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Jochen Stay – Die Praxis des Widerstands

Ein Porträt von Philipp Jarke

Seit über 30 Jahren kämpft Jochen Stay gegen die Nutzung der Atomkraft. Auch wenn der Ausstieg kommt, sein Weg ist noch nicht zu Ende.

Nur noch acht. Acht Atomkraftwerke müssen noch vom Netz, dann ist Jochen Stay am Ziel. In sechs Jahren soll es so weit sein, doch Stay, der seit dreieinhalb Jahrzehnten für ein atomstromfreies Deutschland kämpft, mag sich nicht zurücklehnen. Er traut der Sache nicht. «Die Auseinandersetzung in Deutschland ist noch lange nicht vorbei», sagt er, denn der Ausstiegsbeschluss sei ja noch nicht die Tat. «Wenn ein Freund mir erzählt, 2022 werde er mit dem Rauchen aufhören, dann beglückwünsche ich ihn doch nicht dazu, dann sage ich: Hoffentlich erlebst du es noch!»

Mobilmachen, Widerstand organisieren

Also arbeitet Jochen Stay unermüdlich weiter und organisiert als Sprecher des von ihm mitbegründeten Vereins «.ausgestrahlt» den bundesweiten Anti-Atom-Protest. Stay, 50 Jahre alt, ist ein großer, breitschultriger Mann, der oft als Berufs-Demonstrant bezeichnet wird, im Gespräch erstaunlich ruhig und gelassen wirkt und auf die Kraft seiner Argumente setzt. Mit «.ausgestrahlt» unterstützt er Atomkraftgegner im ganzen Land dabei, vor Ort selbst aktiv zu werden. Dafür entwickelt er mit seinen Kollegen Kampagnen und Infomaterial, teilt aber vor allem sein Know-how, wie man Menschen mobilisiert und Widerstand organisiert. Stay, dessen Vollbart und lockige Haare ergraut sind, macht weiter, womit er schon als Schüler begonnen hat und was ihn zu dem wohl bekanntesten Vertreter der Anti-Atom-Bewegung in Deutschland gemacht hat.

Aufstehen gegen die Klientelpolitik

Jochen Stay Foto: Marc Eckardt

Jochen Stay stammt aus Mannheim, wo er in einer bürgerlichen Familie aufwuchs, die er selbst als «unspektakulär» bezeichnet: Der Vater leitete eine kleine Geschäftsstelle einer Krankenkasse, die Mutter war Hausfrau und arbeitete später in einer Druckerei. Politisch wurde Jochen Stay kurz nach seinem 15. Geburtstag – dank seiner älteren Schwester. Durch sie kam er zur Evangelischen Jugend, einer Szene, so erinnert sich Stay heute, «die damals extrem politisiert war». Es war die Zeit des Kalten Krieges, der Hausbesetzungen und Jugendkrawalle. Er besuchte politische Seminare, lernte Experten und Aktivisten aus vielen Bereichen kennen.

«Im Herbst 1980 hat es mich voll gepackt», sagt Stay. Seine «Pubertät im Kopf» nennt Stay heute diese Monate, als er einen weiteren Blick auf die Welt bekam und begann, aufzustehen gegen eine Politik, «die vor allem die Interessen der Reichen und Mächtigen bedient».

Stay engagierte sich zunächst gegen die Apartheid in Südafrika und für die Sandinisten in Nicaragua. Mit dem atomaren Wettrüsten wuchs auch die Angst vor dem Atomkrieg. «Wir fragten uns damals: Wie lange gibt es diese Welt überhaupt noch?», erinnert sich Stay. Als die wieder erstarkte Friedensbewegung diese Ängste 1981 auf die Straße trug, hatte er sein Thema gefunden: den Protest gegen die atomare Aufrüstung Westeuropas.

