Hartmut Graßl – bis der Groschen fällt
Ein Porträt von Fritz Vorholz
Als renommierter Klimaforscher kämpft Hartmut Graßl seit Jahrzehnten für die Energiewende – und gegen Dummheit und Ignoranz.
Stromrebellen ruhen nicht. Sie denken nicht einmal daran – selbst dann nicht, wenn sie von Amts wegen längst Pensionäre sind. So wie Hartmut Graßl. Sogar auf die Theaterbühne hat der 76-Jährige sich vor Kurzem noch gestellt, um Klimawissen zu vermitteln. Im Hamburger Schauspielhaus, wo ein Stück namens Weltklimakonferenz aufgeführt wurde, eine Simulation des diplomatischen Ringens um den weltweiten Klimaschutz: Erkenntnistheater.
Das ist ganz nach Graßls Geschmack. Erkenntnisgewinnung und -vermittlung – bis heute hat er sich dieser Mission verschrieben. Nicht ruhelos, aber beharrlich. Wer auf diese Weise Wissenschaft betreibt, sorgt für Überraschungen. Eine davon ist die Vereinbarung zum Klimaschutz, auf die sich Vertreter fast aller Länder im Dezember 2015 geeinigt haben. Dass sie beschlossen haben, den größten Teil der fossilen Brennstoffe im Boden zu lassen – Graßl nennt das eine «Sternstunde für die Menschheit».
Unermüdlich gegen Dummheit und Ignoranz
Es war auch eine Sternstunde für ihn selbst. Am 30. November vergangenen Jahres, die Konferenz in Paris hatte gerade begonnen, läutete bei Graßl das Telefon. Der Anrufer sagte: «Herr Graßl, herzlichen Glückwunsch. Wie haben Sie das geschafft, dass hier 150 Staatenlenker in einem Raum sitzen und über ein großes globales Thema diskutieren?» Graßl weiß noch genau, was er antwortete: «30 Jahre lang nicht nachgeben – bis einfach mal der Groschen fällt.»
Nachgegeben hat Graßl tatsächlich nie. 1987, mehr als ein Vierteljahrhundert vor Paris, verfasste er gemeinsam mit einem Kollegen einen denkwürdigen und weitsichtigen Aufruf der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft. Darin war von dem «begründeten Verdacht» eines von Menschen verursachten Temperaturanstiegs die Rede, eine Botschaft, die damals politisch nicht wirklich willkommen war. Graßl verbreitete sie trotzdem weiter, sorgte mit dafür, dass aus dem Verdacht Gewissheit wurde, an der am Ende auch in der Politik niemand mehr vorbeikam.
Er leitete das Max-Planck-Institut für Meteorologie, holte das Deutsche Klimarechenzentrum mit einem der weltweit leistungsfähigsten Computer nach Hamburg, wurde Direktor des Weltklimaforschungsprogramms – und vielfach ausgezeichnet: unter anderem vom Bundespräsidenten mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ebenso wie 2004 von den Schönauer Energie-Initiativen und der Stadt Schönau mit dem Ehrenpreis des Stromrebellen. Wofür all das? Für seinen unermüdlichen Drang «Dummheit und Ignoranz zu bekämpfen», wie ihm der SPD-Politiker Michael Müller bescheinigte, ein Weggefährte, der gemeinsam mit Graßl in einer vom Bundestag einberufenen Kommission namens «Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre» saß. Der erste Satz des ersten Berichts aus dem Jahr 1988 transportierte eine einfache, aber unerhörte Erkenntnis: «Menschliche Eingriffe in die Natur … gefährden das Leben auf der Erde.»
Große Bögen spannen
Dass er komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge auch für Laien gut verständlich darstellen kann, nicht zuletzt das hat Graßl zu einem Wissenschaftler gemacht, der in der Champions League spielt und immer noch gefragt ist. Immer noch veröffentlicht er in begutachteten Zeitschriften, betreut Doktoranden, steuert das österreichische Klimaforschungsprogramm, berät den europäischen Forschungsrat, hält Vorträge und, und, und. Zuweilen wird er als «Großmeister» der Klimaforschung angesprochen.
Der Deal zwischen Stromerzeugern und –verbrauchern hat die Kosten für eine Kilowattstunde Solarstrom von 54 Cent auf rund 10 Cent gesenkt. Das ist super.
Doch anders als früher spickt er seine Botschaften inzwischen mit einem Schuss Optimismus. Der sagenhafte Siegeszug der erneuerbaren Energien veranlasst ihn dazu: der Umstand, dass die per Windkraft oder Solarstrahlung gewonnenen Kilowattstunden inzwischen ähnlich billig sind wie Strom aus neuen Kohlekraftwerken – und zwar weltweit, dank der deutschen Fördergesetze.
Energiewende – die globale Herausforderung
Dass die hiesigen Stromverbraucher davon nichts spüren, weil sie die hohen Förderkosten der ersten Jahre noch eine Weile lang zu stemmen haben: eine bedauerliche, aber vorübergehende Last. Tatsächlich sei das umstrittene EEG aus dem Jahr 2000 die beste Entwicklungshilfe gewesen, die Deutschland je geleistet hat, weil es Solarstrom billig und damit für alle erschwinglich gemacht habe, sagt Graßl. Selbst in armen Ländern. Inzwischen glaubten deshalb immer mehr, zu Recht, die weltweite Energiewende sei einfacher als vor Kurzem noch allgemein angenommen und befürchtet wurde. Erst diese um sich greifende Erkenntnis, vermutet der Klimaforscher, habe «wahrscheinlich den Durchbruch in Paris möglich gemacht».
Das 1,5-Grad-Ziel der Paris-Vereinbarung ist schon jetzt illusorisch.
Durchbruch ist allerdings ein Begriff, der einer Erklärung bedarf. Anders als manch grün gesinnte Beobachter hält Graßl nämlich die weitreichendste Ambition des Paris-Abkommens für wenig wirklichkeitsnah: den in Artikel 2 der Vereinbarung versprochenen Versuch, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. «Völlig unrealistisch» nennt Graßl das. Um ein Grad Celsius sei die mittlere Erdtemperatur bereits gestiegen und die Treibhausgase, die mit etwas Verzögerung für das nächste halbe Grad sorgen, die seien bereits emittiert. Sollte also aus dem 1,5-Grad-Versuch etwas werden, dürfte entweder kein Gramm Treibhausgas mehr emittiert werden, und zwar «ab morgen» – oder es müsste massiv aufgeforstet und obendrein das bei Verbrennungsprozessen noch entstehende Kohlendioxid in der Erdkruste versenkt werden. Das ist teuer und bei den meisten Menschen unbeliebt.
Es wird also ungemütlich auf der Erde, trotz des «Durchbruchs» von Paris. Ein Plus von zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit, das immerhin vorstellbar wäre – es wäre doppelt so viel wie das Maß, das Graßl 1987 in seinem denkwürdigen Memorandum gerade «noch vertretbar» erschien. Und selbst die zwei Grad sind alles andere als sicher. Schließlich muss die Energiewende sich im Verhalten von Millionen, weltweit Milliarden Menschen niederschlagen.
Genau dafür, sagt Graßl, brauche man Vorreiter, je mehr, desto besser.