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Eine Insel voller Energie

Eine Reportage von Anne Backhaus

Auf der dänischen Insel Samsø wird mehr Energie erzeugt als verbraucht. Den Anstoß gab ein Ehepaar – den nötigen Schub engagierte Gemeinden.

Die Insel liegt auf dem Boden. Als Spanplatte, grün gestrichen, die Umrisse grob herausgesägt. Runder Bauch, an der Seite eine lang gezogene Bucht, die aussieht, als hätte jemand ein Stück abgebissen. Ganz oben das Naturschutzgebiet, das wie eine Flosse auf dem Eiland thront.

«Es ist immer gut zu wissen, wo man sich genau befindet. Wir sind hier», sagt Søren Hermansen und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf den unteren Teil, die Ostseite der Insel. «Wo würdet ihr nun also die Windräder hinstellen?» Hermansen ist Direktor der «Energiakademiet», einer Organisation in dem kleinen Hafenort Ballen, die unter anderem Wissen über Erneuerbare Energie und die Umstellung darauf teilt. Genau das tut Søren Hermansen, 63, mit kurzem grauem Haar, braun gebrannt und bis auf sein Jeanshemd ganz in Schwarz gekleidet, auch heute. Er steht neben der Spanplatte, in der Mitte eines großen Stuhlkreises. Dutzende Augenpaare sind auf ihn gerichtet, einige der Gäste aus Polen schauen verstohlen in die Runde, andere zögern merklich, ob sie wirklich aufstehen und die weißen Papp-Windräder auf der Holzinsel platzieren sollen. Hermansen dreht sich immer wieder um die eigene Achse, sagt auffordernd: «Los, traut euch, wir haben damals auch so angefangen!»

Eine Gruppe sitzt im Halbkreis und blickt auf das Modell einer Insel, auf der lose Windmühlen platziert sind.
Mehr als 4.000 Gäste aus aller Welt kommen jedes Jahr zu Hermansens Workshops, in denen er unter anderem erläutert, wie ideale Standorte für Windräder gefunden werden können. Foto: Maria Feck

Ein ganzer Katalog voller Ideen

Damals, das war 1997. Das dänische Energieministerium hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben: Eine überschaubare, klar abgegrenzte Region, also am besten eine Insel, sollte innerhalb von zehn Jahren klimaneutral werden. Ohne Hilfe der Regierung und mit erprobter Technik, denn die Ergebnisse ließen sich somit leicht auf andere Regionen übertragen. Samsø bewarb sich mit einem ganzen Katalog voller Ideen, von dem ein mittlerweile leicht abgegriffenes Exemplar auf Hermansens Schreibtisch liegt, und wurde zur «Insel der Erneuerbaren Energie». Nicht alle, aber viele dieser Ideen wurden verwirklicht – und das so erfolgreich, dass das Ziel bereits nach acht Jahren erreicht war: Klimaneutralität. Die Insel, inzwischen mehrfach ausgezeichnet, zählt zu den ersten Regionen weltweit, die ihre Stromproduktion zu 100 Prozent von Treibhausgasen befreien konnte. Mittlerweile produzieren die Samsinger, so nennen sich die Menschen auf der Ostseeinsel, sogar mehr Energie, als sie verbrauchen. 

Sie schafften das, indem sie zum Beispiel Photovoltaikanlagen auf ihren Dächern angebracht haben und so schließlich zu der Gemeinde in Dänemark mit den meisten PV-Modulen pro Einwohner wurden. Wer durch die Dörfer der Insel fährt, entdeckt auf vielen der alten Bauernhäuser solche Anlagen. Im Norden gibt es zudem ein Solarwärmekraftwerk mit insgesamt 2.500 Quadratmetern Kollektorfläche. Die dort gewonnene Energie wird durch die Verbrennung von Holzhackschnitzeln ergänzt – ausschließlich Reste aus land- und forstwirtschaftlicher Nutzung. Die Stadtverwaltung versorgt mit einer großen PV-Anlage über ihrem Parkplatz das eigene Gebäude sowie die Ladestationen für ihre Elektroautos. 

