Watt aus Wasser
Ein Bericht von Daniel Hautmann
Über 7.000 Wasserkraftwerke gibt es in Deutschland, die meisten davon sind Kleinanlagen. Eine davon betreibt Stefan Jakobi aus dem thüringischen Motzlar.
Im immer gleichen Rhythmus stampft Stefan Jakobis Wasserkraftwerk durch die Tage und Nächte. Während andere kein Auge zumachen würden, schlummert er seelenruhig. Was ihn aus dem Schlaf reißt, sind ungewohnte Geräusche seines Wasserrads. Jakobi steigt dann aus dem Bett, schnappt sich seine Taschenlampe und sucht die Quelle des störenden Rumorens. Ein Grund könnte Treibgut sein, das gegen den Rechen poltert. Oder Äste, die in die Schaufeln gelangt sind und dort blechern klopfen: Jakobi kennt die Geräusche alle.
Vom Säge- zum Kraftwerk
Der Kraftwerksbetreiber lebt mit seiner Familie im Biosphärenreservat Rhön, im Dreiländereck Hessen-Bayern-Thüringen. Sein Heimatort Motzlar hat 345 Einwohner und zwei Wassermühlen, die beide vom Flüsschen Ulster angetrieben werden. Hier wuchs Stefan Jakobi auf, direkt neben der Mühle aus dem 16. Jahrhundert, in der schon sein Großvater ein Sägewerk betrieb. Die Späne fliegen zwar längst nicht mehr, erahnen lässt sich das Ritsch-Ratsch und der Geruch frischen Holzes aber noch immer: Gusseiserne Maschinen zeugen von geschäftigen Zeiten. Meterlange Gestänge, die die Kraft der Wasserräder per Riemen übertrugen, hängen noch oben im Gebälk der Scheune. Im Regal stauben Ersatzteile vor sich hin.
Das Ding muss brummen.
Als Jakobi die stillgelegte Mühle 2004 von seinem Großvater erbt, ist ihm klar: «Das Ding muss brummen.» Also baut er sie zu einem Kraftwerk um. «Die beiden Originalwasserräder von 1923 sind noch drauf», sagt der gelernte Landmaschinen-Mechaniker stolz. «Daran habe ich je ein Getriebe angeflanscht und betreibe damit zwei Generatoren mit jeweils 7,5 Kilowatt.» Betonsockel hat er gegossen. Kabel verlegt. Schaltkästen angeschlossen. Zuletzt hat er die 36 Schaufeln der beiden vier Meter großen Räder gegen neue, effizientere ausgetauscht. Die Arbeit hat sich gelohnt: Das Ding brummt. «Wir erzeugen rund 50.000 Kilowattstunden pro Jahr», freut sich der 49-Jährige.
Mobil dank Wasserkraft
50.000 Kilowattstunden. Für das, was man gemeinhin unter Wasserkraftwerk versteht, ist das eine Marginalie, große Anlagen, etwa am Rhein, erzeugen Millionen Kilowattstunden. Doch für eine Familie ist es mehr als genug. Der Vier-Personen-Haushalt verbraucht pro Jahr rund 4.200 Kilowattstunden. Allerdings sind die Jakobis nicht Durchschnitts-, sondern Großverbraucher: Sie betanken ihr Elektroauto mit dem selbst gezapften Wasserstrom. Seinen Eigenverbrauch zählt Jakobi gar nicht erst, wie er sagt. Was er zählt, ist der Überschuss, den er ins Netz speist. Für jede Kilowattstunde bekommt er zwölf Cent. Rund 400 Euro spült die Wasserkraft pro Monat in die Familienkasse.
«Kleinwasserkraft» nennt man Anlagen dieser Größenordnung. Sie zeichnen sich durch Nennleistungen bis etwa ein Megawatt aus. Zwar dominieren die Großwasserkraftwerke mit weit über 80 Prozent des gelieferten Stroms die Energieerzeugung, die vielen Tausend Kleinanlagen stellen aber den Großteil des Bestands dar. Ganz nach dem Motto: Kleinvieh macht auch Mist.
