«Rohstoffknappheit gibt es nicht»
Der Visionär Thomas Rau im Gespräch mit Anne Backhaus
Wie können wir es schaffen, nachhaltig mit unseren Ressourcen umzugehen? Thomas Rau hat ein neues Wirtschaftssystem erdacht, das die Welt retten soll.
Am Anfang seiner Arbeit steht meistens eine Frage. Am besten eine, mit der Thomas Rau alles andere infrage stellt. Das mag er. Das hat ihm bislang auch am meisten gebracht. So ist der Architekt zu einem Vordenker der sogenannten «Circular Economy» geworden – eine Kreislaufwirtschaft, die dafür sorgt, dass unter anderem die Ressourcen- und Energieverschwendung minimiert werden.
Die «British School in The Netherlands» in Den Haag hat der Deutsche, der schon lange in den Niederlanden lebt, zum Beispiel mit einem Netz aus Wasserleitungen versehen, das sich durch die Deckenkonstruktionen windet. Das Wasser darin speichert die Wärme, die während des Schulbetriebs von den Schülern und Lehrern abgegeben wird, und wird in Tanks im Keller des Gebäudes geleitet. Indem bei Bedarf das Warmwasser wieder in die Unterrichtsräume zurückgeführt wird, fungiert das System als klimaneutrale Heizung. Bei gut 21 Grad Raumtemperatur könne man auf diese Weise zwei Drittel des Energiebedarfs decken, so Thomas Rau. Er hat viele solcher Ideen. In seinem Architekturbüro in Amsterdam konzipiert Rau inzwischen nur noch energiepositive Bauten, die mehr Energie erzeugen, als es für ein angenehmes Raumklima und die Gebäudenutzung erforderlich ist.
Mit derselben Konsequenz stellt sich Thomas Rau auch weitaus umfassendere Fragen: Was wäre, wenn wir in Zukunft nichts mehr besäßen? Könnte man unser auf Wachstum basierendes Wirtschaftssystem so durch ein neues Wirtschaftsmodell ersetzen? Eines, in dem nicht ständig Ressourcen verschwendet werden?
An Ideen dazu mangelt es ihm nicht. 2015 lief im niederländischen Fernsehen eine Dokumentation über ihn mit dem Titel «The End of Ownership». Darin erklärt Rau unter anderem, wie er ausgerechnet die Firma Philips dazu gebracht hat, ihm keine Glühlampen mehr zu verkaufen. Schon gar nicht welche, die ohnehin nach kurzer Zeit kaputt gehen. Rau kauft von Philips «zehn Jahre Schreibtischlicht». Das Unternehmen kümmert sich nun nicht nur um die Leuchtmittel, sondern auch um den Strom. Doch warum sollte Philips das machen?
Ganz einfach: Philips verdient gut daran. Das Unternehmen nimmt letztlich auf Servicebasis, also als Bereitsteller von Licht, mehr Geld ein als auf Produktbasis, also als reiner Verkäufer von Glühlampen. Und Rau als Kunde zahlt nur noch für die Dienstleistung und nicht mehr für die Rohstoffe – denn die werden während der Nutzung von Raus neuer Firma «Turntoo» zwischenfinanziert. Sobald der Vertrag ausläuft, gehen die Leuchtmittel zurück an Philips und das Unternehmen erstattet Turntoo die Zwischenfinanzierung.
In dem Moment, so Raus Theorie, in dem man bei Herstellern «Licht» oder beispielsweise «30 Jahre Bodenbelag» kauft, sorgen diese automatisch dafür, dass die dafür benötigten Materialien möglichst lange halten. Das vermeidet Müll. Außerdem gehören die Rohstoffe eben weiterhin dem Unternehmen, das sie nach der Miete erneut verwerten kann. «Die Umwelt», so ist sich Thomas Rau sicher, «können wir nur über den Kapitalismus retten. Firmen werden niemals moralisch handeln, also müssen sich die Strukturen ändern, damit sie es für den Profit tun.»
Herr Rau, in Deutschland ist vor Kurzem «Material Matters» erschienen. In dem Buch führen Sie aus, wie zukünftig die Umwelt geschont, die Ressourcenverschwendung beendet und gleichzeitig die Wirtschaft angekurbelt werden kann. Ist das nicht utopisch?
Diese Veränderung ist möglich. Sie ist aber vor allem notwendig. Unser gesamtes Dasein hängt davon ab. Wir müssen endlich unsere Produktionsprozesse so organisieren, dass wir keine Rohstoffe mehr verlieren, nur weil wir ein Gebäude oder einen Computer damit bauen. Viele sagen zudem, wir hätten ein Energieproblem. Das stimmt aber nicht. Wir haben genug Energie. Unser Energiebedürfnis versorgen wir nur eben mit endlichen Rohstoffen, deswegen müssen wir uns mehr mit dem Rohstoffmanagement auseinandersetzen.
