Das große Danach
Ein Porträt von Lea Hampel
Mit seinem Tschernobyl-Dokumentarfilm «Roadside Radiation» stellt der Regisseur Moritz Schulz eine große Frage: Wie wäre die Erde ohne uns?
Immer wieder gab es diese Momente. Moritz Schulz saß im Café, mal in Berlin, mal in seiner Wahlheimat Freiburg, und stellte sich vor, wie es wäre: Wenn plötzlich alles weg wäre. Wenn die Tische verstaubten, die Stuhlbeine verrosteten, die Fensterscheiben trübe würden und das Gras den Gehsteig davor überwuchern würde. Kleine Gedankenspiele, hinter denen große Fragen stecken: Was bleibt von uns, wenn wir einmal weg sind?
Diese Frage bewegt ihn schon lange. Doch während er schon als Jugendlicher darüber nachsinnt, ahnt er damals noch nicht, dass diese Frage ihn eines Tages bis an den Rand Europas, in die Ukraine führen würde. Als dort der Reaktor von Tschernobyl explodierte und Europa in Aufregung versetzte, war Moritz Schulz ein Kind. Zwar kann er sich bis heute erinnern, dass damals abgeraten wurde, Milch zu trinken oder draußen zu spielen.
Aber doch ist er Teil einer Generation, die so bedrohungsfrei wie wenige aufwuchs; zu jung, um die ersten Berichte des Club of Rome mitzuerleben oder auf Anti-Atom-Demos zu gehen, und zu alt, um schon in der Schule Klimawandel und Islamismus verhandelt zu haben. Das politische Bewusstsein kam erst später, erzählt er. Und so ist es wenig verwunderlich, dass es die Kunst war, die ihn dazu gebracht hat, sich mit Tschernobyl zu befassen – und das sie es ist, die er heute, mehr als zehn Jahre später, wählt, um seine Sicht auf eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte auszudrücken.
Eine Fotoausstellung als Inspiration
2006, Moritz studierte gerade Geschichte in Freiburg, nahm ihn seine Mutter bei einem Heimatbesuch in Berlin mit in den Martin-Gropius-Bau, zu einer Ausstellung von Bildern des kanadischen Fotografen Robert Polidori. Der war 2001 in Tschernobyl gewesen. Von dort hatte er nicht die bereits bekannten Bilder der Katastrophe mitgebracht – sondern schlichte Eindrücke des vergangenen Alltags: Wohnungswände mit abblätternder Farbe, Klassenzimmer, denen man förmlich ansah, dass eben noch Schüler darin saßen, Entbindungsstationen, auf denen noch Matratzen in den Betten liegen. «Stilleben des Schreckens» nannte die FAZ die Ausstellung damals, die für Furore sorgte, weil sie eine andere Perspektive einnahm.
Eine, die nicht ausgelegt ist auf Sensation, eher auf Dokumentation. «Er war einer der ersten, der das Thema auf eine andere Weise behandelt hat», sagt Schulz begeistert. Mit «anders» meint er: nicht umweltpolitisch, nicht missionarisch, sondern philosophisch.
Nach dem Ausstellungsbesuch beginnt Moritz, alles nachzulesen, was er zu Tschernobyl finden kann: Romane, Sachbücher, Reportagen. Polidoris Bilder sind ihm Inspiration und Ansporn zugleich. Und sie bringen ihn auf eine Idee: Tschernobyl könnte der richtige Ort sein, um nach Antworten auf die Frage zu suchen, was bleibt, wenn wir gehen. «Das ist ja das genuin Eigene an Tschernobyl: Sonst befindet sich der Mensch immer auf Expansionskurs, dort ist das nicht so.» Dort, hofft er, kann er beobachten, was passiert, wenn wir weniger werden, wenn nicht mehr wir vorgeben, was passiert, sondern die Natur.
Je mehr er liest, umso mehr nimmt über die Jahre ein Gefühl zu: «Ich muss das machen». Machen - das ist nicht nur eine Reise nach Tschernobyl, sondern ein eigener Film. Er dreht bereits selbst, zuletzt ein Stadtporträt von Istanbul. Nun also Tschernobyl. Nach Dutzenden Büchern will er eigene Worte finden, nach unzähligen Reportagen selbst Bilder schaffen. Doch wie porträtiert man einen Ort, für den bereits, wie er sagt, «ausgetretene Pfade der Auseinandersetzung» existieren? Von dem fast jeder Mensch eine vage Idee und zahlreiche Klischees im Kopf hat, aber fast niemand eine realistische Vorstellung? Gerade das findet er spannend. «Wenn man Tschernobyl sagt, meint man längst mehr als einen wirklichen Ort», sagt er – stattdessen hat man Klischees im Kopf, kranke Menschen, kaputte Gebäude, verwahrloste Autos, Tod statt Leben. Ihm selbst geht es, auch nach vielen Seiten Lektüre, nicht anders. Natürlich weiß er, dass es das Gebiet und seine Bewohner wirklich gibt. «Aber trotzdem hatte es etwas von einer Fiktion», erinnert er sich.
