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«Die Zeit der Pilze wird kommen»

Ein Bericht von Anne Backhaus

Komplett recycelbare Baustoffe sind für den Architekten Dirk E. Hebel mehr als eine Vision. Er entwickelt solche Materialien – aus dem Wurzelwerk von Pilzen.

Dirk Hebel hat einen Traum: irgendwann durch einen beliebigen Baumarkt in Deutschland zu laufen und dort den Früchten seiner Arbeit zu begegnen. «Ich möchte gerne noch erleben, dass es bestimmte Materialien und ein bestimmtes Denken in die Mitte der Gesellschaft geschafft haben», sagt er. Der Baumarkt ist für den 50-Jährigen ein guter Gradmesser für ebendiese Mitte. Das, was im Baumarkt angeboten wird, ist von den meisten Menschen akzeptiert. Das, was Hebel erforscht, noch nicht. 

Der Professor für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) arbeitet an der Stadt der Zukunft. Seine Vision ist ein Paradigmenwechsel im Gebäudebau: Wohnungen, Mehrfamilienhäuser und Bürogebäude, die so konstruiert sind, dass sie ohne Weiteres wieder auseinandergenommen und ihr Baumaterial für neue Projekte verwertet werden kann. Oder einfach kompostiert. Kurz: die Baubranche als Kreislaufwirtschaft.

Pionierarbeit in Karlsruhe

Bei dieser Zukunftsvision spielen Pilze eine besondere Rolle. Genauer ihr Wurzelwerk, das sogenannte Myzel. Dirk Hebel produziert daraus unter anderem biologisch abbaubare Dämmungen, Spanplatten und Bausteine. Einige dieser Steine liegen auf dem großen, weißen Besprechungstisch in seinem lichtdurchfluteten Büro am KIT. Es ist früh am Morgen. Hebel hat gerade noch mit einem Studenten einen Bauentwurf besprochen, auf versteckte Kosten hingewiesen, Tipps gegeben. Später muss er zu einigen Sitzungen. Am Abend wird er als Dekan der Fakultät für Architektur an der Verabschiedung eines Kollegen teilnehmen. Ihm ist anzumerken, dass die Zeit knapp ist. Als er sich zu den Pilzblöcken setzt, ist er jedoch ganz bei der Sache. Hält die Mustersteine hoch, erklärt ruhig die Unterschiede, spricht begeistert von ihrer Beschaffenheit und den ganz besonderen Eigenschaften.

In. einem hellen, sehr großzügigen Büroraum sitzt ein Mann an einem weißen Schreibtisch, im Hintergrund hängt ein großer bronzener Käfer an der Wand.
Dirk Hebel in seinem Karlsruher Büro Foto: Nora Klein

Nur auf den ersten Blick befremdlich

Die meisten der Blöcke haben die Abmessungen eines typischen Ziegelsteins. Das hat einen einfachen Grund: Einen Ziegelstein haben viele Menschen schon gesehen oder in den Händen gehalten. So lässt sich der «Pilz-Stein» gut vergleichen. «Diese hier sind völlig unbehandelt, damit man den Pilz sieht», sagt Hebel. «Wenn wir ein Haus daraus bauen, ist das Material natürlich nicht zu sehen. Man hat ja auch selten unverputzte Betonsteine als Wohnzimmerwand.» Außerdem muss die Oberfläche versiegelt werden, damit das organische Material, ähnlich wie Holz, vor Nässe geschützt ist. Hebel sagt das aber auch, weil die Pilz-Steine auf den ersten Blick etwas befremdlich wirken können: wegen ihrer Farbe – sie sind weiß-gelb und werden aufgrund ihrer fluffigen Oberfläche gerne mit Camembert verglichen – und wegen ihres leicht muffigen Geruchs. Obwohl unbehandeltes Holz auch nicht unbedingt immer angenehm duftet, ist die Skepsis bei Pilzen gemeinhin größer. Kein Wunder, denn für Bauherren ist «Pilz» zunächst ein Reizwort, zudem ekeln sich manche Menschen vor Pilzen. Doch Hebel kann da beruhigen: Das Material in den Bausteinen ist tot, kann nicht weiterwachsen und somit natürlich auch keinen Schaden anrichten.