Einer Ihrer Leitsätze ist: «Lasst uns tun, was wir tun müssen. Nicht, was wir tun können.» Was muss geschehen?
Das Einzige, was man zum Tun braucht, ist der Wille. Ich will die Welt verändern. So schnell wie möglich. Unser Dasein geht momentan auf Kosten von all dem, was es überhaupt erst möglich macht. Die Erde ist ein geschlossenes System. Man hat, was man hat. Deshalb ist alles ist gleich wichtig, ganz unabhängig von einem monetären Wert. Und daher gibt es auch keine Rohstoffknappheit.
Wie bitte?
Rohstoffknappheit gibt es nicht. Es gibt ja auch keine Rembrandt-Knappheit, dabei hat der auch nur so und so viele Bilder gemalt. Letztlich ist aber alles auf der Erde endlich vorhanden und so sollten wir es auch behandeln. Daraus resultiert natürlich die Frage: Wie kann ich ein begrenztes Vorkommen so organisieren, dass es unbegrenzt verfügbar bleibt?
Und wie könnte das funktionieren?
Über die Quelle. In der Natur ist das die Sonne. Eine unendliche Quelle, die seit dreieinhalb Milliarden Jahren scheint. Jedes Jahr kommt sie zum Apfelbaum und sagt: «Deine Äpfel sind so unheimlich lecker. Nächstes Jahr komme ich zurück und wir machen wieder welche – und das Jahr danach auch.» Und so geht das immer weiter.
Wer oder was soll in Ihrem Sinnbild denn den Platz der Sonne in unserem Handeln einnehmen?
Klar, wir machen keine Äpfel. Wir machen Kameras, Smartphones oder Autos, bauen Häuser. Deswegen heißt unsere unendliche Quelle: Daten. Alles, was Daten hat, hat eine Identität. Alles, was eine Identität hat, ist auffindbar. Und was auffindbar ist, steht jederzeit zur Verfügung.
Ein Kataster für Ressourcen
Aber trotzdem sind diese Dinge und Materialien doch begrenzt.
Nicht, wenn wir alles mit Daten versehen. Alle Materialien müssen in einer Online-Plattform registriert werden, damit wir es wiederfinden: Wo ist eigentlich gerade dieses oder jenes wertvolle Metall? Steckt es in einem Auto oder in einer Kamerabatterie? Oder wartet es irgendwo in einer Lagerhalle?
Wir müssen ein neues Denken implementieren: ein Denken, das Ressourcen respektiert und Geld spart.
Sie haben in den Niederlanden bereits eine Art Kataster, also ein Register für Materialien gestartet: das «Madaster». Was soll diese Plattform bewirken?
Das Madaster soll Abfall eliminieren. Zu hundert Prozent. Abfall ist Material ohne Identität.
Wie läuft es an?
Einige Millionen Quadratmeter dokumentierter Gebäudeflächen sind schon online, aber bislang nur in Holland. Wir haben aber ja auch erst vor 20 Monaten begonnen. In der Schweiz startet gerade ein Madaster, bald laufen Projekte in Taiwan und in sieben weiteren Ländern an.
Wie funktioniert das konkret? Ich kann online nachschlagen, welche Materialien wo verbaut sind? Warum sollte ich das?
Also, da drüben sehen Sie den Alexanderplatz. Über das Madaster könnten Sie nun alle zugehörigen Daten finden und genau sehen, was dort im Berliner Fernsehturm verbaut wurde: wie viel Stahl, wie viel Beton, wie viel Kupfer. Wo das alles herkommt. Im besten Fall auch, wie lange der Fernsehturm noch steht.
So wird das Gebäude zu einer Art Mine? Aber man will doch nicht ständig alte Gebäude abreißen, nur weil irgendwer Kupfer braucht.
Natürlich nicht! Aber viele werden ja ohnehin abgerissen. In dem Moment, wo ich alles vorwärtsgerichtet aufschreibe, dokumentiere ich meine Mine von morgen. Wir haben mit dem Madaster vor allem ein neues Denken implementiert. Ein Denken, das Ressourcen respektiert, uns anders bauen lässt und Geld spart. Denn derzeit holen wir immer alles von weit her zu uns. Demnächst müssen wir nur noch schauen: Wo wird denn bald was frei? Da muss ich nicht mehr nach Südafrika mit dem Schiff, sondern finde mein Material vielleicht drei Straßen weiter, weil da gerade ein Gebäude demontiert wird. Ich spare Geld, die ehemaligen Besitzer müssen nichts wegwerfen.