Zwischen Fiktion und Realität liegen mehrere Monate Recherche und Überzeugungsarbeit. Moritz hat eine Freundin, die mit einem Stipendium in der Ukraine lebt, zur Mitarbeit überredet und einen Produzenten gefunden. Über eine Crowdfunding-Kampagne haben sie 81 Unterstützer gewonnen. Zu den finanziellen Herausforderungen kommen logistische. Denn stehengeblieben sind in Tschernobyl nicht nur die Häuser, Autos und Spielplätze. «Sondern auch die Institutionen.» Er nimmt sich einen Guide, um mit den Behörden klarzukommen – und stößt dennoch auf Hindernisse, die aus Sowjetunion-Zeiten stammen könnten. Sein Lieblingsbeispiel: Für die Luftaufnahmen will er eine kleine Drohne nutzen. Vorab heißt es, das sei kein Problem; kurz vor der Abreise erfährt er: Auf keinen Fall, das sei Hochsicherheitsgelände. Während Moritz überlegt, wie er ohne Luftaufnahmen auskommt, findet sein Guide heraus, dass der Beamte eine Sorte Whisky besonders mag. «Und dann war das Drohnenproblem, schwuppdiwupp, nicht mehr existent.»
Erst vor der Autobahnabfahrt Tschernobyl habe ich begriffen: Das ist ein echter Ort.
Es ist der Sommer 2015, zu dritt sitzt das Filmteam im Auto, als aus der vagen Vorstellung von Jahren Recherche ein echter erster Eindruck wird – in dem Moment, als die Abfahrt Tschernobyl vor ihnen auftaucht. Was Moritz beim Dreh in den Wochen darauf erlebt, ist wie so oft, wenn man sich sehr lange auf etwas vorbereitet: einerseits genau wie erwartet – und andererseits ganz anders. Denn einerseits entspricht alles dem Klischee: 300 Meter lange Gänge in leer stehenden Gebäuden, verlassene Spielplätze und verwaiste Wohnhäuser: eine Art letzter Vorposten vor der Wildnis, «wie in einer Zeitkapsel». Und andererseits ist es anders als vieles, was schon erzählt, gefilmt, fotografiert wurde: Denn immer wieder herrscht zwischen Wildnis und Verfall das, was Moritz das «Leben im Zwielicht» nennt. Wo eben noch kaum ein Weg zu erkennen war, steht er plötzlich zwischen Häusern, alte Frauen gehen am Wegrand oder jemand baut Einzelteile eines Autos aus.
Es ist das Zwielicht und die Geschichten dazu, die ihn denn am meisten zu interessieren beginnen: Die Oma Baba Ganya, die unverdrossen Himbeermarmelade kocht, ihren Hof ordentlich hält und ab und zu ein Interview gibt. Die Clique aus Jungs, die immer wieder illegal das Gebiet durchforsten und freiwillig das Pfützenwasser trinken; der ehemalige Bewohner, der akribisch Details dokumentiert, weil er aus der «Zone» eines Tages ein Museum machen will. Eines wird bei jedem der Gesprächspartner klar: Tschernobyl, der Begriff, der den Rest der Menschheit kurz zusammenzucken lässt. Das eine Wort steht auch für Heimat – und für etwas, das ein Weitermachen lohnt.
Die großen Fragen bleiben
«All das ist eine Hymne auf den Überlebenswillen», sagt Moritz. Selbiges könnte man auch über das sagen, was Moritz nach vielen Wochen und 40 Stunden Drehmaterial zu 55 Minuten Film montiert hat. Es ist, im Gegensatz zu vielen anderen Tschernobyl-Zeugnissen, kein sich am Grauen ergötzendes Schauermärchen aus der Apokalypse – sondern eine philosophische Betrachtung des Weitermachens. Aber ist es auch eine Antwort auf die Frage, wie es ist, wenn wir gehen? Gelernt, sagt Moritz, habe er, dass es schnell geht, dass der Mensch und sein Wirken nicht mehr sichtbar seien. Oft waren er und seine Drehpartner unterwegs, haben gefragt: «Wo ist das nächste Dorf?» «Wir sind mitten im Dorf», bekamen sie vom Guide zu hören. Sie hatten es schlicht nicht gemerkt, inmitten der Bäume, Sträucher, Wildnis. Dennoch haben ihn die Wochen dort, das Wissen, dass alles irgendwie weitergeht, auch beruhigt.
Auf die großen Fragen «Was bleibt, wofür lohnt es sich, Mensch zu sein?» hat er zwar nicht unbedingt Antworten gefunden. Aber er weiß nun auch: Darum geht es ihm nicht. «Ich will, dass die Menschen mit Fragen an sich selbst wieder aus dem Film rausgehen.»
«Roadside Radiation – vier Leben in der Entfremdungszone»
Dokumentarfilm von Moritz Schulz
Die Website zum Film: Roadside Radiation