Ein Bürgerkonvent gegen die Klimablockade
Ein Bericht von Gaspard d’Allens
Frankreich ist politisch gespalten. Partizipative Demokratie könnte helfen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und den Klimaschutz voranzubringen.
Frankreich steht in Sachen Energiewende und Klimaschutz vor erheblichen Herausforderungen: dem steigenden Haushaltsdefizit, der Abhängigkeit von Atomenergie und dem stockenden Ausbau Erneuerbarer Energien. Um die ökologische Transformation voranzutreiben, wäre eine geschlossene Haltung notwendig. Doch das Land befindet sich in einer politischen Krise.
Anfang Juni 2024 löste Präsident Emmanuel Macron als Reaktion auf den Sieg der Rechtspopulisten bei der Europawahl die Nationalversammlung auf. Die vier Wochen später angesetzten Neuwahlen haben jedoch nicht für die von Macron gewünschte «Klärung» geführt, sondern die Gesellschaft weiter gespalten. Das neu gewählte Parlament ist zersplittert und keine Partei besitzt eine klare Mehrheit. Die Ernennung des konservativen Politikers Michel Barnier am 5. September zum Premierminister, nach über 50 Tagen des Zögerns, hat den Unmut in der Bevölkerung noch verstärkt. Während das Linksbündnis «Nouveau Front Populaire» – eine Allianz der Linken, Grünen, Kommunisten und Sozialdemokraten – bei den vorgezogenen Parlamentswahlen die meisten Sitze gewonnen hat, wurde Barniers Partei «Les Républicains» mit gerade einmal 6,6 Prozent viertstärkste Kraft.
Parlamentarische Blockade
Aktuell teilt sich die Nationalversammlung in drei nahezu gleich große Blöcke: die Linke, die Mitte-Rechts-Allianz und die extreme Rechte. Diese Gruppen blockieren sich gegenseitig, da es keine klare Mehrheit gibt – jede Gruppe droht der anderen mit einem Misstrauensantrag. Möglicherweise wird die Nationalversammlung in den kommenden Monaten unregierbar. Die Verabschiedung eines Haushaltsplans für Frankreich und die Ausarbeitung von Gesetzen zu entscheidenden Themen wie Energie, Klima oder Arbeit könnten erheblich verzögert werden – keine guten Aussichten für den Klimaschutz. Der französische «Hohe Rat für das Klima», ein mehrheitlich aus Wissenschaftskreisen besetztes Gremium, äußerte bereits im Juni in seinem Jahresbericht 2024 «große Besorgnis über diese Verzögerungen, die die Glaubwürdigkeit der französischen Klimapolitik schwächen».
Angesichts dieser beispiellosen Situation fordern viele Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft ein Umdenken der Parteien. Sie plädieren für neue Formen der Zusammenarbeit und für innovative demokratische Modelle wie Bürgerkonvente, partizipative Haushalte und Volksentscheide. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, sollten die politischen Akteure tiefgreifende Reformen anstoßen und sich von parteipolitischen Mustern lösen, um die Bürgerinnen und Bürger stärker in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.
Keine Lösung in Sicht?
Am 7. Juli, dem Abend der Parlamentswahlen, kündigte Premierminister Gabriel Attal seinen Rücktritt an und räumte ein: «Wir müssen bereit sein, alles zu hinterfragen und ein neues politisches Angebot zu schaffen. Das Zentrum der Macht wird nun mehr denn je im Parlament liegen.» Er forderte die Nationalversammlung auf, «etwas Neues, Großes und Nützliches zu schaffen». Nach dem Wahlausgang verblassten diese Aussagen jedoch schnell unter der Last der Realpolitik und des folgenden Machtkampfs.
