderts – damals allerdings zum Höhepunkt der Schmelze Mitte Juli, nicht im für gewöhnlich kühleren August.
Grönlands Eisschild ist der zweitgrößte der Welt. Über Jahrmillionen türmte sich dort immer neuer Schnee auf dem Eisschild auf, ohne zu schmelzen; dafür war es zu kalt. Im Laufe der Zeit pressten die Schneemassen die tieferen Lagen zu Eis zusammen. Der Eispanzer war auf diese Weise auf eine Fläche von 1,7 Millionen Quadratkilometer und eine Dicke von drei Kilometern angewachsen, bis sich ein natürliches Gleichgewicht eingestellt hatte: Jedes Jahr produzierte der Schneefall in etwa dieselbe Menge an neuem Eis, wie sie am Rand oder am Grund des Eisschilds wieder abfloss.
Ein Gleichgewicht gerät ins Schwanken
So war es jedenfalls bis Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und mit ihr die globale Erwärmung einsetzte – und auf einmal mehr Eis schmolz, als sich durch Schneefall neu bilden konnte, wie eine Analyse von Eisbohrkernen im Jahr 2018 ergab. Anfangs noch auf so geringem Niveau, dass sich der Eisverlust kaum von den natürlichen Schwankungen von Jahr zu Jahr oder Jahrzehnt zu Jahrzehnt abhob. Erst ab Mitte der 1990er-Jahre wurde er unübersehbar: Zunehmend verlor der Eisschild an Masse und wurde zur größten Quelle für den weltweiten Meeresspiegelanstieg.
Bisher übertrafen die tatsächlichen Verluste immer die zuvor projizierten.
Zwischen 1992 und 2020 waren es dem jüngsten IPCC-Bericht zufolge beinahe 5.000 Gigatonnen Eis, was die Weltmeere um fünf Zentimeter anhob. Zur Veranschaulichung: Eine Gigatonne entspricht der Wassermasse eines ein Kubikkilometer großen Würfels. «Bisher übertrafen die tatsächlichen Verluste immer die zuvor projizierten», sagt der Glaziologe Ingo Sasgen vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. «Das liegt möglicherweise an einem stärkeren Einfluss von Rückkopplungen, die nicht vollständig in den Modellen abgebildet sind.»
Die große Sorge: Erwärmt sich die Erde weiter, könnte irgendwann eine Schwelle erreicht sein, ab welcher der grönländische Eisschild unumkehrbar abschmilzt – ganz gleich, wie viele Solaranlagen wir auf Dächer zimmern oder Windräder wir dann noch aufstellen. Erste Computermodelle spuckten eine Spanne an Erderwärmung aus, ab der es kein Zurück mehr geben könnte: 0,8 bis 3,2 Grad. Klimaforschern und Glaziologen ist diese Spannbreite noch deutlich zu groß; sie wollen genau wissen, wo die Schwelle liegt. Denn schließlich wären die Folgen eines kompletten Abschmelzens des grönländischen Eisschilds gewaltig – und sie würden das Gesicht der Erde für immer verändern.
Apokalyptisch anmutende Folgen der Schmelze
Die Weltmeere würden sich um über sieben Meter heben und ganze Länder wie Bangladesch oder die kleinen Inselstaaten im Südpazifik untergehen, genauso wie zahlreiche Metropolen wie Shanghai, New York oder Hamburg. Der massenhafte Abfluss von Süßwasser in den Nordatlantik dürfte außerdem die «Atlantische Meridionale Umwälzströmung» (AMOC) zusammenbrechen lassen, ein Förderband im Ozean, das über den Golfstrom subtropisches Warmwasser bis nach Europa leitet. Europa würde dies einen Kälteeinbruch bescheren und der Antarktis einen Wärmeschub – samt weiter beschleunigtem Eisverlust. Auch Monsunregenfälle rund um den Äquator würden sich verschieben und damit unabsehbares Chaos anrichten. Doch je nachdem, wo genau die Schwelle liegt, könnte die Menschheit noch eingreifen.
Deshalb untersuchen Wissenschaftler aus aller Welt fieberhaft den Eisschild – mithilfe von Eisbohrkernen, historischen Fotos, Luftaufnahmen und Satellitenmessungen. Sie wollen wissen, ob der mächtige Eisriese schon dem Untergang geweiht oder noch zu retten ist.
