Die Stromrebellen von der Île de Sein
Eine Reportage von Armin Simon
Eine Handvoll Bretonen will das Stromnetz ihrer Miniinsel übernehmen – und nebenbei das EDF-Netzmonopol in ganz Frankreich aufbrechen.
Sie drehen und drehen und drehen sich – eben nicht. Die kleinen Windrädchen im Hof der ehemaligen Schule stehen still, trotz beständiger Brise. Dabei sollen sie doch zeigen, dass es vorangeht mit den Erneuerbaren Energien auf der Île de Sein.
In Zusammenarbeit mit dem Stromgiganten und französischen Quasi-Monopolisten Électricité de France (EDF) hat die regionale Wohnungsbaugesellschaft die beiden Vertikalrotoren vor ein paar Monaten montiert, mitten im «bourg», dem kleinen Inselstädtchen. «Also genau dort, wo möglichst wenig Wind weht», spottet Patrick Saultier. Die Île de Sein liegt vor der bretonischen Küste, ein winziges Eiland im Atlantik, danach 4.000 Kilometer Ozean, dann kommt Amerika. Der Wind ist hier allgegenwärtig, der Mensch schützt sich dagegen seit jeher, so gut er kann: Die Häuser kauern sich dicht aneinander, die Gassen sind schmal, hohe Mauern umgeben die Gärten. Wo keine stehen, wachsen die Bäume schief, vom Wind nach Nordosten gebeugt. Selbst die Felder, die einst jeden kultivierbaren Quadratmeter des kargen Eilands bedeckten, sind von Mäuerchen gegen die Brise abgeschirmt; wie ein engmaschiges, verknittertes Netz durchziehen sie noch heute das Gras.
Auch an diesem Freitagabend Ende August weht Wind, die See ist unruhig, die Fähre bockt auf den Wellen. Die beiden Windturbinen jedoch, Spitzenleistung sieben Kilowatt, geben sich unbeeindruckt. Das ganze Wochenende über dreht sich nur eine mal für ein paar Minuten. Und selbst dann speist sie ihren Strom nicht ins Stromnetz ein, sondern nur in zwei teure Batterien des zu Sozialwohnungen umgebauten Gebäudes; das soll den Einfluss der Erneuerbaren Energien auf das Netz begrenzen. Hinten beim Leuchtturm wummern derweil die Dieselaggregate und blasen schwarze Wolken in den Himmel. «So ist das mit EDF und den Erneuerbaren Energien», stichelt Saultier: «Bloß nicht zu viel davon!» Beim ersten Herbststürmchen Ende Oktober verlor der eine Rotor seine Flügel.
Wellen und Wogen
Saultier weiß, wie Windkraftanlagen laufen können. In seiner Heimatstadt in der Nähe von Rennes, am anderen Ende der Bretagne, brachte der Diplom-Ingenieur und Berater für Erneuerbare Energien 2008 einen der ersten Bürgerwindparks Frankreichs ans Netz. Die Île de Sein will er nun zur ersten Bürgerenergieinsel der Republik machen.
Der 50-Jährige mit dem großen, von weißen Locken umrahmten Kopf ist überzeugt davon, dass die Energiewende in Frankreich unter zwei Bedingungen deutlich erfolgreicher verlaufen könnte: Erstens müssten die Bürger selbst sie in die Hand nehmen. Und zweitens müsse die Macht von EDF beschnitten werden. Auf der Île de Sein hofft Saultier, für beides ein Exempel zu statuieren. Nicht zuletzt deshalb schlug der Streit um die Stromversorgung der Insel mit ihren gerade mal 120 permanenten – im Sommer auch mal 1.000 – Bewohnern inzwischen Wellen bis nach Rennes, Paris und Brüssel.
Sonne, Wind und Wellen könnten Den Strom ökologischer und billiger liefern.
Saultiers engste Mitstreiter warten an der Mole, wo die Fähre anlegt: François, der Fischer, Serge, der Leuchtturmwärter, Edouard, der Schiffsmechaniker. Mit 40 «Sénans», wie die Inselbewohner heißen, und zwei Dutzend Unterstützern vom Festland haben sie vor vier Jahren die «Île de Sein Énergies S.A.S.» (IDSE) gegründet. Sie wollen das Inselstromnetz übernehmen, auf 100 Prozent Erneuerbare Energien umstellen und den Atomkonzern EDF verjagen. Ihr Vorbild sind die Stromrebellen aus Schönau im Schwarzwald. Ihr Logo ziert die Anti-Atom-Sonne, ergänzt um einen Leuchtturm.
Fast den gesamten Strom auf der Insel erzeugen drei große Dieselaggregate – teuer und umweltschädlich. Sonne, Wind und Wellen könnten diesen nicht nur deutlich ökologischer, sondern auch wesentlich billiger liefern, ist Saultier überzeugt. «Und wenn das hier gelingt, dann gilt das auch für andere Inseln.» Das wäre Teil eins der Revolution.