Der Anteil der Wasserkraft am Bruttostromverbrauch in Deutschland pendelt zwischen drei und vier Prozent. 20 Prozent davon erbringen die kleinen Wasserkraftwerke. Von den insgesamt rund 7.300 deutschen Kraftwerken, die der Bundesverband Deutscher Wasserkraftwerke e.V. (BDW) 2015 gezählt hat, leisten über 5.000 Anlagen weniger als 100 Kilowatt. Jakobis Mühle, mit ihren 15 Kilowatt, ist also ein Paradebeispiel für die kleine Wasserkraft.
Bewährter Spitzenreiter bei Effektivität
Menschen wie Stefan Jakobi erhalten mit ihren Anlagen oft historische Bauten. Und nicht nur das: Sie tragen auch zur Stromversorgung bei. Denn mit ihrem Spitzenwirkungsgrad von über 90 Prozent lässt die Wasserkraft fast alle anderen Ökoenergiearten hinter sich. Während die Erträge von Windkraft und Photovoltaik fluktuieren, liefern Wasserkraftanlagen praktisch immer Strom – rund um die Uhr und das ganze Jahr hindurch. Die jährlichen Schwankungen bewegen sich im Bereich von zehn bis fünfzehn Prozent, hat das Umweltbundesamt berechnet. «Selbst im Rekordsommer 2018 liefen sie», sagt Helmut Jaberg, Professor für Hydraulische Maschinen und Systeme an der Technischen Universität Graz, und fügt an: «Da kann man sich drauf verlassen.»
Markus Zdrallek, Professor für Elektrische Energieversorgungstechnik an der Bergischen Universität Wuppertal, meint sogar, dass die kleinen Kraftwerke der Energiewende einen Bärendienst erweisen: Sie können den teuren und aufwendigen Ausbau der Netze im Zaum halten. Für die Studie «Netztechnischer Beitrag von kleinen Wasserkraftwerken zu einer sicheren und kostengünstigen Stromversorgung in Deutschland» von 2018 (Link zur Studie) haben Zdrallek und seine Mitarbeiter fünf Wasserkraftregionen untersucht und zwei Dutzend Netze analysiert. Im Zentrum stand die Frage: Was wäre, wenn wir die kleine Wasserkraft nicht hätten? Zdralleks Antwort: «Statt Wasserkraft bräuchten wir mindestens die dreifache Leistung aus Windkraft oder sogar die fünffache Leistung aus Solar.»
Kleine Wasserkraft hilft, die Netze zu stabilisieren.
Stephan Naumann vom Umweltbundesamt ist da allerdings skeptisch: «Im Detail ergeben sich aus der Studie einige Fragen. Der Nutzen der Kleinwasserkraft wird hier relativ unkritisch von der lokalen auf die bundesdeutsche Ebene übertragen.»
Zdrallek ist dennoch sicher: «Die kleinen Wasserkraftwerke sind eine wichtige Stützsäule des Energiesystems. Sie stabilisieren die Netze.» Bei einem flächendeckenden Stromausfall könnten sie zukünftig sogar ein Inselnetz bilden – und systemrelevante Einrichtungen, etwa Krankenhäuser, unabhängig vom Netz versorgen.
Lokale Wasserkraft erspart Netzverluste
Laut Hans-Peter Lang, Präsident des BDW, reduzieren die Anlagen aufgrund ihrer Nähe zu den Stromverbrauchern zudem die Netzverluste: Sie erzeugen den Strom konstant und meistens dort, wo er gebraucht wird. Wasserkraftstrom muss daher nicht über lange Distanzen über die Netze transportiert werden. So ergeben sich Einsparungen in Höhe von rund einer Milliarde Euro, heißt es beim BDW.
Balkendiagramm: CO₂-Ausstoß nach Erzeugungsart, absteigend geordnet,
Braunkohle, 1105 Gramm pro kWh,
Steinkohle, 935 Gramm pro kWh,
Erdöl, 890 Gramm pro kWh,
Erdgas, 840 Gramm pro kWh,
Erdgas, Gas-und Dampf-Kraftwerke, 420 Gramm pro kWh,
Photovoltaik, 120 Gramm pro kWh,
Kernkraft, 19,5 Gramm pro kWh,
Windkraft, 12 Gramm pro kWh,
Wasserkraft, 8,5 Gramm pro kWh.