Weiße Elektroautos vom gleichen Modell parken unter einem Schrägdach, auf dem PV-Module installiert sind.
Das dänische Energieministerium schrieb 1977 einen Wettbewerb aus: Eine Insel sollte innerhalb von zehn Jahren klimaneutral werden. Samsø gewann und hat unter anderem den Fuhrpark der Stadtverwaltung auf Elektroautos mit eigener PV-Ladestation umgestellt. Foto: Archiv Samsø

Bei unserer Energieversorgung setzen wir auf viele unterschiedliche Projekte.

Søren Hermansen, Direktor der «Energieakademie» auf Samsø

Viele Privathäuser und öffentliche Gebäude sind außerdem an Nahwärmenetze angeschlossen, die im Rahmen des Energieprojekts angelegt wurden. Wärme und Warmwasser für die Haushalte stammen von drei Heizwerken, in denen Stroh verbrannt wird. Stroh hat gleich mehrere Vorteile: Es ist günstig, wächst schnell und ohne große Pflege nach. Bei der Verbrennung wird zudem nur so viel Kohlendioxid frei, wie die Feldfrüchte der Luft beim Wachsen entnommen haben. Die Heizwerke – von außen schlichte, größere Scheunen mit schlankem Schornstein, innen dicht gefüllt mit riesigen Strohballen – können die Wärme allerdings nur in ihre direkte Umgebung liefern. Weiter entfernt lebende Anwohner installierten daher eigene nachhaltige Heizquellen wie Erdwärmepumpen.

Und natürlich stellten die Samsinger Windräder auf: nicht solche aus Pappe, sondern insgesamt 21 Windkraftanlagen – elf davon auf drei Standorte im Süden der Insel verteilt, zehn weitere in einem Offshore-Windpark südlich der Küste. Mit denen aus Pappe aber versucht heute Søren Hermansen der Regierungsdelegation aus 16 Bezirken Polens nahezubringen, wie die Energiewende auch in ihrem Land Fahrt aufnehmen könnte.

Ein Leuchtturmprojekt der Energiewende

Ein Mann mit kurzem grauem Haar, Brille und ausgewaschenem Jeanshemd sitzt lächelnd im Freien.
Søren Hermansen, Direktor der «Energieakademie» Foto: Maria Feck

Samsø ist mittlerweile ein weltweit bekanntes Positivbeispiel. Jährlich besuchen gut 4.000 Interessierte aus aller Welt die «Energieakademie». Hier erhalten sie wertvolle Informationen, diskutieren darüber und fahren dann über die Insel, um beispielsweise die Biomasseheizwerke zu besichtigen. Hermansen – vom US-amerikanischen Time Magazine vor einigen Jahren als «Held der Umwelt» bezeichnet – hat die Geschichte seiner «Energie-Insel» schon oft erzählt. Nicht nur an der Akademie, sondern auch vor Politikern in Kopenhagen und Brüssel, als Redner bei Konferenzen oder als Kooperationspartner von Gemeinden weltweit. 

Hermansen ist anzumerken, wie versiert er im Umgang mit Gästen ist. Bereits bei der Begrüßung bringt er die Gruppe mehrfach zum Lachen. Bei der Vorstellungsrunde sollen die Teilnehmer ihren Namen, nicht aber ihren Beruf nennen – sondern lieber, mit welchem Hund sie sich identifizieren. Die Frau mit der blonden Dauerwelle fühlt sich als Dackel, ihr schmaler Sitznachbar als Bulldogge. Hermansen selbst steht wie ein Hütehund da, verliert nie die Gruppe aus dem Blick. Und die fühlt sich im Anschluss bei der Platzierung der Papp-Windräder sichtlich wohl, obwohl niemand die richtige Position errät. Søren Hermansen erklärt ausführlich, warum sie natürlich nicht im Naturschutzgebiet im Norden stehen, auch nicht bei den schönen Ferienhäusern an der Küste. Sondern dort, wo der Wind am stärksten weht und gleichzeitig der größtmögliche Abstand zu Wohnhäusern gewahrt bleibt. Und dass ihre Standorte auch im Hinblick darauf festgelegt wurden, dass die Anlagen den Blick über die weiten Felder, die schöne Landschaft am wenigsten stören.