Ein Baustoff, so leicht wie Reiswaffeln

Gleich darauf fällt ihr Gewicht auf. Die Pilz-Ziegel lassen sich leicht anheben. Manche erinnern an eine Reiswaffel, andere wiegen mehr, sind etwas kompakter. Das hängt davon ab, um welches Grundmaterial sich die Pilzwurzeln entwickelt haben. Denn nur rund ein Zehntel der Steine besteht aus Pilz, der Rest ist organisches Material. Die Herstellung ist letztlich einfach: Im Labor füllen Dirk Hebel und sein Team Holzspäne, Hanf, Reishülsen, Bambus oder einen anderen pflanzlichen Grundstoff zusammen mit einem Zuschlagstoff wie Kleie in handliche Plastiktüten. Dazu kommt dann ein sogenannter weiß verfaulender Pilz. Wie der Reishi, auch Glänzender Lackporling (Ganoderma lucidum) genannt, oder die Schmetterlings-Tramete (Trametes versicolor), die in der Natur beispielsweise an abgestorbenen Baumstümpfen zu finden sind. Sie lassen sich aber auch im Labor gut züchten. Dort wachsen sie in einer Petrischale heran, werden dann in kleine Stücke geschnitten und unter die leicht angefeuchtete Grundmischung gehoben. Die durchsichtigen Tüten verschließt man schließlich, bis auf eine schmale, mit Watte geschützte Luftzufuhr. In wenigen Tagen ist von außen bereits erkennbar, wie sich das Myzel in weißen Fäden ausbreitet.

Auf einer weißen Fläche sind die Zutaten für die Herstellung von Myzelsteinen arrangiert.
Die Zutaten für den Baustoff aus Pilzmyzel: Hanf wird mit Weizenkleie, Wasser und einem Pilz aus der Petrischale vermengt. Foto: Nora Klein
Ein durchsichtiger Beutel ist halb gefüllt mit einer amorphen Masse , die aussieht wie nasses Gras.
Abgefüllt in einem Beutel mit geschützter Luftzufuhr lagert das Gemisch in einem «Growth Room». Foto: Nora Klein
Der durchsichtige Beutel ist inzwischen ganz gefüllt mit einer weißen amorphen Masse.
Der Pilz gedeiht in dem Rohstoff – sein weißes Wurzelwerk ist bereits von außen gut zu erkennen. Foto: Nora Klein
Ein ziegelsteingroßer Plexiglasbehälter, voll ausgefüllt von dem weißen Pilzmyzel.
Umgefüllt in eine Plexiglasform mit Luftlöchern, wächst das Myzel schließlich zur Ziegelsteinform heran. Foto: Nora Klein
Ein weißer Myzelstein mit unregelmäßiger Oberfläche, der die Maße eines Ziegelsteins hat.
Der fertige Baustein aus Pilzmyzel. Foto: Nora Klein

Das Myzel als biologischer Kleber

«Der Pilz fängt schnell an, sich da durchzuwurschteln. Er ernährt sich von den Zuckerstoffen in dem organischen Grundmaterial», sagt Dirk Hebel. «Das Tolle an Pilzen ist: Sobald sich ihre Hyphen treffen, das sind die fadenförmigen Wurzeln des Myzels, weichen sie sich nicht aus. Sie wachsen durcheinander durch – als ob man beim Weben eines Teppichs an jeder Fadenkreuzung zusätzlich einen festen Knoten macht.» Hebel verschränkt die Finger seiner beiden Hände miteinander, als wären sie verwachsen. Diese Eigenschaft der Pilze ist ein wichtiger Bestandteil seiner Forschung. «Ich verstehe den Pilz als biologischen Kleber», erklärt Hebel. «Er verbindet andere organische Materialien miteinander. Und zwar so stark, dass am Ende eine feste Platte oder auch ein extrem belastbarer Stein entsteht.»