Wasserkraft: immer auch ein Eingriff in die Natur
Zwar stoßen Wasserkraftwerke kein oder kaum CO2 aus, ganz ohne Folgen für die Umwelt ist aber auch das kleinste Wasserrad nicht: «Der Eingriff in die Natur ist da, da muss man gar nicht drum herumreden», sagt Helmut Jaberg. So kann es sein, dass die Anlagen mit ihren Querbauwerken Fischen und anderen Wasserorganismen die Wanderung versperren. Auch können sie die Fließgeschwindigkeit verändern und den Transport von Kiesel, Sand und Schlamm behindern.
Stefan Jakobis Mini-Wasserkraftanlage steht gut da. Der Mühlengraben leitet nur einen kleinen Teil des Wassers der Ulster zu seiner Anlage. Der Hauptstrom ist für Fische und andere Organismen also frei durchgängig. Andere Anlagen, sagt Wasserkraftexperte Stephan Naumann vom Umweltbundesamt, müssten erst aufwendig ökologisch modernisiert und mit Fischaufstiegen nachgerüstet werden. Das mache sie oft unwirtschaftlich.
In dieser Hinsicht muss sich Stefan Jakobi keine Sorgen machen. Was ihm zu denken gibt, ist etwas viel Gewaltigeres: der Klimawandel. Und mit ihm schwindende Wassermassen, das Ausbleiben von Schneefall und der Schneeschmelze im Frühjahr. Dafür gebe es mehr Starkregen, hat er beobachtet: «Im Sommer 2011 hatten wir ein Hochwasser in der Gegend. Da schwammen die Autos durchs Dorf. In dem Moment habe ich gemerkt, dass wir mit all unserem Konsum voll gegen die Wand fahren. Wir müssen was machen». Jakobi macht etwas: «Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht mit Leuten aus der Gegend über Energie und Umweltschutz rede».
Wassermassen als Energiespeicher und -lieferant
Verglichen mit den Großkraftwerken ist der Bau von Anlagen, wie sie Jakobi betreibt, eine Knopfloch-OP. Deutschlands größtes Wasserkraftwerk, das Pumpspeicherwerk Goldisthal in Thüringen, hat eine Leistung von 1.060 Megawatt – das Siebzigtausendfache von Jakobis Anlage. Das Megakraftwerk wurde 2003 gebaut, zapft allerdings nicht einfach die Kraft eines fließenden Gewässers an, sondern fungiert als gigantische Batterie. Herrscht Stromüberschuss, wird Wasser auf ein höhergelegenes Niveau gepumpt. Dazu wurde oben auf dem Berg ein Becken angelegt, das zwölf Millionen Kubikmeter Wasser fast – ein Volumen von 3.200 Olympiabecken. Wird schnell Strom benötigt, fließt das Wasser durch Turbinen und sammelt sich anschließend im unteren Speicherbecken. Keine Frage: Der Bau solcher Anlagen ist ein enormer Eingriff in die Natur.
Obwohl Wasserkraftwerke wie das in Thüringen deutlich mehr Strom liefern, sind kleine Anlagen meist umweltverträglicher und fügen sich viel harmonischer in die Landschaft ein. Nachholbedarf in Sachen Umweltschutz haben dennoch auch zahlreiche Kleinstwasserkraftwerke. Sie könnten sich bei Stefan Jakobi abschauen, wie es geht. Seine Mühle in Motzlar ist geradezu vorbildlich: Der Hauptstrom fließt an den beiden Mühlrädern vorbei. Die Abstände zwischen den Schaufeln sind groß und die Drehzahl ist gering.
Mit diesem Wissen kann Stefan Jakobi seelenruhig schlafen, während seine beiden Wasserräder durch die Nacht stampfen. Nur ganz selten muss er mal raus, wenn einmal wieder Treibgut gegen den Rechen poltert. Dann schnappt er sich seine Taschenlampe und macht sich auf die Suche nach dem Ursprung des Klapperns.
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