Teil zwei spielt auf dem Festland, und die Verwerfungen, die das Inselprojekt dort indirekt auslösen könnte, sind noch weitaus größer. Denn anders als in der EU üblich sind Stromerzeugung, Stromversorgung und Netzbetrieb auf den französischen Inseln nicht voneinander getrennt: Geht die Stromversorgung in andere Hände, muss auch das Stromnetz den Betreiber wechseln. Eben diese Möglichkeit jedoch sieht das französische Gesetz bisher nicht vor: Die Konzession für von EDF betriebene Stromnetze – und das sind fast alle in Frankreich – kann immer nur erneut an EDF vergeben werden. Die IDSE hat dagegen Klage vor dem Verwaltungsgericht in Rennes eingereicht. Hat diese Erfolg, würde das seit 1946 bestehende Netzmonopol der EDF nicht nur auf der Île de Sein, sondern in ganz Frankreich kippen.
Hummer und Öl
«Du als Erster», raunt Edouard Guilcher dem größten der drei Hummer zu, die er am Morgen aus dem Meer gezogen hat, und versenkt ihn, ein wahrhaft kapitales Exemplar, in dem großen blauen Emailletopf mit kochendem Wasser auf seinem Herd. Den Deckel hält er gut fest, das kräftige Tier, das weiß er, wird nicht sofort aufgeben: Zwei, drei dumpfe Schläge macht der Schwanz des Krebses noch, dann erst ist Ruhe.
Ein paar Dutzend Inselbewohner, die zusammen 68.000 Euro in ihr Projekt investiert haben, gegen den zweitgrößten Stromversorger der Welt, 25 Milliarden Euro Börsenwert, 71 Milliarden Euro Umsatz: Das ist die Gemengelage hier. Fürs Erste gibt es Hummer für alle, er schmeckt vorzüglich, besonders der große. Man muss ihn bloß zu knacken wissen.
Guilcher, mit Jeans, Seenotretter-Käppi und Polohemd, ist 15 Jahre zur See gefahren, dann hat er die Öfen in der Müllverbrennungsanlage von Brest betreut, sein Arbeitgeber dort war EDF. Er hat sich eines der wenigen neuen Häuser auf der Île de Sein gebaut, mit Meerblick natürlich. Und mit Stromheizung, wie sie hier alle haben. Holz, Heizöl oder Flüssiggas müsste er schließlich kostspielig vom Kontinent herbeischaffen.
Für den Diesel, der hinten beim Leuchtturm die großen Stromaggregate antreibt, gilt das zwar ebenso – die bloße Produktion einer einzigen Kilowattstunde schlägt hier nach Berechnungen der IDSE mit mindestens 45 Cent zu Buche; die EDF nennt, allerdings für alle bretonischen Inseln zusammen, einen Schnitt von 24 Cent. Abgegeben aber wird der Strom hochsubventioniert zum politisch gedeckelten nationalen Einheitstarif von knapp 16 Cent, und zwar inklusive Netzgebühren, Steuern und Abgaben, nachts bisweilen nochmal günstiger. Finanziert wird das auf allen nicht ans Stromnetz angeschlossenen französischen Inseln von Miquelon bis Réunion und von Französisch-Guayana bis Korsika über eine nationale Umlage; 2015 belief sie sich auf rund 1,5 Milliarden Euro. Ein Großteil davon geht für fossile Brennstoffe drauf.
Saison und Raison
Die Straße zum Leuchtturm ist die längste auf der Insel und eine der wenigen, die überhaupt breit genug ist für ein Auto. Sie beginnt am Südende des Dorfes, wo die Deichschutzmauer mehrere Meter dick ist und runde Wellenbrecher aus Beton an ihrem Fuß die Wucht des Meeres umlenken sollen. An der Westseite der Insel führt sie dann nach Norden, vorbei am letzten Haus des Dorfes, dem Hotel-Restaurant d′Ar-Men. Chefkoch Patrick Hernandez grüßt nur kurz aus dem Autofenster, es ist viel zu tun, alle Betten sind derzeit belegt. Entsprechend hoch ist auch der Stromverbrauch des Hauses, vor allem für Warmwasser. Ende August jedoch ist die Hochsaison schon wieder vorbei.
In seinem Restaurant serviert Hernandez Rochenfilet und Hummerragout, Seespinne und Austern, auch Kartoffeln wachsen auf der Insel, sie gelten als Delikatesse. Die jahrhundertealte Siedlung Sein, hat nur deshalb überlebt, weil ihre Bewohner stets sehr geschickt darin waren, zu nutzen, was es vor Ort gab. Selbst Tang fand so einst als Dünger und Brennstoff Verwendung; Waschtag war immer an Regentagen, wegen des Süßwassers. «Wir haben hier Wind! Strömungen und Gezeiten! Sonne! Jede Menge Energie!», argumentiert Hernandez, auch er im Vorstand der IDSE. Wie könne es da sein, dass immer noch Erdöl mit immensem Aufwand aus dem Nahen Osten hierher gekarrt werde, bloß, um ein bisschen Strom zu erzeugen?
