Stromallmend: Wirtschaften mit Schweizer Gemeinsinn
Ein Bericht von Sebastian Drescher
Eine Schweizer Genossenschaft will Besitzer von Solaranlagen mit Stromkunden zusammenbringen – und stößt dabei auf einige Hürden.
Amadeus Wittwer ist Netzwerker. Einer, der Leute mit ähnlichen Überzeugungen zusammenbringt und daraus etwas Neues wachsen lässt. Manchmal genügt es dafür schon, an der Straße zu stehen und ein kleines Pappschild hochzuhalten – so wie im März 2011 nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima.
Die Nachrichten aus Japan hätten ihm damals den Schlaf geraubt, erinnert sich Wittwer. Er habe an die Risse im Kernmantel des nahen Atommeilers Mühleberg gedacht. An seine Kinder. Und an die träge Energiepolitik in der Schweiz. Am nächsten Morgen stand er auf, schrieb «Energiewende jetzt!» auf ein Pappschild und stellte sich an die Kreuzung an der Einfahrt zu Mittelhäusern, einer genossenschaftlichen Reihenhaussiedlung mit bunt bemalten Wänden, mitten im konservativ geprägten Berner Umland.
Energiewende selbst in die Hand nehmen
Sieben Jahre später sitzt Wittwer im «Coworking Space» der Siedlung und schenkt Kaffee ein. Der 41-Jährige hat viele Mitstreiter gefunden, in Mittelhäusern und in anderen Teilen der Schweiz. Er hat seinen Job beim WWF aufgegeben und ist Geschäftsführer der «Energie Genossenschaft Schweiz (EGch)» geworden, deren 350 Mitglieder die Energiewende selbst in die Hand nehmen wollen. Wittwer arbeitet von zu Hause aus, genauso wie die zehn Festangestellten der Genossenschaft. Die Projekte koordinieren sie via Skype und Telefon, zweimal jährlich treffen sich alle für eine Klausurtagung.
Der Coworking Space ist eigentlich ein Dorfladen, in dem nachmittags Brot und Gemüse verkauft werden. Neben den Kartoffeln und Karotten steht, wer die Produkte angebaut hat, von manchen Landwirten ist ein Foto zu sehen: Direktvermarktung vom Erzeuger zum Endkunden. Wittwer, gelernter Elektromechaniker, glaubt an dieses Konzept, auch bei der Energieversorgung. Neben dem Bau von Photovoltaikanlagen, der Förderung der Energieeffizienz und dem solidarischen Wirtschaften ist die direkte Vermarktung von Solarstrom das wichtigste Anliegen der Genossenschaft, das die Schweizer mit dem Projekt «Stromallmend» umgesetzt haben.
Wir waren unter den ersten, die so etwas in der Schweiz gemacht haben.
Wenig Bewegung im Schweizer Strommarkt
Alternative Ansätze hatten in der Schweizer Energieversorgung bisher einen schweren Stand. Der Strommix hat sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Rund ein Drittel der Produktion entfallen auf Atomstrom, 60 Prozent stammen aus der Wasserkraft, der Rest aus Wärmekraft, Biomasse, Solaranlagen und aus gerade drei Dutzend Windkraftanlagen. Manche loben die Schweiz für ihren sauberen Energiemix, weil kaum fossile Energieträger verbrannt werden. Andere wollen weg vom Atomstrom und warnen angesichts des Klimawandels davor, künftig noch mehr auf Wasserkraft zu setzen. Fakt ist: Gemessen an der Bevölkerungsgröße ist der Anteil von Solar- und Windstrom europaweit nur noch in Lettland, der Slowakei, Slowenien und Ungarn geringer als in der Schweiz.
«Vor allem die großen Stromfirmen haben gebremst», kritisiert Wittwer. Und die Politik habe den Ausbau der Erneuerbaren Energien nur halbherzig betrieben. So sei die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) für Solaranlagen, die 2009 eingeführt wurde, stark gedeckelt worden und sehr schnell ausgeschöpft gewesen. «Wer heute eine PV-Anlage betreibt, kann zwar seinen Strom einspeisen, bekommt aber oft zu wenig, als dass sich die Investition rechnen würde», erklärt Wittwer.