Einer davon ist Niklas Boers. Der Physiker und Klimaforscher kann den grönlandischen Eisschild untersuchen, ohne dafür seinen beheizten Büroplatz im Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) am Telegrafenberg verlassen zu müssen. Um zu überprüfen, ob der Eisschild kurz vor einem Kipppunkt steht, hat er sich auf die Suche nach Frühwarnsignalen begeben. Er nahm den Jakobshavn-Gletscher nahe der 5.000-Einwohner-Küstenstadt Ilulissat im Westen des Landes in den Blick, einen der größten sogenannten Auslassgletscher auf Grönland.
Volatile Schmelzraten: Naht der Kipppunkt?
Der Jakobshavn-Gletscher fließt direkt in den Ozean ab und verliert mehr Eis als jeder andere Gletscher auf Grönland – kein Wunder, dass er besonders sorgfältig untersucht wird. Diverse Forschungsteams haben Eisbohrkerne auf 2.200 bis 2.500 Metern aus dem Eisinneren gezogen. Boers analysierte die Daten, glich sie mit Temperaturaufzeichnungen ab und speiste alles in Computermodelle, um Schmelzrate und Höhe des lokalen Eisschilds der vergangenen 180 Jahre zu bestimmen. Das Ergebnis: Um 30 bis 50 Meter hat der Jakobshavn-Gletscher in den vergangenen zwei Jahrzehnten an Höhe eingebüßt, also deutlich mehr Eis durch Abfluss verloren, als er durch Schnee an Masse neu gewinnen konnte. Was Boers aber vor allem interessierte, waren die Schmelzraten. Sie stiegen über die Zeitdauer an, allerdings nicht gleichmäßig, wie er es mit seinem Kollegen Martin Rypdal von der Arktischen Universität Norwegen 2021 in einer Studie beschrieb. Von Jahr zu Jahr nahmen die Ausschläge in die eine oder andere Richtung zu. Und das gab Boers zu denken.
Die Schwankungen in der Schmelzrate nehmen stark zu.
Wenn sich der Eisschild in einem Gleichgewichtszustand befindet, wird er von mehreren Kräften im Zaum gehalten. Verschwinden diese Barrieren aber, kann das System auf einmal frei fluktuieren – Wissenschaftler sprechen hier vom «Flimmern». Für die Glaziologen ist das ähnlich beunruhigend wie für die Ärzte im Operationssaal. Es ist genau das Frühwarnsignal, das Boers gesucht hatte, welches auf einen nahenden Kipppunkt hindeutet. «Die Schwankungen in der Schmelzrate nehmen stark zu», erklärt er. Das deute darauf hin, dass die Stabilität des Eisschilds verloren geht. «Wir haben uns dem Kipppunkt genähert – und der zentral-westliche Teil des grönländischen Eisschilds hat diesen womöglich sogar schon erreicht.»
Rückkopplungseffekte erhöhen die Schmelzrate
Einen kompletten Eisverlust Grönlands könnten zwei Prozesse einleiten, die sich ab einem gewissen Grad der Erwärmung selbst verstärken: Der erste hängt mit der Höhe des Eispanzers zusammen: Je dicker der Eisschild, desto kälter sind die Luftschichten an seiner Oberfläche. Umso häufiger aber im Jahr der Gefrierpunkt überschritten wird, desto mehr Schnee schmilzt. Der Eisschild schrumpft und setzt die Oberfläche immer tiefer gelegenen und damit wärmeren Luftschichten aus. Die Eisschmelze beschleunigt sich, bis irgendwann der Moment erreicht ist, ab dem es kein Halten mehr gibt.
Eine zweiter Rückkopplungsprozess dürfte zumindest für den Jakobshavn-Gletscher noch entscheidender sein: der «Albedo-Effekt». Die obersten 50 Meter des Eisschilds bestehen aus Firn, also Schnee, der mindestens einen Sommer überstanden hat. Er ist weiß und reflektiert die Sonnenstrahlen zurück ins All. Schmilzt er weg, entblößt er das Eis darunter – und das ist grau. Dunklere Oberflächen absorbieren die Sonnenstrahlen viel besser, dementsprechend mehr Wärme nehmen sie auf, was noch mehr Firn abschmelzen lässt. Das Verschwinden des Altschnees ist aber noch aus einem anderen Grund problematisch: Schmelz- und Regenwasser, das sonst in den Firn einsickert, dort gefriert und damit gebunden wird, fließt nun über die blanken Eisflächen direkt in den Ozean ab.