Wie würden Sie Ihre Art zu denken beschreiben?
Trivial und einfach.
Sie wurde von anderen auch schon als revolutionär bezeichnet. Können Sie mir ein Beispiel für einen Ihrer Denkprozesse geben?
Mit meinem Architekturbüro wollte ich ein Gebäude bauen, da sollte ein großes Stahldach drauf: 6.500 Quadratmeter. Da macht man normalerweise eine Ausschreibung und sucht ein Stahlunternehmen, das so ein Dach bauen kann. Wir haben das genauso gemacht. Doch mir kamen die Kostenvoranschläge falsch vor.
Warum?
Na ja, was ist denn der Reflex vom Stahldachbauer? Das ist er: «Wunderbar! Ich habe hier jemanden, dem kann ich unheimlich viel Stahl andrehen, da er ja gar nicht weiß, wie wenig man eigentlich braucht, um so ein Dach zu machen.» Je mehr Stahl der verwendet, umso mehr Geld bekommt er von mir. Von der Denke her ist ein Stahldachbauer also eigentlich der falsche Partner für mich. In solchen Fällen frage ich mich: Wer könnte der richtige Partner sein? Also zumindest, wenn ich die Ressource Stahl und meinen Geldbeutel schonen will.
Dinge von der anderen Seite her denken
Und wer ist das?
Einer, dessen Geschäftsmodell es ist, möglichst wenig Stahl zu verwenden. Darüber habe ich einige Zeit nachgedacht und dann fiel mir auf, dass ein Achterbahnbauer bestimmt interessant sein könnte. Denn Achterbahnen sind aus Stahl und die müssen ja jedes Wochenende auf- und abgebaut, dann über weite Strecken transportiert werden. Jedes Kilo zu viel ist da überhaupt nicht gut fürs eigene Geschäftsmodell.
Fragt immer: Wer ist mein Achterbahnbauer?
Das ist ein interessanter Gedanke.
Das sagen Sie jetzt, aber damals waren alle dagegen. «Das ist doch Blödsinn! Das kannst du doch nicht machen!» Aber ich bin bis nach Belgien gefahren und habe dort einen renommierten Kirmesbauer persönlich gefragt: Können Sie mir ein Stahldach bauen?
Hat er zugestimmt?
Natürlich nicht! Der hat gesagt: «Schauen Sie doch, hier auf meiner Visitenkarte steht Kirmesbauer. Nicht Stahldachbauer! Das mache ich nicht.» Dann habe ich ihn aber gefragt: «Könnten Sie sich denn vorstellen, eine horizontale Achterbahn zu bauen, die ich einfach nur Dach nenne?» Da saß er da und hat genickt.
Das hat funktioniert?
Er hat es gemacht. Und er hat 35 Prozent weniger Stahl gebraucht als die mittlere Menge, die von allen Stahldachbauern vorher veranschlagt worden war. Nur, weil er ein anderes «Mindset» hat. Das ist doch fantastisch. Und ein echtes Phänomen.
Wie meinen Sie das?
Wir fragen immer die Leute, die bereits etwas tun. Das ist oft aber gar nicht so gut. Warum fragen wir nicht die Leute, die erst das Richtige denken, bevor sie etwas tun?
Vermutlich sehen das traditionelle Handwerksbetriebe etwas anders.
Ihr könnt das alles für Unsinn halten, was ich mir so ausdenke. Aber fragt euch doch selbst bitte beim nächsten Mal: Wer ist mein Achterbahnbauer? Egal, für welches Anliegen. Ich prophezeie: Es wird jemand anderes sein, als der, mit dem ihr normalerweise zuerst darüber reden würdet. Und ihr werdet davon profitieren. Vieles ist einfach genau anders herum, als wir es denken. Die Frage, warum wir aber immer zuerst alles verkehrt herum denken – die habe ich für mich noch nicht beantwortet.
Thomas Rau
Thomas Rau, 1960 geboren, ist in Gummersbach aufgewachsen und lebt inzwischen in Amsterdam. Dort hat er auch sein Architekturbüro sowie die neue Firma Turntoo und die Online-Plattform Madaster gegründet. 2013 entwarf Thomas Rau mit seinem Büro das erste zirkuläre Gebäude der Niederlande, das gleichzeitig als Rohstoffdepot fungierte – und wurde prompt zum Architekten des Jahres gewählt sowie mit dem «ARC13 Oeuvre Award» ausgezeichnet. Seitdem hat er zahlreiche Projekte verwirklicht.
Seinen Vortrag beim Schönauer Stromseminar 2019 finden Sie auf dem YouTube-Kanal der EWS.
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