Einer der Bausteine auf dem Tisch vor Dirk Hebel hat eine leichte, kaum sichtbare Delle in der Oberfläche. Vor Kurzem hat ein Fernsehreporter von einer Leiter aus eine Bowlingkugel darauf geworfen. Das war ein Belastungstest. Ein Ziegel- und ein Betonstein sind dabei nahezu vollständig zu Bruch gegangen. Dem Pilz-Block hat die Kugel wenig ausgemacht. Dirk Hebel steht in dem TV-Beitrag strahlend daneben. Es ist ein Beweis dafür, wie zukunftsträchtig sein noch so junger Baustoff ist.

Impulse aus den USA – und Lehren aus Ostafrika

Im Jahr 2014 hat Hebel erste Versuche mit Pilzen gemacht, unter anderem inspiriert von dem US-amerikanischen Künstler Philip Ross, der aus Myzel Stühle und Tische baute und ihm Tipps für den Fabrikationsprozess gab. Ross gründete einige Jahre später seine Firma «MycoWorks», die heute zum Beispiel veganes Pilz-Leder für hochwertige Luxushandtaschen produziert. Hebel, ganz Professor, hatte hingegen nie Interesse daran, mit dem Baustoff Pilz das große Geld zu machen. Für ihn ist die Erforschung des Myzels von entscheidendem Wert – und so etablierte er 2017 sein Labor in Karlsruhe. «Der Startpunkt von all dem war aber Äthiopien», sagt er. In der Hauptstadt Addis Abeba wirkte Dirk Hebel ab 2009 als wissenschaftlicher Gründungsdirektor des «Ethiopian Institute of Architecture, Building Construction and City Development». «Dort in Ostafrika habe ich gelernt: Es gibt keinen Abfall», sagt er. «Das Wieder- und Weiterverwerten von Materialien ist in Äthiopien gesellschaftlich komplett etabliert. Da klingelten oft auch Menschen bei uns und fragten, ob ich etwas aus Metall oder aus Plastik habe, das sie verwenden könnten.»

Traditionelle Baumaterialien – in die Zukunft gedacht

Ein freundlich blickender Mann schaut direkt in die Kamera.
Foto: Nora Klein

Eines seiner Aufgabenfelder war es, neue Gebäude für die «Addis Ababa University» zu errichten. «Das hat mich auf den Boden der Tatsachen gebracht», sagt Hebel. «Die meisten Vorhaben sind daran gescheitert, dass wir kein Material bekommen haben. Die nächste Zementlieferung? In einem halben Jahr. Meine ganze Ausbildung, alles, was ich bislang gelernt hatte, konnte ich da vergessen.» Also hat er sich nach lokalen Materialien umgesehen. Und gefragt: Wie bauen die Menschen hier? Er begann, gemeinsam mit Studierenden zweigeschossige Häuser aus Lehm, Strohplatten oder Eukalyptusholz zu konstruieren. Und er begriff, dass traditionelle Baumaterialien, kombiniert mit neuem Wissen und digitalen Techniken, eine große Chance bedeuten. 

Als Hebel im Jahr 2012 als Juniorprofessor an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich berufen wurde, förderte ihn der dortige Uni-Präsident genau mit dieser Aufgabe: alternative Baumaterialien zu erforschen, für die Stadt der Zukunft. Er bot Dirk Hebel an, nach Singapur ans «Future Cities Laboratory» zu gehen – ein zum damaligen Zeitpunkt neues Zentrum der internationalen Kooperation, initiiert von der ETH Zürich, an dem Forschende aus Zürich und Singapur gemeinsam an der «nachhaltigen Gestaltung großer urbaner Systeme» arbeiten. 