Mit Zähigkeit und Diplomatie zum Ziel

Was er nicht erzählt: dass er nahezu zwei Jahre über mögliche Standorte verhandelt, das Vorhaben mühsam in langen Gesprächen, mit vielen Beteiligten umgesetzt hat. Und wie aufreibend allein dieser Prozess war, den er vor der Besuchergruppe nonchalant mit «wir haben wie Diplomaten gearbeitet» abkürzt. Denn das, was Samsø so besonders mache, sei vor allem die Gemeinschaft der Insulaner, die Beteiligung aller. Hier sei nichts von oben angeordnet, sondern alles gemeinsam entschieden und umgesetzt worden. «Sehr demokratisch.» Das stimmt – und ist zugleich stark verkürzt.

Denn die Samsinger stimmen zwar tatsächlich alle Veränderungen gemeinsam ab und setzen sie gemeinschaftlich um. Es gibt unzählige kleine Gruppen, die in den Dörfern zusammenkommen, sich zu neuen Energiequellen beratschlagen oder Nachbarn bei der Installation von PV-Modulen helfen. Doch ohne das große Engagement von Søren Hermansen und seiner Frau Malene Annikki Lundén wäre es vermutlich nie so weit gekommen. Wer auf der Insel Fragen hat, hört oft als Antwort: «Das müsste Søren wissen» oder «Dazu kann Malene bestimmt mehr sagen». 

Landschaftsaufnahme: Zwischen Feldern und kleinen Wäldchen stehen drei Windkraftanlagen.
Auf der Insel sind insgesamt elf Windräder auf drei Standorte verteilt – die kleinen Grüppchen würden den Blick auf die Landschaft nicht verstellen. Foto: Maria Feck
Vor der Küste stehen zehn Windkraftanlagen auf kleinen Pfeilern im Meer – das Wasser wirkt grau und aufgewühlt.
Zehn weitere Windräder wurden in einem Offshore-Windpark südlich der Küste platziert. Foto: Maria Feck

Knapp 4.000 Einwohner leben in den 23 Dörfern auf der 112 Quadratkilometer großen Insel. Sie zu überzeugen war essenziell, um das große Ziel Klimaneutralität zu erreichen. Doch viele schüttelten anfangs mit dem Kopf, als Hermansen von dem Ideenkatalog sprach, von der Klimakrise, der Energiewende und der Wichtigkeit, etwas zu verändern. Sie horchten erst auf, als er seine Strategie änderte und ein Argument hervorhob, mit dem er schließlich alle an Bord holen konnte: Gewinn. «Windräder sind nicht so laut und sehen viel schöner aus, wenn die Menschen Miteigentümer sind», sagt Hermansen zur polnischen Besuchergruppe. «Wenn sie also Geld verdienen, sobald der Wind weht.» So könne man manche langwierige Diskussion, auch in Polen oder in Deutschland, vermeiden. Viele in der Gruppe schauen nun interessierter, nicken zustimmend. 

Aus Mitmachern werden Profiteure

Zum Konzept der Energie-Insel gehört, dass die Samsinger nicht nur aktiv an der Umstellung auf Erneuerbare Energien mitwirken, sondern vor allem davon profitieren sollen. Die Einwohner konnten zu Beginn des Projekts ihren Möglichkeiten entsprechend investieren. Sie erwarben vorab Anteile an den Anlagen, waren so direkt an späteren Gewinnen beteiligt. Es wurden Unternehmen gegründet, Genossenschaften und Beteiligungsgesellschaften – und dann wurde gebaut: die Heizwerke, die Photovoltaikanlagen, die Erdwärmepumpen, das solarthermische Kraftwerk – und die Windräder. 