Gemeinsam erzeugen, gemeinsam nutzen
Die «Stromallmend» will Abhilfe schaffen: Private Betreiber von Solaranlagen können darüber ihren Ökostrom zu einem fairen Preis einspeisen, Endkunden erhalten sauberen Strom von einem Anbieter, der bewusst auf den zusätzlichen Vertrieb von Atomstrom verzichtet. Produzenten können das virtuelle Kraftwerk zudem als Batterie nutzen und bei Bedarf ohne Aufpreis Ökostrom beziehen. Rund ein Drittel der Strom erzeugenden Mitglieder macht davon Gebrauch.
Die Genossenschaftler knüpfen an eine Wirtschaftsform an, die nicht nur in der Schweiz eine lange Tradition hat: die Allmende. Die Bauern ließen ihr Vieh hier früher oft auf Flächen weiden, die gemeinsam genutzt werden durften; auf manchen Almen wird das bis heute so gehandhabt. «Wir haben uns bei der Formulierung unserer Statuten an den Regeln der Alp-Allmenden orientiert», erklärt Wittwer. Das habe erstaunlich gut funktioniert. Allerdings kämpft die Stromallmend mit ähnlichen Problemen wie ihre historischen Vorläufer: der Gefahr der Übernutzung.
Rund 700 Megawattstunden Solarstrom haben die gut hundert Produzenten 2017 in die Stromallmend eingespeist, auf der Abnehmerseite standen 220 Konsumenten, darunter einige Großverbraucher. Wittwer sieht die Aufgabe der Genossenschaft darin, die Allmende zu pflegen, das Gleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch zu halten und die Preise fair zu gestalten. Gerade Ersteres sei nicht immer einfach: «Wir haben eine lange Warteliste von Produzenten, die mitmachen wollen. Aber es fehlt an Konsumenten.»
Strommarktregulierung als Hemmschuh
Warum es so schwer fällt, neue Abnehmer zu gewinnen, wird deutlich, wenn Wittwer über den Schweizer Strommarkt spricht. Der nämlich ist – anders als in Deutschland – noch immer stark reguliert. Privatkunden sind an ihr lokales Energiewerk gebunden, das den Anschluss und die Stromversorgung bereitstellt und dafür einen Grundbetrag abrechnet. Möglich ist lediglich der Handel mit sogenannten Herkunftsnachweisen. Die geben Auskunft über die Stromqualität, ob der Strom aus Atomkraft oder aus Erneuerbaren Energien wie beispielsweise Wasserkraft stammt.
Potenziellen Kunden muss Wittwer deshalb erklären, was der Unterschied ist zwischen dem physischen Strom, der aus der Steckdose kommt, und den Herkunftsnachweisen. Und warum sie als Mitglieder in der Stromallmend zwei Rechnungen bekommen würden. «Das ist vielen schlicht zu kompliziert», meint Wittwer.
Ambivalente Haltungen zur dezentralen Energieversorgung
Der Umweltpsychologe Roman Seidl hat für die ETH Zürich die Einstellung der Schweizer Bevölkerung zu dezentralen Energiesystemen untersucht. Er beobachtet, dass alternative Lösungen häufig noch unbekannt seien, aber nicht unbedingt auf Ablehnung stießen: «Viele finden die Idee grundsätzlich gut und spannend.» Zugleich warnt er davor, die Kunden zu überfordern und deren Bereitschaft zu überschätzen.
Den meisten reicht es, wenn der Strom aus der Steckdose kommt.