Den ganzen Sommer über kämpften die Parteiführungen an beiden Enden des politischen Spektrums, um die Situation für sich zu nutzen und ihre Politik wie gewohnt fortzusetzen. Das Präsidiallager weigerte sich, den Wahlerfolg des Linksbündnisses «Nouveau Front Populaire» anzuerkennen, obwohl dieses die meisten Sitze gewonnen hatte und fast 200 von 577 Abgeordneten stellt. Auf der linken Seite versuchte die Sozialistische Partei (PS) mit 66 sozialdemokratischen Abgeordneten, die radikale Linke von «La France insoumise» (LFI), die 72 Abgeordnete hat, zu marginalisieren. Gleichzeitig bemühte sich der ehemalige Macronist und Innenminister Gérald Darmanin, die «Les Républicains» (LR) für eine rechte Koalition zu gewinnen.
Alle Parteien versuchten, eine nicht vorhandene Mehrheit zu sichern – ein unmögliches Unterfangen. Die Ernennung von Michel Barnier als Premierminister unterstreicht die fragile Lage nur, löst sie aber nicht. Es ist ungewiss, wie lange er sich im Amt halten kann. Viele Französinnen und Franzosen bedauern den Verlauf der Ereignisse. Mehr als die Hälfte von ihnen ist laut Umfrage unzufrieden mit der Wahl Barniers. Mangels Einigung zwischen den gewählten Vertretern hätte die Lösung außerhalb des parlamentarischen Systems liegen können, jenseits der politischen Logik.
Ein Bürgerkonvent für das Klima
Ein Bürgerkonvent für das Klima «Die aktuelle Krise ist eine Chance, unsere Institutionen und ihre Funktionsweise zu hinterfragen», glaubt Cyril Dion, Filmemacher und Vertreter der Umweltbewegung «Mouvement Colibris», die er 2007 mitbegründet hat. «Unser Modell der repräsentativen Demokratie ist erschöpft», fügt er hinzu. Während die Gelbwesten-Bewegung 2018 und 2019 das Land spaltete und zahlreiche Städte von Protesten gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und die als ungerecht empfundene CO2-Steuer betroffen waren, setzte sich Dion bei Emmanuel Macron für die Einrichtung einer neuen Bürgerversammlung ein. Damit wollte er zeigen, dass die Sorgen um das «Ende des Monats» und das «Ende der Welt» keine Gegensätze darstellen. Im Jahr 2019 initiierte der Dokumentarfilmer die wegweisende «Convention Citoyenne pour le Climat», den Bürgerkonvent für das Klima.
Dieser Bürgerkonvent für das Klima, zusammengestellt aus 150 ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern, ließ sich ein Jahr lang von Experten, Wissenschaftlern und Klimaforschern beraten und legte ein umfassendes Transformationsprogramm vor, das weitaus ehrgeiziger war als alles, was die bisherigen Regierungen bis dato vorgeschlagen hatten. Laut einer Untersuchung des Umweltmagazins «Reporterre» wurden jedoch nur zehn Prozent der von den Bürgerinnen und Bürgern vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt.
Macron verfolgte stattdessen eine rein neoliberale und unternehmensfreundliche Umweltpolitik. Die symbolträchtigsten Vorschläge, wie das Verbot von Inlandsflügen, die Anerkennung des Ökozids als internationales Verbrechen und die Pflicht zur energetischen von Wohngebäuden bis 2040 auf die Energieeffizienzklasse A oder B, wurden ignoriert – zum Nachteil der Bürgerbeteiligung.
Heute, angesichts der politischen Sackgasse, fordert Cyril Dion, weiterzugehen als nur bis zu konsultativen Versammlungen: «Wenn das Parlament blockiert ist, wenn wir Schwierigkeiten haben, Mehrheiten für Gesetze zu finden, könnten Verfahren wie Bürgerreferenden, Volksabstimmungen wie in der Schweiz oder ausgeloste Bürgerversammlungen, die die Debatte transparent vorbereiten, Fortschritte bringen.»
Experimentieren statt mit Gewalt durchsetzen
Wirksamer Klimaschutz braucht eine funktionierende Demokratie. «Uns bleibt ein Jahr», sagt der Filmemacher. Nach der französischen Verfassung kann die Nationalversammlung vor Ablauf dieser Zeit nicht erneut aufgelöst werden. Frankreich muss also bis zum nächsten Sommer mit dem aktuellen Kräfteverhältnis in der Nationalversammlung leben. Aber wir können es uns nicht leisten, untätig zu bleiben.