Was helfen mir grüne Gedanken, wenn kein Geld reinkommt?

Jørgen Tranberg, Landwirt in Ballen auf Samsø
Ein Mann mit rundem Gesicht, blondem Haar und kräftigen Händen steht mit verschränkten Armen im Freien und lacht.
Landwirt Jørgen Tranberg Foto: Maria Feck

Wie sehr man hier ganz konkret profitieren kann, weiß vor allem Jørgen Tranberg. Wenige Kilometer vom Stuhlkreis entfernt steht der Landwirt mit windzerzaustem Haar, in dreckiger Jeans und Arbeitsjacke, neben seinen letzten Milchkühen. Früher hatte er Hunderte Kühe, doch die braucht er nun nicht mehr. Der 68-Jährige verkauft jährlich 300 Tonnen Stroh an das Heizkraftwerk, hat als einer der Ersten in die Windkraftanlagen investiert, später auch in Solaranlagen – über die Jahre mehrere Millionen Euro. «Um das Klima ging es mir nie», sagt Tranberg. «Was helfen mir grüne Gedanken, wenn kein Geld reinkommt?» Der Bauer, ein gewiefter Geschäftsmann, hat seine Investitionen schon nach wenigen Jahren wieder amortisiert. Heute verdient er an einem guten Tag mehrere Tausend Euro mit der grünen Energie. 

Das liegt auch daran, dass auf Samsø inzwischen insgesamt mehr Strom erzeugt als verbraucht wird. Der überschüssige Strom wird zum Festland geleitet und an das nationale Versorgungsunternehmen «NRGi» verkauft. Neben Tranberg profitierten davon auch Hunderte weitere Einwohner, die ebenfalls Anteile an den Windparks besitzen. Ein Großteil hat seine Anteile allerdings vor Kurzem an ein Energieunternehmen verkauft. Eine Entscheidung, die auf den ersten Blick überrascht, jedoch von den Beteiligten wie immer gemeinschaftlich getroffen wurde. Sie diskutierten darüber bei mehreren Treffen, teilten ihre Sorgen und Hoffnungen. 

Laut Hermansen stimmten am Ende gut 95 Prozent für den Verkauf. Der Hauptgrund: Die Anlagen sind inzwischen in die Jahre gekommen – es wird immer schwerer, sie instand zu halten. Muss zum Beispiel ein Teil am Rotor ersetzt werden, kann es sein, dass es gar nicht mehr hergestellt wird. Ersatzteile müssen aufwendig beschafft oder nachgebaut werden, das schmälert den Gewinn. Für ein großes Energieunternehmen gut verkraftbar, für die Samsinger hingegen nicht. So endete die Ära des gemeinschaftlichen Windkraftbesitzes auf der Insel – doch andere Projekte gewinnen gerade stark an Bedeutung.

Fossilfreie Energie zahlt sich aus – mehr denn je

Denn die Heizkraftwerke gehören weiterhin den Einwohnern und sind gerade aktuell finanziell vorteilhaft: Während die Energiepreise in Europa wegen des Krieges in der Ukraine explodieren, bleiben sie auf Samsø stabil. «Ich habe schon vor Jahren gesagt: Wenn wir diese Anlagen installieren, müssen meine Enkelkinder nicht von Putin kaufen», erklärt Tranberg. In seinem Rücken drehen sich wie zur Bestätigung gleichmäßig drei Windräder, das vorderste gehört ihm noch immer. 

