Katja Diehl: Die Verkehrswenderin
Ein Porträt von Anne Backhaus
Die Vision der «Stromrebellin 2023»: Niemand braucht mehr ein Auto, denn alle profitieren von einer menschen- und klimafreundlichen Mobilität.
Es wirkt fast so, als wolle sich die Stadt mit Vorsatz von ihrer schlechtesten Seite zeigen an diesem grauen Mittwochnachmittag im August, an dem Katja Diehl ausnahmsweise mal im Auto sitzt. Der Wagen ruckelt über das regennasse Kopfsteinpflaster, entgegengesetzt zum Pfeil auf dem Navi. Eine Baustelle blockiert den kürzesten Weg. Links abbiegen geht nicht, Einbahnstraße. Geradeaus weiter. Die schmale Seitenstraße ist von parkenden Autos gesäumt, rechts behindert bald ein Falschparker das Vorwärtskommen. Dann eine weitere Baustelle, ein Mercedes mit Warnblinklicht, ein Stau.
«Totaler Irrsinn», sagt Katja Diehl auf dem Rücksitz. Regentropfen am Fenster werfen kleine Schatten auf ihr Gesicht. Diehl, große eckige Brille, die braunen Haare zum hohen Dutt gebunden, der Mantel in U-Bahn-Blau, ist mit einem Fotografen unterwegs. In der Hamburger HafenCity wollen sie Porträtaufnahmen machen. Nur müssen sie da erst mal hinkommen. Von Diehls Büro im Herzen der Hansestadt würde es zu Fuß gut 35 Minuten dauern, mit der U-Bahn 25 und mit dem Auto oder dem Rad zwölf. Doch Diehls Klapprad steht gefaltet neben ihren Füßen, stößt bei der holprigen Fahrt immer wieder an ihr Schienbein. Es hätte keinen Sinn gemacht, damit zu fahren. Der Regen, der Fotograf mit seinem Equipment, der Zeitdruck wegen der nahenden Dunkelheit. Also sitzt Diehl im Auto. Ausnahmsweise.
Mein Name ist Katja und ich wende den Verkehr.
Katja Diehl steht nicht besonders auf Autos. «Ich hasse sie aber nicht», wird sie nicht müde zu betonen, weil ihr dies immer wieder unterstellt wird. Sie kommt aus der Branche, war mehrere Jahre als Mobilitätsexpertin für Verkehrsunternehmen tätig. Dann hat sie sich selbstständig gemacht und das Buch «Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt» geschrieben. Vor gut anderthalb Jahren ist es erschienen. Es war einige Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste, gewann den Leserpreis des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises 2022.
«Mein Name ist Katja und ich wende den Verkehr», steht hinten drauf. Im Innenteil hinterfragt Diehl, warum unsere Straßen noch immer voller Autos sind. Warum es normal geworden ist, dass die Autofahrer alle anderen Menschen im Straßenverkehr, nämlich die ohne Wagen, gefährden. Warum wir dulden, dass die Autos vor unseren Häusern parken und so viel zu oft ungenutzt Platz in unserem öffentlichen Raum rauben. Warum wir bei «Verkehrswende» meist an Elektroautos denken anstatt an autofreie Orte, an denen wieder mehr Platz für Natur und Menschen wäre. Warum wir akzeptieren, dass wir so oft auf Autos angewiesen sind.
Lässt sich unser Lebensraum, unser tägliches Fortkommen nicht besser gestalten? Die Antwort der Autorin ist ein klares Ja. Sie fordert nicht weniger als eine Demokratisierung des Verkehrssystems. «Jeder Mensch sollte das Recht haben, ein Leben ohne Auto führen zu können», sagt Katja Diehl. In ihrem Buch zeigt sie dann auch unterschiedlichste Lösungsansätze für eine umweltfreundlichere, aber vor allem faire und inklusive Mobilität auf.