Wenn weiterhin alles blockiert ist, kann es sein, dass die extreme Rechte bei den nächsten Wahlen zur stärksten Kraft wird. Ihren rasanten Aufstieg verdankt sie der Verzweiflung der französischen Bevölkerung: 2022 erhielt das «Rassemblement National» vier Millionen Stimmen, 2024 waren es bereits über zehn Millionen. «Um in diesem Jahr voranzukommen, haben wir zwei Möglichkeiten», sagt Cyril Dion. «Entweder setzt die aktuelle Regierung alles mit Gewalt durch, was zu einer allgemeinen Verarmung der Demokratie und zu mehr Unmut in der Bevölkerung führt, oder wir probieren etwas anderes aus, indem wir die Bevölkerung einbeziehen.»
Unter den Linken wie auch in der Zivilgesellschaft betrachten viele die gegenwärtige Situation als Wendepunkt. «Nach den Parlamentswahlen steckt Frankreich in einer tödlichen Klemme», betont der grüne Aktivist und Pastor Stéphane Lavignotte in einem Blogbeitrag auf «Mediapart». «Wir müssen jetzt starke Maßnahmen ergreifen, um ein verwundetes Land zu heilen. Sonst riskiert Frankreich, in die Arme des Faschismus zu fallen. Das Parlament ist nicht in der Lage, diese Maßnahmen zu ergreifen.»
Bürgerbeteiligungen mit Erfolg
In Frankreich werden immer wieder erfolgreiche Beispiele zitiert, bei denen eine Bürgerbeteiligung zu bedeutenden gesellschaftlichen und politischen Veränderungen geführt hat:
- In den USA beschloss der Staat Texas nach einer «deliberativen Umfrage» («deliberative polling») unter ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern im Jahr 1998, den Anteil Erneuerbarer Energien zu erhöhen – zulasten des Öls.
- In Irland ermöglichten ausgeloste Bürgerversammlungen 2015 und 2018, gefolgt von Referenden, die Aufnahme der Ehe für alle sowie des Rechts auf Abtreibung in die Verfassung. Dabei spalteten diese Themen die Gesellschaft in dem katholischen Land zuvor stark.
- In Ecuador haben partizipative Haushaltspläne zusammen mit der Bevölkerung ermöglicht, öffentliche Ausgaben in Richtung von Infrastrukturen (Straßen, Wasserleitungen) für die ärmere Bevölkerung zu lenken sowie zahlreiche Projekte zur Anpassung an den Klimawandel und zu dessen Minderung zu realisieren.
Foto: Bürgerrat Demokratie Leipzig / Mehr Demokratie e.V.
Abschied von alten Denkmustern
In der Nationalversammlung von 2022 bis 2024 hat Macrons relative Mehrheit durch den mehrfachen Einsatz des Verfassungsartikels 49.3 für Aufsehen gesorgt. Dieser Artikel ermöglicht es dem Premierminister, ein Gesetzesvorhaben ohne Abstimmung in der Nationalversammlung durchzubringen. Sowohl der französische Haushalt als auch die umstrittene Rentenreform, die 2023 massive Proteste auslöste, wurden so verabschiedet. Viele fordern nun die Abschaffung des Artikels.
Stéphane Lavignotte schlägt stattdessen vor, sogenannte «Superkommissionen» im Parlament zu schaffen, die partizipativ und konsensuell arbeiten. «In Vereinen, in der Bürgerbildung und in der gewaltfreien Kommunikation gibt es zahlreiche bewährte Methoden, um Auseinandersetzungen beiseitezulassen, Egos hintanzustellen und Konsens zu schaffen.» Das Parlament sollte sich daran ein Beispiel nehmen. «Die Nationalversammlung muss zulassen, dass sie von den Bürgerinnen und Bürgern überholt werden kann. Sie muss die Zivilgesellschaft stärker einbeziehen, um gemeinsam mit den Abgeordneten Gesetze zu erarbeiten, und all diese Werkzeuge in die Gesetzgebung einfließen lassen», sagt der grüne Aktivist.