Zumindest eine kleine Ruhepause war dem Gletscher zuletzt vergönnt: Seit 2016 hat sich sein Schwund dank kälterer Wasserströmungen rund um Südgrönland verringert. NASA-Daten zeigten, dass sich der Ausfluss verlangsamt hat und die Gletscherfläche sich wieder in Richtung Nordatlantik ausdehnt. Solche kurzfristigen Ausschläge würden jedoch nichts am langfristigen Trend des zunehmenden Eisverlusts ändern, so Boers. «In den nächsten Jahrzehnten werden die Schmelzraten trotz größerer Fluktuationen weiter zunehmen.»
Davon ist auch Michael Bevis, Professor für Geodynamik an der Ohio State University, überzeugt. Der Mann mit dem grauen Bart und der Hornbrille ist sich ziemlich sicher, auf ein besorgniserregendes Muster gestoßen zu sein – ein Muster, das ihm erst ein Blick aus dem All offenbart hat.
Tom und Jerry machen eine Entdeckung
Am 17. März 2002 startete eine Trägerrakete im Nordwesten Russlands, um in 500 Kilometern Höhe zwei Satelliten in die Umlaufbahn der Erde zu entlassen. Diese Zwillingssatelliten mit dem Namen GRACE («Gravity Recovery and Climate Experiment») sind baugleich und haben die Form eines abgeflachten Hausdachs. Die Satelliten folgen einander in 200 Kilometern Abstand – und weil sich beide dabei nie einholen, nennen die Wissenschaftler sie auch «Tom und Jerry».
Mit ihren Sensoren tasten sie die Erde ab und messen die Schwerkraft. Diese hängt von der Masse darunter ab: Sie ist in den Bergen daher größer als im Tiefland oder an der Meeresoberfläche. An den meisten Orten verändert sie sich innerhalb eines Jahres kaum, wenn sich nicht gerade irgendwo ein Erdbeben ereignet. Vielleicht hebt oder senkt sie sich mal um ein oder zwei Millimeter. Die Sensoren der GRACE-Satelliten stellten aber beim Überfliegen einer bestimmen Region Veränderungen von zehn oder zwanzig Millimetern fest – und zwar über dem grönländischen Eisschild. «Die Eismassen drücken mit ihrem ganzen Gewicht auf den Boden», erklärt der Erdwissenschaftler Michael Bevis. «Schmilzt das Eis jedoch ab, hebt sich der Boden langsam wieder. «Grönland entgletschert also.»
Jedes Jahr, so zeigte sich, verlor Grönland im Schnitt 280 Gigatonnen Eis, was bis zum Jahr 2016 einem Meeresspiegelanstieg von mehr als einem Zentimeter entsprach. Allerdings passierte das keineswegs gleichmäßig von Jahr zu Jahr: Anfangs verabschiedeten sich nur relativ geringe Eismengen in den Ozean, bis es im Jahr 2012 einen regelrechten Sprung auf 400 Gigatonnen gab. Das entsprach einer fast viermal so hohen Schmelzrate als noch im Jahr 2003. Nach einer Pause in den Jahren 2013 und 2014 nahm der Eisverlust erneut an Fahrt auf.
Was Bevis jedoch besonders überraschte, war der Ort, an dem sich der Eisverlust am schnellsten beschleunigte. Dieser ließ sich mithilfe von GPS-Sensoren im Südwesten Grönlands lokalisieren. Dabei galten bis dahin der Nordwesten und Südosten mit ihren großen Auslassgletschern als Hotspots des Eisverlusts. Dort kalben riesige Eisberge oder schieben Gletscher ihre Eiszungen in den Ozean hinein. Im Südwesten aber gibt es kaum Gletscher. Was also war die Ursache für den schnellen Eisverlust?