Denn Straßenverkehr, das bedeutet für Diehl aktuell: viele Menschen, die nicht mitgedacht werden. Insbesondere auf dem Land, aber auch in unseren Städten. Vom Rollstuhlfahrer, der zugeparkte Bürgersteige kaum nutzen kann, geschweige denn Zugang zu allen öffentlichen Verkehrsmitteln hat. Über Kinder, die mit «so viel Blech auf Augenhöhe aufwachsen» und deren Weg zum Spielplatz zu gefährlich ist, um allein hinzulaufen. Bis hin zur Frau, die vielleicht zur Frühschicht im Krankenhaus muss und sich um diese Zeit in der U-Bahn unsicher fühlt.
Der Zwang zum Auto ist tief in uns verankert.
Sie alle sollen in Zukunft, wenn es nach Katja Diehl geht, nicht mehr eingeschränkt werden. Gut und sicher bei ihren Zielen ankommen, ganz ohne Autos. Ein sportliches Ziel: Auf 41 Millionen Haushalte kommen derzeit in Deutschland knapp 49 Millionen Pkws – ein trauriger Rekord, der dafür sorgt, dass hierzulande rund ein Fünftel der Treibhausgase im Verkehr freigesetzt wird.
Doch Diehl hat eben nicht nur den Klimawandel im Sinn. Für ihr Buch hat sie mit vielen Menschen gesprochen. Sie stellte vor allem eine Frage, die vielen neu war: Willst du Auto fahren, oder musst du? «Da haben wirklich Leute geweint. Ihnen fiel durch mich zum ersten Mal in ihrem Leben diese ‹Zwangsmobilität› auf», sagt Diehl. «Der Zwang zum Auto ist tief in uns verankert. Er wird nur selten als Zwang empfunden, meist eher als Lösung.» In einem Auto komme man ja auch sicher und schnell voran, nur müsse man es sich eben leisten können. Rund 300 Euro koste bereits ein Kleinwagen nach der Anschaffung pro Monat. Viel Geld, wenn man gar nicht unbedingt Auto fahren will – sondern eben muss.
Viel Aufmerksamkeit – brutale Anfeindungen
«Ich fühle mich privilegiert, weil ich nie ein eigenes Auto besitzen musste», sagt Diehl dann auch selbst. Mit der Bahn und ihrem Faltrad «Lucie» ist sie nach der Veröffentlichung ihres Buches durch die Bundesrepublik gepilgert. Hat Interviews gegeben, Motivationsvorträge gehalten, aus ihrem Buch gelesen, in Talkshows Stellung bezogen. Wurde unter anderem 2022 vom Verkehrsministerium mit dem Deutschen Mobilitätspreis und von den EWS als Schönauer Stromrebellin des Jahres 2023 ausgezeichnet, als «Vorkämpferin für eine menschen- und klimafreundliche Mobilität».
Menschen mögen keine Veränderung – erst recht nicht, wenn sie ihre Privilegien bedroht sehen.
Mit ihrem Kampf hat sich Katja Diehl jedoch auch jede Menge Ärger eingeheimst. Als die «Autohasserin» wird sie von ihren Gegnerinnen und Gegnern bezeichnet und in den sozialen Netzwerken extrem angefeindet. «Menschen mögen keine Veränderung – erst recht nicht, wenn sie ihre Privilegien bedroht sehen», sagt Diehl. «Wir werden die Verkehrswende aber nur hinbekommen, wenn wir bestimmte Privilegien abschaffen.»
Am Fenster zieht inzwischen die Elbe vorbei. Der Fotograf kurvt zusehends verzweifelt durch die HafenCity. Jeder Winkel in dem Neubaugebiet scheint zugeparkt. Diehl blickt raus ins Betongrau. Ärgert sich, weil nirgends ein Baum steht, kaum ein öffentlicher Platz barrierefrei ist. Checkt zwischendurch schnell die Dutzenden neuen Benachrichtigungen bei Instagram, seufzt. Sagt dann: «Ich habe wohl unterschätzt, wie sehr die Deutschen an ihren Autos hängen. Wie sie sich persönlich angegriffen fühlen, wenn man einfach nur alte Gewohnheiten hinterfragt.»
