«Lange Nacht des Klimas» in Berlin
Ein Rundgang mit Tom Jost
Lange-Nacht-Veranstaltungen gab es bisher für Kinofilme, Kaffeehausliteratur, neue Klänge und sogar Kirchen – vor Kurzem in Berlin auch fürs Klima.
Es ist ein ganz schönes Trumm. Steht vor der «Kulturfabrik Moabit» auf einem stabilen Sockel und glänzt in der Sonne. 300 Kilo gefrorenes Wasser, von einer Berliner Eismanufaktur zum symbolischen Eisberg geformt. Noch bevor man überhaupt eines der 40 Programmdetails der ersten «Langen Nacht des Klimas» wahrgenommen hat, zeigt dieser Block, worum es geht: nämlich um Zeit – und wie sie verrinnt. Er wird schmelzen, das ist gewiss.
Für die Klimanacht, eine Woche vor dem internationalen Klimaschutz-Aktionstag am 20. September 2019, hat die genossenschaftliche «BürgerEnergie Berlin» (BEB) zusammen mit den «Elektrizitätswerken Schönau» und der Kulturfabrik Moabit ein Veranstaltungsprogramm erarbeitet, das sich selbst mit Hauptstadtmaßstäben spielend messen lassen kann: Der Tag und Abend wird gerappelt voll sein mit Vorträgen von Expertinnen und Experten, Filmen, Workshops und Aktionsangeboten, aber auch mit Aha-Erlebnissen, Kurzweil und Party. «Wir wollen das Interesse auch derjenigen Menschen wecken, die sich von dem wissenschaftlich dominierten Diskurs nicht angesprochen fühlen», sagt BEB-Vorstand Christoph Rinke zur Reporterin vom Neuen Deutschland. Rund 800 Leute – so stellt sich in der Nacht heraus – werden die Einladung angenommen haben.
Ins Handeln kommen gegen die Klimakrise
Mit den drei Vermittlungsebenen Wissen, Fühlen und Handeln wollten die Veranstalter ermöglichen, dass die Besucher auf unterschiedliche Art Informationen sammeln, in sich hineinhorchen, reflektieren können – um anschließend daraus bisher noch nicht gezogene Konsequenzen abzuleiten. Oder wie es EWS-Vorstand Sebastian Sladek ausdrückt: «Wie kann man sich aus der Komfortzone kicken und die eigene Wirkmächtigkeit erkennen?»
Der Wissens-Teil jedenfalls enthält starken Tobak – auch für jene, die sich bisher halbwegs gut informiert glaubten. Wer ahnt denn schon, dass auch nach der Verabschiedung des Pariser Klimaschutzabkommens 2015 weltweit Kohlekraftwerke mit 116.000 Megawatt Leistung neu in Betrieb gingen – wie Heffa Schücking, Geschäftsführerin von «urgewald», berichtet – und in 59 Ländern noch weitere 580.000 Megawatt gebaut werden sollen? Kathleen Mar vom Potsdamer «Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung» (IASS) skizziert, dass die Welt so eher auf eine Temperaturerhöhung um drei Grad bis zum Ende des Jahrhunderts zusteuert, statt sich dem vereinbarten Ziel von maximal zwei, besser noch eineinhalb Grad anzunähern. Kann doch nicht sein, denkt man. Doch, kann es.
Wir sollten die Straßen zurückerobern.
Wie wir wurden, was wir sind, also eine «Autofahrernation», zeichnet Andreas Knie vom «Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung» in einer brillanten Polemik nach. Davon konnte ja vor dem Zweiten Weltkrieg so überhaupt keine Rede gewesen sein, sagt er. Was wurde nicht alles versucht, etwa mit der «Reichs-Straßen-Verkehrsordnung», um das Kraftfahrzeug zu fördern: die offizielle Erlaubnis, private Autos im öffentlichen Straßenraum abzustellen. Der Bau von Autobahnen, auch mitten durch die Stadt – nach dem Krieg gab es schon 4.000 Kilometer davon, aber noch kaum Autos.