Wir sollten den Begriff des Modernen nicht am Material, sondern am Umgang damit festmachen.

Dirk E. Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie

Hebel zog mit seiner Familie nach Asien um, noch heute ist er dort als leitender Wissenschaftler eingebunden. Damals wurde er jedoch zuerst belächelt. «Die sind fast vom Stuhl gefallen, als ich gesagt habe, ich möchte an Bambus forschen», sagt Hebel und lacht. «Bambus galt damals als ein Rückschritt, eben weil es ein traditionelles Baumaterial ist. Die mit der modernen Architektur verbundenen Materialien Stahl und Glas werden nicht nur in Singapur eingesetzt, um einen ungebrochenen Fortschrittsglauben zu zelebrieren.» Es hat einige Jahre gedauert, bis Hebel zeigen konnte, dass Bambus auch ein modernes Baumaterial sein kann. Sein Ziel lautet seitdem: «Wir sollten den Begriff des Modernen nicht am Material, sondern am Umgang damit festmachen.»

Eine Tragekonstruktion, die wie die Abstraktion eines Baumes aussieht – bestehend aus gelben Elementen mit einem dreieckigen Querschnitt.
2017 präsentierte Dirk Hebel erstmals den mit seinem Kollegen Philippe Block entworfenen «MycoTree». Foto: Silk and Salt Images / ETH Zürich
In einer großen Plastiktüte ist eines der zahlreichen Bauelemente des «Baumes» herangewachsen.
Grundlage der baumförmigen Struktur sind Dutzende von einzeln gezüchteten Myzel-Elementen. Foto: Carlina Teteris / ETH Zürich
Sechs Hände dreier junger Menschen halten ein Bauelement aus Myzelwerkstoff, das auf ein anderes aufgesteckt wird.
Pilz- und Bambusmodule werden zu einer tragenden Konstruktion zusammengefügt. Foto: Juney Lee / ETH Zürich

Dirk Hebel ist mit seiner Forschung so weit gekommen, dass er in Deutschland zum führenden Experten für das Bauen mit Pilzen avancierte. Myzel ist kein traditioneller Baustoff, aber der Architekt kombiniert ihn zum Beispiel mit Bambus. Am eindrucksvollsten ist das am «MycoTree» zu sehen – Resultat einer Zusammenarbeit des KIT, der ETH Zürich und der auf Myzel-Materialien spezialisierten Firma «Mycotech» –, der 2017 auf der «Seoul Biennale of Architecture and Urbanism» ausgestellt wurde und dort für großes Aufsehen gesorgt hat. Die Wissenschaftler haben eine tragende Konstruktion für Dächer aus Pilz-Bausteinen und Bambus konstruiert, die veranschaulicht, dass auch ohne Verbundstoffe wie Beton effektiv und sicher gebaut werden kann. 

Die Zementindustrie ist global gesehen einer der größten CO2-Emittenten.

Dirk E. Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie

Hebel wird nicht müde, immer wieder zu erklären, warum die Menschheit solch eine nachhaltige Form des Bauens dringend nötig hat. Dazu arbeitet er mit anderen Wissenschaftlern zusammen, hält Vorlesungen, schreibt Bücher und gibt Interviews. «Die Zementindustrie ist global gesehen einer der größten CO2-Emittenten, das wird leider oft übersehen», sagt Hebel. «Es werden sehr viele fossile Energieträger verbrannt, wie Kohle, Öl und Gas, um aus Kalkstein Zement herzustellen. Kohlendioxid entsteht aber nicht nur dort, sondern auch durch den chemischen Umwandlungsprozess von Calciumcarbonat zu Calciumoxid, dem Hauptbestandteil des Zements.» Gleichzeitig werden die Hauptzuschlagsstoffe Sand und Kies, die für die Betonproduktion benötigt werden, knapp. Dirk Hebel nennt das die Ressourcenlücke. «Vor fünf Jahren habe ich in meinen Vorlesungen den Sandmangel noch an Beispielen aus Marokko oder Indonesien nahegebracht», sagt Hebel. «Das muss ich heute gar nicht mehr, nun erleben wir ihn hautnah, bei uns in Deutschland.»