Lavignotte erinnert daran, dass nur die Rechtspopulistin Marine Le Pen «vom Status quo und der Blockade in der Nationalversammlung profitieren würde». Die Parteien müssten daher aus ihrem Überlebenskampf herausbrechen und «ihre politische Kultur ändern». Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Laut der Ipsos-Studie «Fractures françaises 2023» wächst das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Politikerinnen und Politikern. 58 Prozent der Befragten halten die meisten von ihnen für korrupt. Drei Viertel glauben, dass Politiker hauptsächlich in ihrem eigenen Interesse handeln. 69 Prozent sind der Ansicht, dass «das demokratische System schlecht funktioniert». 71 Prozent der Befragten haben kein Vertrauen in die Nationalversammlung und 83 Prozent misstrauen den politischen Parteien.
Änderung des Wahlsystems
Die Demokratisierung der französischen Demokratie, so der Ökonom Maxime Combes, sei der einzige Weg, um eine Katastrophe zu vermeiden. «Auch wenn die Demokratisierung Zeit braucht und nicht über Nacht gelingt, muss schon jetzt die nötige Dynamik in Schwung gebracht werden.» Mehrere Projekte lassen sich theoretisch schnell umsetzen, darunter die Änderung des Wahlsystems und die Einführung der Verhältniswahl bei Parlamentswahlen. All das sind Themen, bei denen sich die derzeit in der Nationalversammlung vertretenen politischen Kräfte einigen könnten. Im Gegensatz zum aktuellen System des Mehrheitswahlrechts in zwei Wahlrunden würde die Verhältniswahl den Zustand der Gesellschaft besser widerspiegeln und repräsentativer sein. Das derzeitige Wahlsystem ist stark zentralistisch und weniger darauf ausgerichtet, demokratische Tugenden zu fördern, sondern vielmehr darauf, parlamentarische Mehrheiten zu schaffen.
Ein weiteres Projekt, das bereits begonnen hat, ist das Finanzgesetz 2025, das jeden Herbst debattiert wird. Es wäre interessant gewesen, die Bürgerinnen und Bürger durch «partizipative Budgets» in den Prozess einzubeziehen, so wie das bereits in Paris gehandhabt wird. Jedes Jahr kann die Bevölkerung dort über fünf Prozent des Budgets für soziale oder nachhaltige Projekte entscheiden. Eine solche Umsetzung auf nationaler Ebene könnte parteipolitische Gräben überwinden.
Ein neuer Versammlungsplatz
Um eine Kultur der Konsensfindung in der Nationalversammlung zu fördern, plädiert Stéphane Lavignotte für die vorrangige Behandlung überparteilicher Gesetzesvorschläge. In der letzten Legislaturperiode haben wir erlebt, dass einige Gesetzentwürfe, wie beispielsweise der zur Sterbehilfe, wider Erwarten jenseits der Parteigrenzen einen gewissen Konsens in der Nationalversammlung gefunden haben.
Der Kolumnist und Politologe Clément Viktorovitch fordert gar eine umfassendere Infragestellung des politischen Systems: «Auf eine institutionelle Krise muss eine institutionelle Antwort folgen.» In einem Video wirbt er für eine Online-Petition, die einen Verfassungswechsel und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung anstrebt. Das Ziel sei ein stärkeres parlamentarisches System mit einem ausgelosten Bürgersenat sowie mit Bürgerkonventen, Bürgerhäusern und Agoras. Eine «deliberative, beratende Republik» soll es Frankreich ermöglichen, die Herausforderungen des Klimaschutzes und die der sozialen Gerechtigkeit in Angriff zu nehmen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen.
Bild oben: Bürgerkonvent für das Klima, 2019 / Foto: Archiv Katrin Baumann
-
Polen: Neue Regierung – neues Klima?
In Polen ist wieder ein proeuropäisches Bündnis an der Macht, das für die Klima- und Energiepolitik massive Investitionen angekündigt hat. Was steckt dahinter?
-
Die Stromrebellen von der Île de Sein
Eine Handvoll Bretonen will das Stromnetz ihrer Miniinsel übernehmen – und nebenbei das EDF-Netzmonopol in ganz Frankreich aufbrechen.