Bevis fand sie weiter im Landesinneren: Dort, in den Gebirgen und Hochebenen, schmelzen im Sommer große Mengen an Schnee. Das Schmelzwasser drängt daraufhin in unzähligen Flüssen bis in den Ozean. Innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte, so prognostiziert der Erdwissenschaftler, dürfte sich der Südwesten Grönlands zu einer der Hauptquellen für den Meeresspiegelanstieg entwickeln. Zwar ist die größte Quelle für den Eisverlust immer noch das Kalben von Eisbergen in den Ozean – allerdings bereits dicht gefolgt vom Schnee, der im Inland schmilzt, sich zu Flüssen vereinigt und in den Ozean abfließt. Schon die ersten europäischen Siedler, die im 18. Jahrhundert die Insel erforschten, konnten Flüsse aus Schmelzwasser beobachten, die von den Eiskanten in den Ozean abstürzten. «Das betraf aber nur tief liegende Gebiete im Süden, und das auch nur im Hochsommer», sagt Bevis. Gegenüber den Jahren 1960 bis 1990 hat sich die Eisschmelze inzwischen fast verdoppelt. Sie ist damit zum Motor des beschleunigten Eisverlusts geworden.
Die Jahresmassebilanz des grönländischen Eises ist mittlerweile praktisch Jahr für Jahr negativ – was bedeutet, dass in einem Jahreszeitraum deutlich mehr Eismasse abschmilzt und durch Kalben verloren geht, als an Neuschneemasse dazukommt.
Ein Wetterphänomen begünstigt die Eisschmelze
Bevis sah sich die Datenreihe noch einmal ganz genau an. Denn was ihn irritierte, war die «Pause» in den Jahren 2013 und 2014, als Grönland auf einmal in der Summe keinerlei Eis mehr verlor. Dabei stieß er schließlich auf ein natürliches Wetterphänomen namens «Nordatlantische Oszillation» (NAO), also auf regelmäßig wiederkehrende Schwankungen des Luftdruckunterschieds zwischen dem Islandtief in Nordeuropa und dem südeuropäischen Azorenhoch. Ist der Druckunterschied zwischen beiden besonders stark, herrscht eine positive Phase. Westwinde werden angetrieben und die Westküste Grönlands kühlt ab, was die Eisschmelze unterdrückt. In einer negativen Phase aber, wenn Islandtief und Azorenhoch nur schwach sind, schlafen die jeweiligen Wetterlagen förmlich ein und bleiben, wo sie sind. Hochdruckgebiete lenken warme Luft aus dem Süden zur Westküste Grönlands hinauf und sorgen für einen wolkenlosen Himmel. So ist der Schnee der ganzen Kraft der Sonne ausgesetzt. Die Eisschmelze beschleunigt sich, gleichzeitig bleibt Neuschnee aus, der den Verlust hätte ausgleichen können. Es kommt zu Rekordabflüssen wie im Jahr 2012 oder 2019.
Im Prinzip gab es diese Schwankungen schon immer, sagt Bevis. Nur sei es bis vor wenigen Jahrzehnten so kalt gewesen, dass das Wetterphänomen keine große Rolle gespielt habe. Inzwischen hat allerdings der Klimawandel Grönland so stark erwärmt, dass die Schwelle beinahe erreicht ist, ab der im Sommer große Teile der Eisoberfläche schmelzen. Da reicht ein natürliches Wetterphänomen wie die Nordatlantische Oszillation aus, um unter bestimmten Bedingungen die Temperaturen schon heute über die kritische Schwelle zu heben, wie Bevis in einer viel beachteten Studie 2019 darlegte. Er nennt die Oszillation einen «Königsmacher» für die Eisschmelze. In seiner negativen Phase gewährt uns das Wetterphänomen sozusagen einen Blick in die Zukunft.
So wie im Jahr 2019, als die Schmelzsaison schon Ende April 2019 begann. Forscherteams filmten am Boden graue Rinnsale, die zwischen Felsen und Eismassen hindurchschwappten, sowie Wasserfälle, die an den Rändern der Eisschilde hinabstürzten. Und aus dem Flugzeug blaue Flüsse und Seen inmitten der Schneelandschaft. Der Aggregatszustand war von fest zu flüssig gewechselt. Genau so dürfte in 30 bis 50 Jahren jede Schmelzsaison aussehen, nimmt Bevis an.