Umgekehrt wurde die Straßenbahn schleichend abgeschafft, mit der die Berliner einst überwiegend unterwegs gewesen waren. 1954 wurden dann auch noch alle Tempolimits aufgehoben, die man erst vier Jahre und 70.000 Verkehrstote später wenigstens innerorts zurücknahm. So also wuchs und gedieh der Salat, den wir heute haben: Berlin etwa ist mit 1,25 Millionen Pkw auf einem Allzeithoch.
Zusammenhänge sichtbar machen, Anstöße geben
Andere Dinge kommen eher subtil daher. Der gestrickte «Klimaschal» von Eva Stegen, mit dem man nicht bloß Hals und Schultern wärmen kann. Seine farbigen Querstreifen illustrieren eindrücklich den Temperaturverlauf des letzten Jahrhunderts: blau und grün am Anfang, inzwischen fast nur noch gelb, orange und rot. Oder «Thule Tuvalu»: Der Dokumentarfilm des Schweizers Matthias von Gunten stellt zwei weit voneinander entfernte Orte nebeneinander – und zeigt, wie der Klimawandel ihnen zusetzt: Thule im nördlichsten Grönland verliert rapide sein Gletschereis, die dort lebenden Inuit deshalb die Robbenjagd als Lebensgrundlage. Das Mehr an Meerwasser wiederum steht den Bewohnern der Tuvalu-Inselgruppe im Pazifik schon fast bis zum Hals. Ihre Trinkwasserreserven versalzen, Landwirtschaft ist kaum mehr möglich. Schon lange, bevor das Meer die Inseln überspülen wird, werden sie unbewohnbar sein.
Was machen solche Geschichten und Informationen mit einem? Drei Berliner sitzen an einem Biertisch, reflektieren «Thule Tuvalu» und diskutieren über die Verkehrswende. Nach so allerhand «Ermüdungserscheinungen im Alltag» habe der Film wieder einen Anstoß geliefert, sagt Vanessa (28). Es falle leichter zu denken, dass es mal wieder Zeit für eine Demo sei … überhaupt den Hintern hochzukriegen. Auch Marc (33) hat die Doku «einen Schubser gegeben. So hat sich das angefühlt.» Bloß Patricia (28) wirkt eher deprimiert. «Letztes Jahr im Herbst saß ich noch im Hambacher Forst und habe mir vorgenommen, nie wieder zu fliegen. Und jetzt fliege ich doch, nach Portugal. Das ist doch Doppelmoral.»
Wir alle haben Interesse daran, nicht zu handeln.
Die drei debattieren noch eine Weile, warum denn so viele klare Dinge in der Realität oft derart schwer umsetzbar sind. Man weiß doch um den Handlungsbedarf – aber zu wenig verändert sich tatsächlich. Der Soziologe Harald Welzer hat in seinem Eingangsvortrag einen Fingerzeig gegeben: weil wir Interesse daran hätten, nicht zu handeln. Auch die Politik versuche ja, das Gefühl zu erhalten, dass man sich als Bürger keinen Millimeter bewegen müsse.
Patricia meint, die Politik sollte «da wirklich den Daumen draufhalten. Wenn alle auf Flüge verzichten müssen, hätte auch keiner ein Problem damit.» Ihre Freunde plädieren dafür, nicht auf den Staat zu warten, sondern immer wieder die kleinen Dinge zu verändern. Patricia gehört damit, ohne es zu wissen, zu jener Gruppe junger Menschen, die Fritz Reusswig vom «Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung» (PIK) zuvor in seinem Vortrag anhand von Zahlen aus einer neuen Sinus-Studie folgendermaßen umrissen hat: «Zwei Drittel haben Angst und Sorge um die Klimaentwicklung. 70 Prozent sagen, Politik und Parteien sollen was tun. Aber gleichzeitig haben nur 22 Prozent Vertrauen in den Staat.»
Hustensaft heilt die Krankheit nicht
Wie man die Klimafrage auf keinen Fall löst, weiß Kerstin Rudek, führende Aktivistin der «Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg». Seit 1982 wehrt sie sich gegen den Bau eines Atommüllendlagers im Salzstock von Gorleben. «Die Atombande kratzt momentan wieder am beschlossenen Ausstieg und will mit angeblich CO2-freier Energie wieder ins Geschäft kommen», warnt sie oben im vollbesetzten Theatersaal. Dabei nehme die Gefahr durch überalterte nukleare Kraftwerke Tag für Tag zu. Für sie ist klar: «Atomkraft ist auch bei konservativer Rechnung sehr teuer – und sie verhindert die richtigen Lösungen.» Immerhin ist der Bau in Gorleben seit 2012 gestoppt.