Ein neuartiger Weg, Ressourcenlücken zu schließen

Doch nicht nur der Bau, sondern ebenso der Abriss von Gebäuden ist inzwischen problematisch. Laut Umweltbundesamt bildeten bereits im Jahr 2018 die mineralischen Bauabfälle einschließlich des Bodenaushubs, also Böden und Steine, mit 228,1 Millionen Tonnen die größte Abfallgruppe in Deutschland, Tendenz steigend. Hebel will den nicht verwertbaren Bauschutt vermeiden. Und er will dafür sorgen, dass nachwachsende Rohstoffe Standard werden – also irgendwann in den Baumarktregalen stehen. «Denn selbst wenn es gelingen würde, alles Material von abgerissenen Gebäuden wiederzuverwenden oder zu verwerten, würde das unseren Bedarf nicht decken», sagt er. «Diese Ressourcenlücke muss geschlossen werden – mit organischen Baustoffen, die wir mithilfe natürlicher Prozesse und Sonnenlicht kultivieren und für uns nutzen können.»

Wir können sie einfach wieder in den biologischen Kreislauf einspeisen.

Dirk E. Hebel, Professor für Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie

Pilze bilden somit eine Ressource, denn sie lassen sich einfach züchten und benötigen nicht einmal eine große landwirtschaftliche Nutzfläche. In Hebels Labor stapeln sich die Plastiktüten, in denen die Pilze durch das Grundmaterial wachsen, in einem einfachen Regal. Für eine Großproduktion würde anstatt mehrerer Hektar Land somit eine Lager- und Produktionshalle reichen. Außerdem erzeugen Bausteine und Plattenwerkstoffe auf Pilzbasis keinen Müll. «Wir können sie einfach wieder in den biologischen Kreislauf einspeisen», sagt Hebel. Also quasi auf den Kompost werfen. 

Alleskönner Pilz?

Wissenschaftler der NASA, der US-Bundesbehörde für Raumfahrt und Flugwissenschaft, erforschen derzeit, ob das Bauen mit Myzel eine Option für die Besiedelung anderer Planeten sein könnte. Auch erste Unternehmen ganz abseits der Bauindustrie nutzen bereits die Vorteile des Pilz-Materials. Es lässt sich schließlich in jede erdenkliche Form bringen. Flexibilität und Festigkeit können durch Faktoren wie Lichteinfall, Nährstoffzufuhr, Temperatur und Feuchtigkeit so verändert werden, dass das Ergebnis dick und hart wie die Bausteine oder auch dünn und weich wie Leder wird. Das italienische Unternehmen «Mogu» vertreibt Wandpaneele und Bodenbeläge aus Myzelien. Bei «Ecovative Design», einem New Yorker Start-up, kann man Lampenschirme, Tische oder Stühle aus Pilzen online bestellen. Die niederländische Firma «Grown» verkauft kompostierbares Verpackungsmaterial und sogar «Grow it yourself»-Pilz-Anbau-Kits, mit denen man sich selbst einen Blumentopf wachsen lassen kann.

