Gegen die Ohnmacht kämpfen
Teil 1 der EWS-Geschichte von Bernward Janzing
26. April 1986: Im sowjetischen Atomkraftwerk in Tschernobyl ereignet sich ein Super-GAU – 2.000 km entfernt beginnt die unglaubliche Geschichte der Schönauer Stromrebellen.
Er ist unheimlich, dieser Frühjahrsmorgen. Unerbittlich zieht die strahlende Wolke gen Westen, sie kommt pro Stunde 15 Kilometer voran. Am Vortag schon haben in Österreich Forscher erhöhte Strahlenwerte gemessen, an diesem Mittwoch erreicht die Radioaktivität auch Deutschland.
Es ist der 30. April 1986. Vier Tage zuvor hatte sich in der Ukraine der bislang schwerste Atomunfall aller Zeiten ereignet. Seither entlässt der Reaktor sein radioaktives Inventar in die Umwelt. Auf einer Fläche von 4800 Quadratkilometern, die bis ins benachbarte Weißrussland reicht, werden die Menschen später evakuiert.
Und je nach Windrichtung treiben die strahlenden Schwaden mal in das eine Land, mal in das andere. Messstationen in Finnland und Schweden hatten bereits am Wochenende aufgrund einer anfänglich südöstlichen Luftströmung die erste Strahlung abbekommen.
Nichts Genaues weiß man nicht
Anfangs bleiben die Zeitungen in Deutschland noch wortkarg. Noch gibt es kaum Informationen über Hergang und Ausmaß der Katastrophe, denn im Sowjetstaat funktioniert die Geheimhaltung noch. Und hätte nicht der Westen die Strahlung nachgewiesen, die Katastrophe wäre wohl noch länger vertuscht worden.
Auch in Deutschland herrscht nun Ausnahmezustand. Daten sind rar, weil es kaum Messgeräte gibt. Und gibt es welche, wissen die wenigsten Behörden damit umzugehen. In Baden-Württemberg beschlagnahmt die Polizei Freilandgemüse – eine zwar notwendige, aber zugleich auch so unendlich hilflose Reaktion. Tschernobyl, so begreifen die Menschen, ist eine jener Katastrophen, für die es keine Einsatzpläne geben kann.
Dr. Michael Sladek, Landarzt in Schönau im Schwarzwald, hat vor Jahren im Studium von den fatalen gesundheitlichen Schäden erfahren, die Radioaktivität beim Menschen hervorzurufen vermag. Doch für seine tägliche Arbeit war das bisher nicht relevant. Ob sich das jetzt ändern wird? Niemand weiß es.
Die unsichtbare Gefahr
Unterdessen arbeitet Rolf Wetzel, gebürtiger Schönauer, als Polizist im Wiesental. Er muss sich von Berufs wegen in diesen Tagen um Strahlenmessungen kümmern. Doch es herrscht Chaos. «Die Zahlen sind nicht belastbar, die Geigerzähler sind falsch», muss er feststellen. Zugleich wird die Polizei eingesetzt, um Rundschreiben zum Thema Strahlenschutz an die Bürger zu verteilen. Wetzel erkennt: «Ein solches Ereignis lässt sich nicht organisieren».
Wenige Kilometer entfernt von Schönau liegt die Gemeinde Böllen. Mit rund 100 Einwohnern ist sie die kleinste Kommune in Baden-Württemberg – vielleicht ein Zeichen, dass man hier in der Region gerne seine eigenen Wege geht. Hier hat man sich in den Siebzigern erfolgreich gegen jede Eingemeindung gestemmt.
Veronika Springhart ist pharmazeutisch-technische Assistentin, sie wohnt in Böllen und hat Kinder im Vorschulalter. In diesen Tagen dürfen sie höchstens eine halbe Stunde draußen spielen – trotz schönsten Maiwetters. Denn alle Medien berichten von der Strahlenwolke. «Das ist ganz schön hart für die Kleinen», weiß die Mutter. Denn wie sollen Kinder Radioaktivität begreifen? Vater Wulf Springhart kann immerhin einen Geigerzähler auftreiben. Das Gerät vermittelt zumindest ein wenig das Gefühl, als könne man aktiv werden. Wirklich helfen kann es freilich nicht.