Eine Chance für dezentrale Systeme sieht Seidl in der Verbindung von ländlichen und urbanen Räumen. In den Städten gebe es großen Strombedarf, aber wenig Flächen für Solaranlagen, in ländlichen Gebieten sei dagegen die Situation umgekehrt. Er teilt die Einschätzung Wittwers, dass regionale Nähe auch beim Strom eine Rolle spielen könnte: So verbinde die «Stromallmend» zwar Teilnehmer aus der gesamten Schweiz, es bildeten sich aber öfter lokale Knotenpunkte, so Wittwer: «Manchen hilft es, wenn sie wissen, wer der Produzent ist», meint Wittwer.
Das ist auch im Fall von Hannes Heuberger so. Der pensionierte Baubiologe hat 2016 eine PV-Anlage mit elf Kilowattstunden Leistung auf dem Dach seines sanierten Bauernhofs installieren lassen. Die Herkunftsnachweise verkauft er an die Genossenschaft. Fünf Rappen pro Kilowattstunde bekommt er dafür. «Mehr als von meinem lokalen Energieversorger.» Inzwischen versorgt Heuberger auch zwei Familien mit Strom, die in seinem Haus in Meikirch zur Miete wohnen. Solch private Verbrauchsgemeinschaften sind in der Schweiz seit Anfang des Jahres erlaubt. Für seine Mieter zahle sich das aus, meint Heuberger: «Ich bin günstiger als der Energieversorger.»
Weil Heuberger als Prosumer auch Überschüsse ins Netz einspeist und bei geringer Eigenproduktion zurückkauft, wäre es ihm am liebsten, wenn seine Mieter genau dann möglichst viel Strom verbrauchen, wenn dieser vor Ort produziert wird: dass sie also die Waschmaschine genau dann anwerfen, wenn draußen die Sonne auf die Paneele brennt. Das aber sei nicht so einfach zu vermitteln, meint er. Den Umweltpsychologen Seidl wundert das wenig: «Je stärker der Eingriff in die private Sphäre, desto geringer ist die Akzeptanz», meint er. Gerade die wachsende Unabhängigkeit und Autarkie seien für viele das Argument, selbst in die Stromproduktion zu investieren.
Zwischen zwei Weichenstellungen
2017 haben die Schweizer in einer Volksabstimmung die politischen Weichen für die Energiewende gestellt. Die verabschiedete Energiestrategie 2050 sieht vor, dass keine neuen Atomkraftwerke gebaut werden und die noch aktiven Meiler bis Mitte des Jahrhunderts vom Netz gehen – als erstes trifft es 2019 das AKW Mühleberg bei Bern. Zum Ausgleich soll einerseits der Energieverbrauch deutlich sinken und die Erneuerbaren ausgebaut werden: von 1,7 Terawattstunden in 2015 auf 24,2 Terawattstunden Einspeisung in 2050.
Amadeus Wittwer glaubt nicht, dass diese Pläne mittelfristig greifen. Die Energieversorger hätten derzeit wenig Anreize, in Erneuerbare zu investieren. Und auch die Einspeisevergütung werde vorerst nicht ausreichend steigen. Den Schlüssel sieht er in der Liberalisierung des Strommarktes, über den die Schweizer voraussichtlich 2019 abstimmen werden. Konsumenten dürften dann entscheiden, wo sie ihren Strom beziehen und wie nachhaltig der sein soll. Und die Genossenschaft könnte als Solarstromanbieter die komplette Versorgung mit Hundert Prozent Ökostrom übernehmen – und damit zur vollwertigen Alternative werden: «Wir sind bereit dafür», sagt Wittwer.
Die Energie Genossenschaft Schweiz (EGch) wurde 2012 gegründet. Die Genossenschaft mit rund 350 Mitgliedern will Erneuerbare Energien fördern und setzt sich für mehr Energieffizienz ein. Zudem plant und baut die Genossenschaft PV-Anlagen. Das Projekt "Stromallmend" bringt Solarstromproduzenten und -konsumenten aus der gesamten Schweiz in einem virtuellen Kraftwerk zusammen. Weitere Informationen finden Sie auf der Website der «Energie Genossenschaft Schweiz».
Wie das Netzwerk für Solarstrom – die Stromallmend – funktioniert, erfahren Sie in dem Video der Genossenschaft.