In einer kleinen Halle liegen zwei Haufen aus geschreddertem Holz – darüber hängt ein oranger Hydraulikgreifer.
Das Wärmekraftwerk im Norden der Insel wird mit Holzabfällen aus der Land- und Forstwirtschaft betrieben. Foto: Maria Feck
Auf einer Wiese stehen angewinkelte Solar-Kollektoren, dazwischen grasen Schafe mit Hörnern und zotteliger Wolle.
Die Verbrennung der Holzhackschnitzel ergänzt die Energie, die mit der Solar-Kollektorfläche vor dem Werk gewonnen wird. Foto: Maria Feck
 Ein weites Weizenfeld in zarten Grüntönen hebt sich kontrastreich vom grauen Himmel ab.
Wärme und Warmwasser werden zudem in drei Heizwerken gewonnen, in denen Stroh verbrannt wird. Für die Landwirte ist das ein Vorteil, denn sie können nicht nur ihren Weizen, sondern zusätzlich das Abfallprodukt Stroh verkaufen. Foto: Maria Feck
In einer Scheune sind große Strohballen bis knapp unter die Decke gestapelt – durch Dachfenster dringt Tageslicht.
Die Heizwerke – von außen schlichte, größere Scheunen mit schlankem Schornstein, innen dicht gefüllt mit riesigen Strohballen – können die Wärme allerdings nur in ihre direkte Umgebung liefern. Foto: Maria Feck

Søren Hermansen besichtigt es an diesem Tag mit seiner Besuchergruppe. Am Fuß der Anlage erzählt er, dass sich die Insulaner mittlerweile so sehr an den Anblick der Windräder gewöhnt hätten, dass ein Abriss für sie nicht infrage komme. Sie seien nun ein fester Teil der Insel. Am Rand der Gruppe blickt eine Frau hoch zu den rotierenden Flügeln. «Søren formuliert alles so, dass man sofort selbst loslegen will», meint sie. «Es wird nicht leicht werden, aber ich möchte in einigen unserer Provinzen ebenfalls Windräder aufstellen!»

Am liebsten würde ich mich auf die Arbeit mit Gemeinden konzentrieren – hier oder anderswo.

Søren Hermansen, Direktor der «Energieakademie» auf Samsø

Einige Stunden später, die Gruppe ist inzwischen abgereist, sitzt Søren Hermansen erschöpft an seinem Schreibtisch in der Energieakademie. Sein «Edutainment», wie er es nennt, ein Kunstwort aus den Begriffen «education» und «entertainment», kostet Kraft. «Ich bin ein guter Unterhalter, kann Menschen zum Lachen bringen und ihnen etwas vermitteln. Manchmal ermüdet mich das aber auch. Ich würde lieber nur noch tun, was mir wirklich wichtig ist», sagt er. Also tatsächlich etwas umsetzen und erreichen. Nicht wegen des Gewinns, sondern wegen der Umwelt. Hermansen ist Idealist – und zugleich Realist. Er weiß, dass die Wissensvermittlung wichtig ist, Teil seines Jobs und Stütze für die Akademie, die sich und ihre acht Vollzeitkräfte hauptsächlich über Projektgelder finanziert. Sein «Edutainment» ist letztlich ein Mittel, um mit anderen Menschen arbeiten und neue Projekte anstoßen zu können, die Samsø und weitere Regionen bereichern.

Die Energieerfolge der Insel locken nicht nur Besuchergruppen an, sondern auch solche, die bleiben wollen: neue Einwohner. Das Engagement für die Energie-Insel beruhte ursprünglich auch auf einer Angst der Insulaner, die auch viele Dorfgemeinden in Deutschland kennen: der Angst, auszusterben, weil die Jungen wegziehen. Zu Beginn des Projekts gab es kaum noch Jobs und wenig Einkommen – außer in der Sommersaison, in der nach wie vor viele Touristen Samsø besuchen. Mehr und mehr junge Menschen wollten die Insel verlassen. Es zog sie aufs Festland oder in die gut 140 Kilometer entfernte Hauptstadt Kopenhagen. Nun ziehen aber viele auf die Insel, ein Glück. 