Der Ohnmacht begegnen
Ursula Sladek liegt unterdessen mit mehrfach gebrochenem Oberschenkel im Wohnzimmer ihres Hauses im Schönauer Felsenweg. Auch sie versucht ihre fünf Kinder davon abzuhalten, draußen zu spielen. Auch ihr gelingt es nicht. Denn für Kinder ist in diesen Tagen alles wie immer, ein schöner Frühsommer eben.
Doch die Wahrheit ist eine andere. Hilflosigkeit dominiert in diesen Wochen das Leben besorgter Eltern – im Wiesental wie anderswo im deutschen Süden. Man sucht in den Supermärkten nach H-Milch, die noch vor Ende April abgefüllt wurde, doch die wird immer seltener. Man sucht Konserven aus Regionen, die möglichst weit entfernt liegen vom radioaktiven Fallout Tschernobyls. Es wird ein Sommer der Becquerel-Tabellen. Und auf dem Schönauer Marktplatz halten die Bürger abendliche Mahnwachen ab, die aber letztlich auch nur die hilflose Betroffenheit der Menschen offenbaren.
Wolf Dieter Drescher wohnt mit seiner Frau Sabine im Schönauer Forsthaus. Sein Vater ist Förster, eine gewisse Naturverbundenheit ist ihm damit in die Wiege gelegt. Auch den beiden lässt die gespenstische Bedrohung durch die atomare Strahlung keine Ruhe, und deshalb beschließen sie selbst aktiv werden. Sie formulieren eine Meldung für den Schönauer Anzeiger, das amtliche Mitteilungsblatt des Städtchens: «Wer hat nach Tschernobyl Angst um die Zukunft seiner Kinder und Enkel? Wer möchte auch etwas tun und weiß nicht wie? Wir suchen Mitstreiter, die wie wir die Gefährdung der Umwelt durch Radioaktivität und Chemie nicht länger hinnehmen wollen!»
Gemeinsam Kämpfen – aber mit Spaß
So findet sich bald eine kleine Gruppe zusammen. Man trifft sich im Forsthaus, jede Woche. «Eltern gegen Atomkraft» nennt sich die Gruppe anfangs. Sie markiert damit den Beginn der politischen Arbeit, die Selbsthilfe tritt zunehmend in den Hintergrund. Die Schönauer gehen damit einen Schritt, den viele andere der im Tschernobyl-Trauma gegründeten Elterninitiativen nicht schaffen. Der Name allerdings wandelt sich wenig später noch, es werden die «Eltern für atomfreie Zukunft e.V.» daraus, kurz EfaZ. Denn man möchte lieber für etwas kämpfen als dagegen.
Es ist der 19. Mai 1987, als die EfaZ offiziell gegründet wird. Ihr satzungsgemäßes Ziel besteht darin, «Maßnahmen zu fördern und zu ergreifen, die den schnellstmöglichen Verzicht auf die Nutzung der Atomenergie ermöglichen». Die Formulierung lässt viele Spielräume, ganz bewusst. Man informiert über Müllvermeidung, gründet eine Mitfahrzentrale.
Und man bastelt auch ein pfiffiges Kulturprogramm. Fünf Jahre lang zieht die EfaZ-Band namens «Wattkiller» durch die Region – als erste Botschafterin der neuen Schönauer Lebensart. Denn in Schönau muss der Atomausstieg auch Spaß machen. Hier im Oberen Wiesental bekommt die Devise «abschalten und genießen» eine neue Bedeutung.