Nicht ganz so eindeutig fällt die Ablehnung von Christopher Schrader aus, wenn es um mögliches Geoengineering geht. Das meint entweder künstliche Eingriffe des Menschen in die Atmosphäre, um aufheizende Sonnenstrahlen ins All zu reflektieren, oder aber Verfahren, um ihr das schädliche CO2 wieder zu entnehmen und es vielleicht in der Erde sicher zu bunkern. Das eine Vorgehen bezeichnet der renommierte Wissenschaftsjournalist als «Hustensaft», der die Krankheit nicht heile und in der Anwendung quasi undurchführbar sei.
Nicht herumkommen werde man aber um Verfahren, Kohlendioxid aus der Luft zu entfernen, wenn es auch in einer Welt nach 2050 noch Zement, Stahl und Flugzeuge geben solle. Das könne beispielsweise über CO2-speichernde Pflanzen und deren Verwertung zur Stromerzeugung geschehen, aber auch über zermahlenes Basaltgestein, das ebenfalls das Klimagas binde und beispielsweise dauerhaft in Bergbauschächten eingelagert werden könne. Allein für sich bringe jede Maßnahme wenig Nutzen. «Aber über eine Kombination sollte man ernsthaft nachdenken.»
Klimaschutz, aber «not in my backyard»
Das ist Zukunftsmusik, die vor allem dann Sinn ergibt, wenn man zunächst den CO2-Ausstoß spürbar einschränkt. Etwa durch kräftigen Ausbau von Solar- und vor allem Windenergie. Letztere wird momentan durch Gesetzgebung und Anwohnerproteste gebremst. Wie man mit diesen Protesten umgehen kann, zeigt Fritz Reusswig vom PIK in einem Workshop als Rollenspiel, das die verschiedenen Einstellungen der Bevölkerung sichtbar macht. Da sind Klimaleugner in Opferrolle unterwegs, erklärte Naturschützer und Menschen, die Rotoren nicht unbedingt ablehnen – in ihrer Wohnnähe aber sehr wohl. «Nimbys» nennt man sie – vom englischen «not in my backyard», also «nicht bei mir».
Es sei exakt dieselbe Diskussion, die sie aus dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, kenne, sagt Clara. Was helfen könne? Die Menschen sachlich aufzuklären und sie in ihrer Furcht um den Verlust der idyllischen Heimat ernst zu nehmen. Clara hat sich schon für ein «Freiwilliges Ökologisches Jahr» entschieden und ganz aktuell auch dafür, ihr ehrenamtliches Engagement einer Umweltorganisation anzubieten.
Eine neue Generation von Klimaaktivisten
Man trifft an diesem Abend auch Menschen, die auf konkrete Aktionen setzen. Ein Mitglied von «Ende Gelände», der sich «Jordi» nennen lässt, berichtet von den Besetzungen im Hambacher Braunkohletagebau, die mit dem Kampf um den Wald (und den RWE-Starrsinn) nicht nur Achtungserfolge erzielten. Denn die befürchtete Abholzung sei gestoppt und die allzu diensteifrige Landesregierung Nordrhein-Westfalens deswegen in einiger Bedrängnis. «Wir bei ‹Ende Gelände› wollen nichts kaputtmachen», sagt er, «aber offenkundiges Unrecht verhindern. Oft gelingt das – und der Bagger steht still.»
Ähnlich agieren die Aktivisten von «Extinction Rebellion» (XR), die auf zivilen Ungehorsam und Blockaden im öffentlichen Raum setzen. «Bis wir weggetragen werden», sagt ihr Mitglied Nico auf dem Podium, «wollen wir diesen Konflikt führen und die Politik unter Stress setzen.» Freilich friedlich und ohne Feindschaft. Respekt – den genössen auch Andersdenkende, selbst Ölbosse und SUV-Fahrer, sagt ein anderer Aktivist im Workshop. Und die Polizei nennt man sachlich, aber mit einer gewissen Ironie jetzt «Team Blau».