Kiesel und Fisch
Im Winter 2013/14, als nicht nur eine, sondern gleich fünf Sturmfluten in Folge die Insel heimsuchten, schwappte das Wasser am Hotel vorbei bis hoch zur Kirche. Als es wieder sank, lag das rosa Haus inmitten eines Meers aus großen Kieseln; die Fluten hatten sie vom Ufer bis hierher mitgerissen. In solchen Situationen ist der Zusammenhalt auf der Insel nach wie vor stark: In einer großen gemeinsamen Aktion warfen die Bewohner die Steine wieder zurück.
«Nur dort schützen sie uns!», unterstreicht François Spinec, denn nur im Meer helfen die Kiesel, die Wucht der Wellen zu brechen. Spinecs nackte Füße stecken in Plastiksandalen, oben trägt er einen Fleecepullover, eine Uhr braucht er nicht. Sein ganzes Leben hat der Fischer auf dem Ozean verbracht. Wenn er wissen will, wie spät es ist, schaut er, wie hoch das Wasser steht.
Aufmerksam registriert Spinec auch leise und schleichende Veränderungen. Die Abnahme der Ressourcen etwa: 350 Fischer waren sie anfangs auf Sein, so reichhaltig waren die Fischgründe. Jedes Jahr aber gab es weniger Fische. Und weniger Fischer. «Ich bin der Letzte», sagt François Spinec. Er ist jetzt 72, ein Nachfolger nicht in Sicht.
Da waren die Tankerkatastrophen, die das Meer immer wieder aufs Neue mit Öl verseuchten, für die Insel am schlimmsten die Havarie der «Böhlen» im Oktober 1976, zehn Kilometer nordwestlich. Spinec und seine Kollegen fuhren damals mit ihren Fischerbooten zu Hilfe. Zwei Männer zogen sie aus der Suppe, schwarz von oben bis unten. Es dauerte nicht lange, bis das Schweröl ans Inselufer schwappte, so zäh, dass Steine, die man draufschmiss, oben liegen blieben. «Das hat mich aufgerüttelt.»
Spinec bückt sich über das kniehohe Mäuerchen, das den Weg gegen das Ufer abschirmt und schiebt ein paar Kiesel zur Seite. Dann zieht und rüttelt er kräftig an den darunterliegenden Steinen: «Man kriegt sie fast nicht raus!» Mit einem Ruck löst sich schließlich doch noch einer, Spinec zeigt ihn herum; an den Seiten klebt Teer, Öl von der «Böhlen». «Nach mehr als 40 Jahren!»
Sturmfluten habe es immer gegeben, erzählt Spinec. Und Teile der Insel seien dabei auch früher schon überspült worden. Aber mit den Jahren sei das Wasser mit immer größerer Wucht immer höher aufgelaufen. Man sieht das etwa in der Mitte der Insel, wo früher Gras wuchs, heute unter Tausenden Kieselsteinen begraben. Man sieht es auf dem großen Platz vorne am Hafen, auf dem die Fischer einst ihre Utensilien lagerten. Heute reißt das Meer bei Sturm dort alles weg, was nicht niet- und nagelfest ist. Und man sieht es ganz hinten, am Leuchtturm, den eine Mauer aus Betonsteinen umgab. 2008 warf die Flut sie erstmals um. 2014 drückte das Wasser sie schon wieder weg, die Brocken liegen bis heute herum. Der Turm steht am höchsten Punkt der Insel, zehn Meter über dem Meer. Das Wasser quoll trotzdem unter der hölzernen Eingangstür hindurch.
Klimawandel und Straßenschlacht
«Das hatte noch keiner meiner Vorgänger erlebt.» Serge Coatmeur, ein braungebrannter, drahtiger Mann und heute Präsident der IDSE, war damals einer der Leuchtturmwärter und zugleich erster Beigeordneter im Rathaus. Die Île de Sein, im Schnitt nur anderthalb Meter über dem Meeresspiegel gelegen, ist vom Klimawandel direkt bedroht.
Nach dem Unwetter von 2008, bei dem die Wellen bis auf die Dächer schlugen, ließ die Kommune für mehr als 600.000 Euro Deichmauern reparieren und verstärken. Wer am Kai wohnte, legte sich Bretter zum Verbarrikadieren bereit. Der Gemeinderat diskutierte – auch über die Energieversorgung: Mehr als 1.000 Tonnen CO2 bläst die Insel jedes Jahr für ihren Strom in die Luft.