Diehl hat vor allem unterschätzt, wie sehr manche dazu bereit sind, selbst anzugreifen. Nach einem Auftritt in der Polit-Talkshow «Anne Will» Anfang Februar dieses Jahres und der Teilnahme an einer Veranstaltung von «Fridays for Future» wenige Tage später erhält Katja Diehl unzählige Morddrohungen. Ein Zitat von ihr, das hier nicht wiederholt werden soll, wurde online aus dem Zusammenhang gerissen und hat sie zur Zielscheibe gemacht. Die Morddrohungen kommen über Mail, Twitter, LinkedIn und Instagram. Mehr als 50 Anzeigen hat Diehl anschließend erstattet, spricht heute vom «Februar des Hasses».
Eine Datenrecherche der Hilfsorganisation «HateAid», die sich für Menschenrechte im digitalen Raum einsetzt, ermittelte das Ausmaß auf Twitter. «Wie massiv die Attacken sind, zeigen die Zahlen: Im gesamten Februar gab es allein in der von uns betrachteten rechten bis rechtsextremen Blase auf Twitter mehr als 9.000 Tweets zu Katja Diehl», heißt es dazu in einer Mitteilung. «Am 19. Februar erscheint schließlich ein Interview mit Katja Diehl auf bild.de, aufgrund dessen es zusätzlich zu massiver Kritik und einem Hassangriff von links kommt.» Für Diehl war dieser Angriff fast der schlimmere – kam er doch von Menschen, denen sie sich zugehörig fühlt, mit denen sie eigentlich Seite an Seite zu kämpfen glaubt. Und noch dazu infolge eines Interviews, von dem sie nicht wusste, dass es ausgerechnet bei der «Bild» erscheinen würde. Die Journalistin, so Diehl, habe ihr Blatt nicht genannt. Am nächsten Tag deaktiviert Katja Diehl für etliche Wochen ihren Twitter-Account.
Wenn sie heute auf diese Zeit angesprochen wird, schüttelt sie den Kopf. Vor der Fahrt zur HafenCity wuselte sie noch in ihrem Büro herum. Ein Raum mit hohen Decken im Erdgeschoss eines Rotklinkerbaus. Drei Schreibtische, Sitzecke mit Mid-Century-Stühlen, ein paar Topfpflanzen und Fenster fast bis zum Boden. Diehl ist keine, die sich im Gespräch versonnen eine Haarsträhne hinters Ohr streicht oder nachdenklich in ihrem Tee rührt. Eher springt sie plötzlich auf, stopft noch ein Buch in ihren Patchwork-Rucksack und erklärt dabei, dass der aus alten Festivalzelten zusammengenäht ist. «Von Leuten aus Hamburg, total tolle Idee. Ich kaufe möglichst nichts mehr in neu.»
Und beim Gespräch zu den Morddrohungen, da dreht sie einem bald den Rücken zu, klappt schon mal das Rad zusammen. Ist sichtlich angegriffen. «Daran kann man sich nie gewöhnen», sagt Katja Diehl schließlich. «Der Hass im Netz ist unmenschlich.»
Lösungen für ein autofreies Leben aufzeigen
Eine schwere Atemwegsinfektion nahm ihr nach dem Vorfall zusätzlich Kraft. Sie musste viele Lesungen absagen, ungewollt auch ihre anderen Jobs als unabhängige Beraterin für Politik und Unternehmen pausieren. Als Selbstständige ein finanzielles Horrorszenario. «Ich habe mich in dieser Zeit aber entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen. Weiterzumachen.» Und das tut sie. Hat unter anderem einen neuen Buchvertrag unterschrieben, Teil 2 von «Autokorrektur» soll im kommenden Jahr erscheinen. Darin will sie verstärkt den Blick auf europäische Metropolen lenken, in denen ein autofreies Leben Stück für Stück umgesetzt wird.
Paris zum Beispiel, wo Bürgermeisterin Anne Hidalgo den Autoverkehr einschränkt, um mehr Platz für Fuß- und Radverkehr zu schaffen. Oder Barcelona, wo mehrere Häuserblöcke zu sogenannten Superblocks zusammengeschlossen wurden, in denen so gut wie keine Autos fahren. Höchstgeschwindigkeit zehn Stundenkilometer, Kreuzungen und Straßen als neue Begegnungsstätten für Anwohner und Passanten.
