Atomrenaissance in Europa?
Ein Bericht von Constanze Wolk
Neue Reaktoren in England, eine atomfreundliche EU-Kommission und die drohende Abschaffung der Brennelementesteuer bei uns: Erlebt die Atomkraft eine Renaissance? Darüber diskutierte das Podium auf dem 16. Schönauer Stromseminar.
Bereits das Bühnenbild ist ein deutliches Statement. Rund 70 prall gefüllte Postsäcke mit mehr als 170.000 Beschwerden – Ergebnis einer Kampagne gegen den in Großbritannien geplanten Reaktorneubau «Hinkley Point C» und die dafür in Brüssel bewilligte britische Subvention. Die Postsäcke sind sozusagen die Rückenstärkung für vier ausgewiesene Atomkraft-Gegner auf dem Podium: Reinhard Uhrig, Sprecher der österreichischen Umweltinitiative GLOBAL 2000, Fabian Zuber, Geschäftsführer des Bündnis Bürgerenergie, Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt und Sebastian Sladek, Vorstand der EWS. Gesammelt wurden die Beschwerdebriefe im Rahmen der Kampagne «Kein Geld für Atom – Stoppt Brüssel!» der Elektrizitätswerke Schönau mit Unterstützung von mehr als 30 deutschen und europäischen Umweltverbänden und Institutionen. Gemeinsam will man mit der Aktion eine europäische Atomrenaissance verhindern und den Weg freimachen für eine atomstromlose, klimafreundliche und bürgereigene Energieversorgung.
Kräfte bündeln, sich der eigenen Stärke versichern und gemeinsam Strategien für ein Ende der Atomkraft in Europa entwickeln – das war auch der rote Faden für die von Dagmar Dehmer moderierte Gesprächsrunde. Dass die Energiewende in Deutschland inzwischen nicht mehr im klassischen Sinn dem Kampf von David gegen Goliath gleiche, konnte die Berliner Journalistin dabei durch ihre Fragen an die Experten recht klar herausarbeiten. «David ist ganz schön groß geworden», hieß es im Konsens. So liege der Anteil erneuerbarer Energien im deutschen Stromsystem mittlerweile bei 28 Prozent. Ein Erfolg, der auch über den nationalen Tellerrand hinaus Vorbildwirkung genießt. Deutlich wurde aber auch, dass die «alten Kräfte» nach wie vor mächtig sind – nicht nur in Großbritannien und innerhalb der EU-Kommission.
Das Festhalten Großbritanniens an den Plänen für Hinkley Point C sieht Reinhard Uhrig übrigens auch in den wirtschaftlichen Interessen Frankreichs begründet. «Areva ist kurz vor der Pleite», sagte der Österreicher. «Die müssen diesen Reaktor verkaufen.» Da der französische Areva-Konzern ein zu 87 Prozent staatliches Unternehmen sei, mache Frankreich massiven Druck auf die Engländer, damit die das Atomkraftwerk bauen, «obwohl es nicht wirtschaftlich ist, obwohl es ein offenkundiger ökonomischer und ökologischer Schwachsinn ist», so Uhrig. «Die wenigen, die an Hinkley Point verdienen, haben mehr Einfluss, als die vielen, die es bezahlten», formulierte es Anti-Atomkraft-Aktivist Jochen Stay. Für ihn sei allerdings auch hierzulande immer noch die spannende Frage, ob sich auch hier die wenigen durchsetzen können, die an den deutschen Kernkraftwerken noch viel verdienen wollen. «Die Unternehmen haben so lange ein Interesse daran, wie sich damit noch Geld machen lässt. Wenn jetzt die Brennelementesteuer abgeschafft wird, beginnt noch mal richtig das goldene Ende.» Durch den Wegfall der Steuer würde Atomkraft in Deutschland wieder zu einem lukrativen Geschäft.
Einen weiteren Fokus richtete die Podiumsrunde auf die Gestaltungsmöglichkeiten, um die Energiewende voranzubringen. Die Bürgerenergiegenossenschaften hätten sich dabei zwar als Motor erwiesen, aber beim Marktanteil sei die Bürgerenergie «definitiv noch der David», schätzte Fabian Zuber vom Berliner Verein Bündnis Bürgerenergie die Situation ein. «Es sei denn, wir tun uns so zusammen, dass wir zum Goliath werden.» Wie wichtig es ist, in wessen Hand sich ein Stromnetz befindet, umriss Sebastian Sladek von den EWS. «Der Punkt ist, dass man als Netzbetreiber der Energiewende vor Ort einen richtigen Schub geben kann.» Als Netzbetreiber könne er die Schönauer zum Beispiel auffordern, selber aktiv zu werden, könne er sie beraten, könne er die Installation von Selbstversorgungsanlagen vereinfachen oder beim Anbringen der Anlagen behilflich sein. «Das muss ich alles nicht. Kann ich aber, um das alles zu befördern.» Da es im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) aber immer noch den sogenannten Ökonomievorbehalt gebe – ein Netzbetreiber Selbsterzeugungsanlagen zwar anschließen muss, dies aber nur, sofern es ihm wirtschaftlich zumutbar ist – könnten Netzbetreiber über diese Schiene auch einfach eine Blockade errichten. Denn was wirtschaftlich zumutbar sei, liege immer im Auge des Betrachters, so Sladek.
Einig waren sich die Podiumsteilnehmer darin: Für die Energiewende besteht – trotz bereits erzielter Erfolge – dringender Handlungsbedarf. Sei es bei der Umgestaltung des EEG, das der aktuellen Entwicklung weit hinterherhinke und sich in einigen Bereichen sogar als kontraproduktiv erwiesen habe, oder beim Netzausbau. Die Forderung nach «Kostenwahrheit» der Strompreise wurde mit besonderem Beifall bedacht. Dies offensichtlich nicht nur wegen der aktuellen Debatte um die Finanzierung des Atomausstiegs und der Folgekosten der Atomenergie hierzulande. Denn wie die zahlreichen Wortmeldungen aus dem Publikum im Anschluss an das Podiumsgespräch zeigten: Am Ende interessierte vor allem der Blick über die Landesgrenze hinaus und die Frage, wie man bei den Nachbarn «Ausstiegshilfe» aus der Atomenergie leisten könne. Oder sinnbildlich formuliert: Wie kann David denn nun auch im europäischen Kontext an Schlagkraft gewinnen?
Im Ergebnis verdeutlichte die Fülle an Publikumsfragen, dass die Anti-Atomkraft-Bewegung in Europa vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen steht. Wie die 70 Postsäcke der europaweiten Beschwerdeaktion gegen Hinkley Point C eindrücklich vor Augen führten, gelte es, sich noch weiter zu vernetzen und mehr gemeinsame Initiativen und Kampagnen zu entwickeln – eben mit vereinten Kräften über die Landesgrenzen hinweg an einem Strang zu ziehen. Konkrete Ideen gab es auch: Während Jochen Stay dazu anregte, breitere Allianzen zu schmieden, um «mehr Leute auf die Straße» zu bringen und «den Druck zu verstärken» in Richtung Politik, plädierte Reinhard Uhrig dafür, gezielt auch «mit dem Instrument der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) anzugreifen». Für ihn sei das «die Chance», die größte Gefahr der Atomkraft in Europa zu verhindern: die Laufzeitverlängerung von extrem alten und extrem unsicheren Kernkraftwerken. «Ich glaube, da müssen wir noch ganz starken Druck machen», so Uhrig.