Ein Landarzt im Paragraphendschungel
Mediziner Michael Sladek ist inzwischen zur EfaZ hinzugestoßen und treibt wie kein anderer die Politisierung der Gruppe voran. Denn er sieht das geltende Energiewirtschaftsgesetz als Ursache der zentralistischen und umweltzerstörenden Stromwirtschaft. Er will das Gesetz deswegen kippen. «Eine effiziente, dezentrale Energieversorgung benötigt ein neues Energiewirtschaftsgesetz», sagt er. Die EfaZ hat er hinter sich bei dem Ansinnen, die Grundgesetzmäßigkeit des Energiewirtschaftsgesetzes durch ein Normenkontrollverfahren prüfen zu lassen.
Denn unstrittig ist, dass das seinerzeit gültige Gesetz den Zielen einer ökologischen Stromwirtschaft entgegen steht. Es wurde erlassen am 13. Dezember 1935, und es trat in Kraft mit dem Ziel, «die Energieversorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten». So untersteht die Energiewirtschaft anno 1987 noch immer den Maßgaben der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches.
Die große Politik allein kann`s nicht schaffen
Michael Sladek ist davon überzeugt, dass ein solches Regelwerk, das im Sinne der nationalsozialistischen Gleichschaltung des Staates geschrieben wurde, kaum mehr verfassungskonform sein kann. Auf dem 22. Evangelischen Kirchentag in Frankfurt im Juni 1987 erwirkt die EfaZ immerhin eine Resolution, in der die Bundesregierung ersucht wird, das Gesetz in eine zeitgemäße Form zu bringen. Konsequenzen: keine.
Auch der 1. Schönauer Energietag am 7. November 1987 im Pfarrhaus der evangelischen Kirche ist noch geprägt von der Vorstellung, der Weg zum Ausstieg aus der Atomenergie könne einzig und allein über eine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes erfolgen. Der anschließende Aufbau einer dezentralen Energieversorgung erscheint Michael Sladek fast schon als zwangsläufig.
Doch weil politische Fortschritte in dieser Sache nicht erkennbar sind, ändert der Vordenker und Stratege der EfaZ seinen Kurs. «Wir müssen bereit sein, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen», sagt er schließlich. «Die große Politik allein kann’s nicht schaffen!» Diese Erkenntnis, das kann man rückblickend sagen, wird entscheidend sein für all das, was noch kommt.
Den Atomstrom einfach wegsparen
Und so zoomt die EfaZ ihre Aktivitäten von der großen Politik auf die kleine Gemeinde herunter. Handeln vor Ort wird nun zum Credo. Bereits am 19. Januar 1988 präsentiert die Gruppe ihren ersten Stromsparwettbewerb in Schönau. Dazu gibt es Vortragsveranstaltungen und Infostände. Im Wochenblättchen der Stadt werden über ein Jahr hinweg Spartipps platziert, es werden persönliche Beratungsgespräche angeboten, Vorträge, Konzerte und Tagungen veranstaltet. Und eine Broschüre mit Glühbirnen-Männchen, das stets auf Energieeffizienz bedacht ist, wird zum Markenzeichen der EfaZ.
Die Geschichte der Schönauer «Schönauer Stromrebellen» hat der Freiburger Journalist Bernward Janzing von Anfang an verfolgt und in seinem Buch «Störfall mit Charme» dokumentiert. Spannend wie ein Krimi beschreibt Bernward Janzing den Widerstand der Schönauer Bürger gegen die Atomenergie, ihren Kampf um das örtliche Stromnetz und die Entstehung der Elektrizitätswerke Schönau. Das Buch wurde 2009 mit dem DUH-UmweltMedienpreis ausgezeichnet. Weitere Informationen zum «Störfall mit Charme» finden Sie auf der Internetseite von Bernward Janzing.
und wie geht es weiter?
Lesen Sie in Teil 2 der EWS-Geschichte, wie in Schönau der Atomstrom einfach weggespart wurde und warum der örtliche Stromversorger das gar nicht lustig fand. Abonnieren Sie unseren Newsletter, damit wir Sie rechtzeitig über die nächste Ausgabe des EWS Energiewende-Magazins informieren können.