In einer aufgeräumten Industriehalle steht eine Art Kühlschrank in Garagengröße.
Das New Yorker Start-up «Ecovative Design» produziert bereits Myzel-Produkte im größeren Stil. Foto: Mitch Wojnarowicz / Ecovative Design
Links ein stark nach echtem Leder aussehendes Material, rechts eine Handtasche, deren Oberfläche ähnlich lederartig aussieht.
Das von «Ecovative Design» entwickelte Myzel-Leder kann wie tierisches Leder gegerbt und verarbeitet werden: Die Handtasche einer Luxusmarke besteht zu großen Teilen aus der veganen Leder-Alternative. Fotos: ecovativedesign.com (li.), Coppi Barbieri / mycoworks.com (re.)
Links ist eine Verpackung für eine Weinflasche abgebildet, die eher nach grauer Pappe aussieht, rechts eine Lampe, deren halbkugeliger Schirm nach Beton aussieht.
Der Myzel-Werkstoff ist stoßfest und somit für die Herstellung schützender Verpackungen bestens geeignet. Aber auch Lampenschirme können aus Myzel gezüchtet werden – wie die von der Designerin Danielle Trofe entworfene Lampe «grown». Fotos: grown.bio (li.), danielletrofe.com (re.)
Zwei Bilder von Innenräumen, in denen weißliche Paneele an der Wand angebracht sind.
Auch für Raumakustik ist das Pilzmaterial durch seine schallabsorbierenden Eigenschaften geeignet. Die italienische Firma «Mogu» hat für diesen Zweck eine umfangreiche Kollektion entwickelt. Foto: @ Mogu srl. / mogu.bio
Auf einem Tisch sind Handschuhe, eine Schutzbrille, Messlöffel, eine Schale mit weißlichem Pulver, eine Sprühflasche, ein Beutel faseriges Material, eine Tube Abdichtpaste sowie ein Messbecher und eine kleine Edelstahlschüssel ausgebreitet.
Das Herstellen eigener Produkte aus Pilz scheint nicht allzu schwer zu sein: ein «Grow-it-yourself»-Set zum Selbstzüchten von Myzel. Foto: grow.bio

Myzel-Materialien auf dem Prüfstand

In dem gut vier Kilometer von Hebels Büro entfernten Labor, einem zur Hälfte unterirdischen Gebäude mit engen, dunklen Gängen und einigen weiten Räumen, machen Hebel und sein Team aus mehreren internationalen Wissenschaftlern Experimente, um die Beschaffenheit des Baumaterials weiter zu optimieren. Nachdem es in die gewünschte Form gebracht ist – bei den Ziegeln passiert das zum Beispiel in einer Plexiglasform mit Luftlöchern an der Seite, in der das Myzel bis zur Steinform wächst –, erhitzen sie es bei bis zu 160 Grad Celsius in einem Ofen. Der Pilz stirbt ab. Was bleibt, ist seine Struktur, vergleichbar mit der Knochenmasse. Danach geht es an die Weiterverarbeitung. So werden die gebackenen Pilz-Platten beispielsweise in einer großen Presse starkem Druck ausgesetzt, danach gesägt und auf ihre Festigkeit hin untersucht. 

Doch nicht nur als Ziegelstein-Ersatz könnte das neue Baumaterial dienen. Das Team arbeitet zudem an vollständig recycelbaren Platten für den Baubereich. Dafür forscht die Gruppe an einer Art flüssigem Klebstoff aus Myzel, um damit Holzwerkstoffe umweltfreundlich zu verbinden – auch das könnte Teile der Baubranche revolutionieren. Schließlich ist eine heute gängige Holzwerkstoffplatte – wie die im Baumarkt käuflichen sowie bei großen Möbelhäusern verbauten MDF- oder Spanplatten – mit synthetischen Kunstharzen verklebt, die es unmöglich machen, diese Platte später einmal zu kompostieren oder schadstofffrei zu verbrennen. 

«Das ist doch verrückt», sagt Hebel. «Wir nehmen einen fantastischen Grundstoff wie Holz und machen ihn in unseren Produktionsprozessen zu Sondermüll.» Seine Wunschvorstellung: In den Fabriken wird irgendwann einfach die Kunstharz-Pumpe mit einer Myzel-Kleber-Pumpe ausgetauscht – und schon ist die abbaubare Holzwerkstoffplatte Standard.