Er vergleicht das mit einem anderen Kippelement in unserem Ökosystem: der Korallenbleiche in tropischen Gewässern. Diese tritt immer dann auf, wenn es El-Niño-Jahre gibt, in denen sich der östliche Pazifik ungewöhnlich stark erwärmt. Noch vor dem Jahr 1980 hatte das natürliche Wetterphänomen aber keinerlei Einfluss auf die Korallenriffe – es gab einfach keine Bleichen. Erst die Erderwärmung hat die Temperaturen nahe an die gefährliche Schwelle gehoben, die nun durch El Niño immer mal wieder überschritten wird.
Wir werden schon bald eine Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs sehen.
Beide Systeme würden derzeit zwischen der alten und neuen Verhaltensweise hin und her taumeln. «Aber bald werden sie dauerhaft in den neuen Modus kippen», sagt Bevis. Dann dürfte die Erderwärmung so stark sein, dass jeden Sommer Korallen rund um den Äquator bleichen und die Eisoberfläche Grönlands schmilzt, egal, was für ein regionales Klimaphänomen gerade herrscht. «Wir werden schon bald eine Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs sehen», sagt der Geophysiker. Die Bewohner von tief liegenden Städten wie Miami würden das schnell zu spüren bekommen. Wer dort heute noch in Küstennähe Häuser baue, würde russisches Roulette spielen. «Bevor sie tatsächlich überschwemmt werden, haben Hurrikans die Siedlungen längst zerstört, da diese immer leichteres Spiel haben, auf das Festland überzuspringen.»
Stabiler Zustand auf neuem Niveau?
Wird der grönländische Eisschild nun unumkehrbar innerhalb der nächsten Jahrhunderte oder Jahrtausende seinen Eismantel ablegen und die Meereshöhe um sieben Meter steigen? Nicht unbedingt. Wissenschaftler halten es für möglich, dass nach Überschreiten eines Kipppunkts der Eisschild so lange schmelzen wird, bis sich auf niedrigerer Höhe wieder ein neuer stabiler Zustand einpendelt. Haben sich zum Beispiel die Gletscher an den Küsten erst bis aufs Festland zurückgezogen, kann das wärmere Meerwasser das Eis nicht mehr angreifen und es brechen keine großen Brocken mehr in den Ozean. «Nur» noch die steigenden Lufttemperaturen tragen zum Eisverlust bei. Erst wenn diese weiter anwachsen und eine neue Schwelle überschreiten, gerät der Eisschild abermals aus dem Gleichgewicht. «Es ist gut möglich, dass der aktuelle Zustand des Eisschilds bereits bei einer Erderwärmung von weniger als zwei Grad Celsius über dem vorindustriellen Durchschnitt instabil wird», sagt Niklas Boers. «Unsere Hoffnung ist, dass es weitere stabile Zustände bei niedrigeren Eisdicken gibt, sodass es nicht zu einem vollständigen Abschmelzen kommt.»
Was aber, wenn es solche Zwischenstadien nicht gibt? «Dann müssten wir möglicherweise noch innerhalb dieses Jahrhunderts die Erderwärmung unter den aktuellen Wert von etwa einem Grad Celsius zurückführen, um den grönländischen Eisschild noch zu retten», sagt Boers. Das allerdings hält er für praktisch unmöglich.
Schon bei einer Erwärmung zwischen 1,5 und 2 Grad könnte der grönländische Eisschild verloren sein, hat man anhand neuerer Computermodelle berechnet. Die gute Nachricht: Selbst wenn sich der Eisschild nicht mehr retten lassen sollte, dürfte es noch mindestens tausend Jahre dauern, bis die größte Insel der Welt vollständig grün ist. Wenn wir die Erderwärmung kleiner als zwei Grad halten, können wir also zumindest den Zeitrahmen kontrollieren: Der komplette Eisverlust lässt sich wohl nicht mehr verhindern – aber es kann uns gelingen, ihn noch um Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinauszuzögern.
Titelfoto: Schmelzwasserflüsse auf dem grönländischen Eisschild / Foto: Sarah Das, Woods Hole Oceanographic Institution
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