Widerstand als Selbstzweck – nein danke

Nach dem Abitur leistete Stay seinen Zivildienst in einer Behinderteneinrichtung in Mutlangen, wo er nach Dienstschluss mit anderen Aktivisten die Stationierung der Atomraketen mit Demonstrationen, Sitzblockaden und anderen Varianten zivilen Ungehorsams begleitete; Spielarten des Protests, wie sie Stay noch oft anwenden und weiterentwickeln sollte. Es waren die prägendsten Jahre seines Lebens. Heute erinnert er sich: «Es hat mich sehr erschüttert, als ich in Mutlangen am Zaun stand, hinter dem die abschussbereiten Atomwaffen standen. Es gab mir aber auch einen Kick, etwas dagegen zu tun.»

Für Stay, der sein Studium abbrach, war die Praxis immer wichtiger als die Theorie. Diese Praxis war vor allem Widerstand: gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen, später gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Wobei Widerstand, damals wie heute, für Stay nie Selbstzweck war. Ihm ging es dabei immer um die Sicherheit der Bevölkerung. Und die kann es für ihn bis heute mit Atomkraftwerken schlicht nicht geben.

Im Kernland des Protests

Auf einer Demonstration lernte Jochen Stay eine Frau kennen, wegen der er später ins Wendland zog, ins Kernland der Auseinandersetzung um den deutschen Atommüll. Mit anderen gründete er die Initiative «X-tausendmal quer», für die er die Massenproteste gegen die Castortransporte ins Zwischenlager Gorleben maßgeblich mitorganisierte. Stay lebte seine Ideale, eine bürgerliche Karriere war ihm egal.

Von etwas leben musste aber auch er. Anfang der 1990er Jahre war er Redakteur der pazifistischen Zeitschrift «Graswurzelrevolution», später schrieb er als Autor für verschiedene Zeitungen, ehe er 2001 als Referent für Öffentlichkeitsarbeit zu der renommierten Umweltschutzorganisation Robin Wood ging. Man hätte meinen können, nach 20 Jahren Protest wäre Jochen Stay damit angekommen. Doch er blieb nicht lang. «Die Kollegen waren nett, die Organisation toll, das Gehalt gut – aber ich wollte mehr. Vor allem Freiheit.» Er spricht von der Freiheit, nur das zu tun, was er wirklich wollte. Und es funktionierte. Mithilfe der «Bewegungsstiftung» aus Verden überzeugte er private Spender, ihn und seine Arbeit mit einem monatlichen Beitrag zu unterstützen. Das war gewissermaßen Crowdfunding der ersten Stunde.

Portrait von Jochen Stay
Foto: Marc Eckardt

Es kann immer noch jeden Tag ein großer Unfall passieren.

Jochen Stay

An der Spitze der Massenproteste

In dieser Zeit gründete Stay mit anderen Aktivisten «.ausgestrahlt», um auch solche Atomkraftgegner zu erreichen, die sich nicht nachts im November vor Castoren auf die Straße setzen wollten. «Wir hatten das Gefühl, dass sich in der Protestbewegung etwas ändert», erzählt Stay. «Die Leute binden sich weniger an große Organisationen und sind eher projektorientiert.» Um solche Gruppen gezielt anzusprechen, hat sich «.ausgestrahlt» bewusst ein sehr scharfes Profil gegeben. Der Verein klammert die internationale Politik weitgehend aus und widmet seine Kraft vor allem zwei Zielen: dem Abschalten aller deutschen Atomkraftwerke und der sicheren Lagerung des deutschen Atommülls.

Als sich die Bundesregierung 2010 mit den Stromkonzernen auf eine Verlängerung der Reaktorlaufzeiten einigte, brandete der Protest gegen die Atomkraft wieder auf. An dessen Spitze stand «.ausgestrahlt». Der Verein organisierte Massenproteste, unter anderem eine Menschenkette aus 120.000 Teilnehmern zwischen den Atomkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel.

Und dann kam Fukushima. Der Tsunami an Japans Küste riss die Laufzeitverlängerung in Stücke. Schon drei Monate später war der Atomausstieg besiegelt, wobei der Tsunami nur der Auslöser, aber nicht die Ursache des Ausstiegs gewesen sei, wie Stay betont. Der Grund für Merkels Umschwung seien die andauernden Massenproteste gewesen. Proteste, wie es sie in anderen Ländern nicht gab, und in der Konsequenz auch keinen Atomausstieg. Trotz Fukushima.

30. Juni 2016 | Energiewende-Magazin