Ein Bullerbü mit vielen Baustellen

Eine 15-minütige Autofahrt von Hermansens Schreibtisch entfernt öffnet Philipp Cerny die Tür zu einem alten Bauernhaus. Der 41-jährige Deutsche führt durch die Küche in den großzügigen Garten, wo Camilla Mikkelsen, 46, gerade einige Minzblätter pflückt, für das Wasser in der Glaskaraffe auf dem Terrassentisch. Das Paar lebt gemeinsam mit ihrem sechsjährigen Sohn in der 50-Seelen-Gemeinde Toftebjerg. «Der Ort wurde früher als Mistdorf bezeichnet, weil es manchmal von den Feldern her etwas müffelt», sagt Cerny lachend. «Jetzt wird es aber gerne Bullerbü genannt, weil so viele junge Familien hierhergezogen sind.»

Cerny wohnt seit 2019 mit seiner Familie auf Samsø, im Juli 2021 zogen sie in ihr eigenes Haus. Das Paar lebte zuvor in Brüssel. Mikkelsen, gebürtige Dänin und ausgebildet als Biolandwirtin, arbeitete für eine weltweite Vertretung der Öko-Bauern im Europäischen Parlament. Cerny war dort Verkehrsexperte, ist nun Freelancer und seit März im Vorstand der Energieakademie. Sie wollten raus aus der Stadt, ihren Sohn in einem Garten aufwachsen sehen. So entschieden sie sich für Samsø, weil es eine schöne und friedliche Insel ist, auf der niemand seine Türen abschließt. Und eine, auf der sie ein hoch entwickeltes grünes Bewusstsein erwarteten.

 

Eine junge Frau und ein junger Mann sitzen auf einer Türschwelle, die zu einem weiß verputzten Fachwerkhaus gehört.
Camilla Mikkelsen und Philipp Cerny leben seit drei Jahren auf Samsø. So wie viele andere zugezogene Familien auch legen sie Wert auf eine Dorfgemeinschaft mit grünem Bewusstsein. Foto: Maria Feck

Es kann noch viel mehr getan werden.

Philipp Cerny, Vorstand der «Energieakademie» auf Samsø

«Da sind wir wie viele andere aber etwas enttäuscht worden», sagt Camilla Mikkelsen. «Im Alltag spürt und sieht man wenig vom nach außen getragenem Image der Energie-Insel. Es war zum Beispiel ein kleiner Kulturschock, dass es hier keine Mülltrennung gab.» Erst seit wenigen Wochen stehen vor den Häusern der Samsinger die neuen schwarzen Tonnen mit den verschiedenfarbigen Deckeln. Philipp Cerny bemängelt, dass noch immer die alten Dieselfähren die Insel mit dem Festland verbinden, trotz einiger Versuche, das zu ändern, und dass die Traktoren und der Bus nicht mit Solarstrom betrieben werden. «Es kann noch viel mehr getan werden», erklärt er. Und er möchte daran mitwirken.

Auch deswegen berief ihn Søren Hermansen in das Team der Energieakademie. Kritik, Ideen und Engagement sind gerade für den Verkehrssektor willkommen. Denn Samsøs aktuelles Ziel ist es, bis 2030 überhaupt keine fossilen Brennstoffe mehr zu benötigen. 