Klara von der Berliner Sektion von «Fridays for Future» kommt zur Podiumsdiskussion frisch vom Plenum ihrer Aktionsgruppe. Deren Mitglieder, meist noch Schülerinnen und Schüler, haben im Vorfeld des großen Klimastreiktages mit Gewerkschaften, Kirchen und anderen Organisationen gesprochen und überwältigende Unterstützung erfahren. Mit dem großen Aktionstag soll der Druck auf die Bundesregierung noch einmal intensiviert werden. «Da mal ein paar Strohhalme verbieten und dort ein paar Plastiktüten – wir wollen, dass diese Akupunktur-Klimapolitik aufhört», wünscht sie sich als Ergebnis.
Wenn’s um Kohle geht – Sparkasse?
Ein besonders sachdienlicher Hinweis, was man denn jenseits aller bekannten persönlichen Klimaschutzmaßnahmen unternehmen könne, kommt zum Schluss von «urgewald»-Aktivistin Heffa Schücking. Er lässt Erinnerungen an die erfolgreiche «Watergate»-Story amerikanischer Journalisten aufkommen, die US-Präsident Richard Nixon schließlich den Job kostete. Damals hatte ein Whistleblower den Rechercheuren einen zur Legende gewordenen Tipp gegeben: «Folgt dem Geld.»
«Wenn es um Rüstung und Kohle geht – Sparkasse?», fragt Schücking provokant und weist auf die Rolle der kommunalen Kreditinstitute als Finanziers der Kohleindustrie hin. Bei den sparkasseneigenen «Deka-Fonds» habe man weitaus mehr Investitionen in diesen Bereichen festgestellt als in allen anderen Publikumsfonds. Deshalb stünden sie nun auch im Fokus einer Kampagne, die zum Ziel habe, mit Druck auf Sparkassen – und Städte als deren Eigner – derlei «Invests» zu beenden. So wie es der Staatliche Pensionsfonds Norwegens bereits 2014 handhabte und sich aufgrund einer Kampagne von «urgewald» von allen Beteiligungen mit mehr als 30 Prozent Kohle oder Kohlestrom trennte. Schückings Botschaft an die Sparkassen ist unüberhörbar, denn schließlich unterhalten dort mehr Menschen in Deutschland ihr Konto als irgendwo anders. Der Weltspartag am 30. Oktober soll ein Kampagnen-Höhepunkt werden.
Der Eisberg – ein «Star» zum Anfassen
Gut 40 verschiedene Angebote, die sich auch zeitlich überlappen, machen dem altersdurchmischten Publikum die Auswahl nicht ganz einfach. Der Theatersaal als Vortragsort überfüllt sich fast stets von allein. Aber es ist eine laue Spätsommernacht, und der denkmalgeschützte Gebäudekomplex – der einst der Keks- und Konfitürenproduktion diente – verfügt über einen lauschigen Außenbereich. Illuminiert von einer atmosphärischen Lichtinstallation nutzen ihn die Besucher zum Essen, Trinken, Diskutieren und Entspannen.
Wir wollten alle Sinne ansprechen und mit Vielfalt Mut zum Handeln machen.
So ziemlich gegen Ende der «Langen Nacht des Klimas», während oben in der Bar mit viel Klamauk Außensteckdosen «für zwei Personen» verlost werden und unten DJ Marinelli Weltmusik zum Abzappeln auflegt, steht Marta (20) vor dem Eisblock im Eingang und sinniert, dass sie zwar vorher schon nicht ganz ahnungslos gewesen, aber die Bedeutung des Klimawandels an diesem Abend für sie greifbarer geworden sei. Sie habe es genossen, Menschen zu treffen, die sich für das Umsteuern einsetzen. Mit zur S-Bahn nach Hause trägt sie ein Plakat, das sie – wie viele andere auch – am Aktionsstand eines Grafikdesigners entworfen und realisiert hatte.
Der Eisblock als meistfotografierter, -angefasster (und vermutlich auch -geposteter) «Star» des Abends hat im Laufe der Stunden merklich an Statur und Volumen verloren. Unter dem Sockel rinnt das geschmolzene Wasser auf den Gehweg und gemahnt die heim- oder clubwärts strebenden Besucher daran, dass die Zeit zum Handeln längst gekommen ist.
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