Ich bin andauernd wütend, da hat man nicht frei.
Es kann – und muss – auch bei uns anders gehen, da ist sich Diehl sicher. Dafür setzt sie sich täglich ein, diskutiert unermüdlich in den sozialen Netzwerken. Urlaub hat sie seit sieben Jahren nicht gemacht. «Ich habe nie Feierabend», sagt Katja Diehl. «Ich bin andauernd wütend, da hat man nicht frei.» Sie hält Vorträge. Verschickt Newsletter. Macht den Podcast «#SheDrivesMobility», in dem sie sich alle zwei Wochen mit verschiedenen Expertinnen und Experten über Möglichkeiten des Mobilitätwandels unterhält.
Menschenfreundliche Städte sichtbar machen
Auch der Künstler Jan Kamensky war Gast in ihrem Podcast. Diehl und er haben sich so gut verstanden, dass sie sich später zusammengetan und das Büro in Hamburgs Innenstadt bezogen haben. «Lütt’opia» steht dort auf dem Fenster über der Tür. Darunter: «Utopischer Raum für Transformation». Kamensky teilt Diehls Visionen von einer autofreien Stadt. Und er macht sie sichtbar. In kurzen Videos von Orten überall auf der Welt lässt er alles, was mit Autoverkehr zu tun hat, aus dem Bild entschweben. Als gäbe es keine Schwerkraft mehr, heben so zum Beispiel am Münchener Candidplatz erst die Autos, dann Ampeln, Roller, Bauzäune, Straßenschilder und schließlich sogar eine gepflasterte Verkehrsinsel ab. Raus aus dem Bild. Rein dafür Bäume, Gras, ein Lastenrad, Beete mit Gemüse und Blumen, Marktstände – und schließlich entspannt herumlaufende Menschen. Ähnliche Videoszenen spielen sich in Paris und Tokio ab. Oder auch vor dem Hamburger Büro von Diehl und Kamensky.
Die Idee: Impulse geben, das Vorstellungsvermögen der Menschen anregen. Damit es nicht nur um den Verlust von Autos geht, sondern eher um den Lebensraumgewinn für alle. So einfach das klingt, so schwer ist es jedoch. Denn nicht wenige Menschen wollen ihren eigenen Wagen um jeden Preis behalten.
Die Auto-Normalität aberziehen
«Hier, das hat Jan auch gemacht», sagt Diehl und greift nach einem Blatt Papier auf der Fensterbank. Darauf zu sehen: eine Aufnahme der Straße vor der Tür, rechts das Büro von außen in der Hausecke, davor der Bürgersteig, gegenüber die anderen Häuser – und vor allem überraschende Leere, kein einziges Auto. «Das hat er zum Beispiel an Kinder hier verteilt. Sie können in die Straße zeichnen, was sie sich in der Nachbarschaft wünschen», sagt Diehl. Da sei dann aber direkt eine Mutter gekommen und habe gesagt, ihr Junge werde als erstes einige Autos reinmalen, weil die doch hier dazugehörten.
«Man muss Kindern diese Auto-Normalität aberziehen», sagt Diehl. «Kein Wunder, dass sie sonst als Erwachsene noch völlig irrational daran hängen.» Sie selbst ist früher mit den Eltern und ihrem Bruder in einem orangefarbenen VW Käfer zum Campingurlaub an die Ostsee gefahren. Ein Video zeigt Diehl als Kleinkind auf dem mit Lammfell überzogenen Fahrersitz desselben Wagens, sie ruckelt mit beiden Händen am Lenkrad, die Sonnenbrille des Vaters auf der kleinen Nase. Ein Lächeln entlocken ihr die Erinnerungen heute aber nicht. Das Familienauto, sie hat es nie geliebt. «Ich musste auf jeder Fahrt kotzen», sagt Katja Diehl. «Meine Familie hat aber auch nie mehr aus dem Wagen gemacht, als er war, hat ihn nie überstilisiert.» Das Auto, es war und ist für sie einfach ein Fortbewegungsmittel – und sonst gar nichts.