Ideen über Personen hinauswachsen lassen

Es braucht aber auch ohne dieses Ziel weitere Menschen wie Philipp Cerny, die etwas verändern wollen. Die sich trauen, in Hermansens große Fußstapfen zu treten, wenn er seinen Job in einigen Jahren nicht mehr selbst machen kann. Denn mehr noch als von der viel beschworenen Gemeinschaft scheinen die Energieerrungenschaften der Insel von der Person Søren Hermansen abzuhängen. Er wuchs auf einer Farm auf Samsø auf, besuchte mit 15 eine Schule auf dem Festland. Anschließend arbeitete er auf Fischerbooten in Norwegen, bewirtschaftete in Neuseeland Felder und studierte Umweltwissenschaften. Dann zog er zurück auf die Insel und übernahm zeitweise die Farm seines Vaters. 1984 lernte Hermansen seine Frau Malene Lundén kennen, eine Fotografin aus Kopenhagen, die sich auch mit Gruppendynamik und Führung auskannte. Die sich in ihn verliebte, «weil er Sätze sagte, in denen immer ein ‹wir› vorkam. Wie zum Beispiel: Deswegen können wir das gemeinsam schaffen», sagt Lundén. 

Das Ehepaar wurde zur treibenden Kraft des Projekts. Lundén agiert lieber im Hintergrund, schrieb erst ein Buch über das Vorhaben. Sie war es auch, die die Idee hatte, Gäste immer in einem Stuhlkreis zu empfangen. «Weil sie sich so zu den anderen öffnen und wie wir zu einer Gemeinschaft werden können.» Bei den unzähligen Gemeindetreffen darf nur sprechen, wer einen «Redestock» in der Hand hält. So fallen sich die Insulaner nicht ins Wort. Alle bekommen die gleiche Aufmerksamkeit. 

Eine Frau in weißer Kleidung und mit schulterlangem Haar steht an der Küste, zu ihren Füßen sitzen zwei Windhunde.
«Wir sind wie Tanzpartner, die abwechselnd die Führung übernehmen», sagt Malene Lundén über die Zusammenarbeit mit ihrem Mann Søren Hermansen. Sie ist Künstlerin und zog aus Kopenhagen hierher. Foto: Maria Feck
Der Mann mit Brille und grauem Haar blickt gedankenversunken in die Ferne – hinter ihm steht ein modernes Holzhaus.
Hermansen wuchs auf einer Farm in der dörflichen Inselgemeinschaft auf. Mit ihren unterschiedlichen Hintergründen und Sichtweisen ergänzen sich die beiden und entwickeln so die Vision von Samsø als Energie-Insel stetig weiter. Foto: Maria Feck

Das Paar hat viel persönliche Energie investiert, verstand es, sowohl mit den Landwirten und Dorfbewohnern als auch mit den Politikern zu sprechen. Immer wieder verschiedensten Menschen zu zeigen, wie sie von der Energiewende profitieren können. Der Job ist ihr Leben. «Ich habe schon als Kind auf dem Hof mitgeholfen. Für mich ist es normal, dass auch abends und sonntags gearbeitet wird. Dass man alles tut, um den Betrieb am Laufen zu halten», sagt Hermansen. «Das ist unser Lifestyle», ergänzt Lundén. «Søren saß bei den ganzen Auslands­terminen oft allein in einem Hotelzimmer, anstatt unsere Kinder aufwachsen zu sehen. Es war aber unsere freie Entscheidung – wir sind wie Tanzpartner, die abwechselnd die Führung übernehmen.»

So sind Malene Lundén und Søren Hermansen vielleicht das eigentliche Positivbeispiel. Denn für die Energiewende gibt es kein Patentrezept – nicht überall ist eine Idee wie ein Biomasseheizwerk oder eine Windkraftanlage auch die passende. Doch Menschen, die mitdenken, die vor Ort praktikable und profitable Wege zur Nachhaltigkeit finden und andere von ihnen überzeugen können – die kann tatsächlich die ganze Welt gebrauchen. Hermansen hält das natürlich für übertrieben. «Du kannst in einer Fußballmannschaft sehr gut einen fähigen Stürmer einsetzen, der dir die Tore schießt», sagt er. «Aber ohne zehn weitere Leute in der Mannschaft ist erst gar kein Spiel möglich.» Dann muss er los. Schnell zu Hause den Rasen mähen, bevor das Zoom-Meeting mit Vertretern einer Gemeinde in Kanada startet.

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10. November 2022 | Energiewende-Magazin