Ein Wettlauf mit der Zeit

Hebel weiß, dass es auch noch andere organische Stoffe gibt, die als biologische Kleber dienen könnten. «Pilze sind bestimmt nicht der einzige Weg. Die Natur hat da mehr in petto», sagt er. «Das haben wir nur noch nicht zur Marktreife gebracht.» Einen Tag pro Woche hält er sich immer für die Forschung frei, lieber wäre ihm mehr Zeit. Er hegt die Hoffnung, das Forschungslabor in den kommenden Jahren an den Campus Süd des KIT zu verlegen. Nahe seinem Büro, das er sich mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern teilt und welches – ähnlich dem Myzel – für Vernetzung steht. Denn Hebel schätzt es, sich mit anderen auszutauschen, gemeinsam Ideen zu durchdenken, mit vielen Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten. «Nur so kommen wir voran», sagt er. «Ich möchte gar nicht alleine derjenige sein, der für das Bauen mit Pilzen steht.» Was er stattdessen möchte: «Dass wir als Gesellschaft umdenken und aufhören, ausgerechnet auf die Art und Weise des Bauens zu vertrauen, die uns erst in diese Misere gebracht hat, um einen Weg aus ihr herauszufinden. Das ist mein Antrieb, meine Motivation.» 

Durch einen geöffneten Plastikvorhang sieht man einen jungen Mann in weißen Kittel vor einem Laborschrank mit transparenten Wänden.
Forscher Kay Sanvito bereitet im KIT-Labor Materialien zur Baustoffherstellung aus Myzel vor. Foto: Nora Klein
Zwei Hände in Gummihandschuhen arbeiten hinter einer Glasscheibe an einem gallertartigen Material in einer Petrischale.
Zuerst wird das Pilzgewächs aus der Petrischale in Einzelportionen zerlegt. Foto: Nora Klein
Ein junger Mann im weißen Kittel schüttet Wasser aus einer Laborflasche in eine Metallschüssel.
Dann werden die Rohstoffmaterialien mit dem Pilz vermengt … Foto: Nora Klein
Ein Mann im weißen Kittel füllt Material, dass aussieht wie Holzspäne, in eine kleine Plastiktüte.
… und in ihren «Brutbeutel» verpackt. Foto: Nora Klein
Hinter einer aus Plastikfolien zusammengeklebten Raumabtrennung steht ein Regal voller Plastikbeutel, die Myzelien enthalten.
Die Beutel mit dem Pilz-Rohstoffgemisch reifen im «Growth-Room». Foto: Nora Klein
Weiß-gelbliches Plattenmaterial ist im Foto grafisch angeordnet.
Nachdem das Myzel in entsprechenden Formen zur gewünschten Größe gewachsen ist, kann das Material getestet werden. Foto: Nora Klein

Wenn Dirk Hebel heute durch einen beliebigen Baumarkt in Deutschland läuft, hat er eigentlich nur eine Befürchtung: «Dass wir nicht schnell genug sind. Uns läuft die Zeit davon.» Klimawandel und Ressourcenknappheit zum Trotz hat es Hebels Forschungsgegenstand noch nicht in die Mitte der Gesellschaft geschafft. Will die EU ihren Treibhausgasausstoß bis zum Jahr 2030 tatsächlich um 55 Prozent gegenüber 1990 senken und bis 2050 komplett klimaneutral sein, so kommt sie um ein grundlegendes Umdenken in der Baubranche schlichtweg nicht herum. 

Dirk Hebels Ideen zu unseren Städten der Zukunft könnten die Baubranche umkrempeln und dazu beitragen, dass die Klimaziele noch erreicht werden. Das wird sicher nicht von heute auf morgen geschehen – doch von einer Sache ist der Architekt überzeugt: «Die Zeit der Pilze wird kommen.» Spätestens, wenn wir in allen Baumärkten wie selbstverständlich eine ganz und gar umweltfreundliche Spanplatte kaufen können.

 

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18. Oktober 2021 | Energiewende-Magazin