Der Bürgermeister beauftragte Coatmeur, sich um das Thema zu kümmern. Doch die Bürgersolaranlage neben dem Leuchtturm, die Coatmeur bauen wollte, scheiterte, weil EDF das Einspeisen des Stroms untersagte. Ohne Zugriff auf das Netz, verstanden die Stromrebellen, ist eine Energiewende unmöglich.
Im Juli 2012 stimmte der Gemeinderat einstimmig für das Ziel, die Insel zu 100 Prozent mit regenerativen Energien zu versorgen. Geplant war ein «partizipatives und lokales Projekt», das sich nicht nur um die Stromproduktion, sondern auch um Speicherung, Netz und Verbrauch kümmern soll. Explizit fasste der Rat dafür die Gründung einer Gesellschaft ins Auge, bei der, so die Vorgabe, die Insulaner die Entscheidungshoheit haben sollten. In der IDSE hat deshalb nur Stimmrecht, wer einen Stromzähler auf der Insel besitzt.
Wir hätten die Energiewende schon früher initiieren müssen.
Die Sicht nach Osten ist klar, die Pointe du Raz, der letzte Zipfel des Festlands, leuchtet in der Abendsonne. Coatmeurs Arm weist hinüber, seine Großeltern wohnten dort, in einem kleinen Dorf namens Plogoff, das EDF in den 1970er-Jahren als Standort für ein AKW auserkoren hatte. Vier große Reaktoren sollten entstehen, erzählt er, «praktisch in unserem Garten!» Der Widerstand auf der Straße war heftig, der Leuchtturmwärter mittendrin. Atomkraftgegner aus ganz Frankreich unterstützten die Bretonen, die Regierung schickte Militäreinheiten. Präsidentschaftskandidat François Mitterrand versprach schließlich, im Falle seines Wahlsiegs das Projekt zu stoppen – und hielt Wort. Coatmeur ist dennoch nur halb zufrieden. «Wir hätten die Energiewende schon damals initiieren müssen», sagt er. Dann fügt er fast trotzig hinzu: «Jetzt machen wir es eben 30 Jahre später!»
Doppelkreuz und EDF
Bürgermeister Dominique Salvert empfängt im Rathaussaal, unter dem Porträt von General Charles de Gaulle und dem Doppelkreuz aus Messing, das die Kommune als eine von fünf in Frankreich als «Compagnon de la Libération» auszeichnet – 124 Männer von hier waren 1940 mit Fischerbooten nach Großbritannien übergesetzt, um sich den «Streitkräften des Freien Frankreich» anzuschließen.
Der Ruhm des Widerstands hallt bis heute nach: Jedes Schulkind im Land kennt die Insel, dem Protokoll nach steht ihr Bürgermeister auf Platz 13 im Staat. So gut wie jeder bisherige französische Präsident hat sich hier blicken lassen; die Kontakte nach Paris sind deutlich besser als die anderer 200-Seelen-Flecken. Salvert, einst in der Verwaltung eines Altenheims beschäftigt, erzählt das nicht ohne Stolz.
Auch die Stromrebellen spielen mit der Glorie: «Wir haben eine Pflicht», sagt François, der Fischer, auf halbem Weg zum Leuchtturm, wo das steinerne «Kreuz der Befreiung» steht. Es preist Kämpfer, die niemals aufgeben.
Doch die Zeiten, in denen Bürgermeister, Gemeinderat und Initiative an einem Strang zogen, um die Energieversorgung ihrer Insel und mittelbar vielleicht sogar ganz Frankreichs aus dem Netz von EDF zu befreien, sind passé. Bürgermeister Salvert steht fest an der Seite des Stromkonzerns, ebenso die große Mehrheit des neuen Gemeinderats. «Wir wollen EDF nicht rausschmeißen», stellt der Bürgermeister klar. Coatmeur und seinen Mitstreitern wirft er genau das vor. In Anspielung auf den erfolgreichen Anti-Atom-Kampf der 1980er-Jahre auf dem Festland sagt er: «Die wollen hier ein kleines Plogoff schaffen!»
Strom und Subvention
Wenige Stunden später stehen Coatmeur, Saultier, Spinec und Guilcher im Gemeindesaal drei Straßen weiter. Draußen knallt die Sonne, die Luft ist trotz offener Türen stickig. 60 Leute sind zur Infoveranstaltung der Stromrebellen gekommen: Anteilseigner der IDSE, Unterstützer vom Festland, auch ein Dutzend Protestler einer befreundeten Bürgerinitiative. Die Kritiker fehlen.
EDF habe die IDSE zuerst belächelt, umreißt Saultier die Situation. Nun versuche der Konzern, ihnen mit eigenen Erneuerbaren-Projekten und Ankündigungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. «Sie nehmen uns jetzt ernst.» Den Kampf ums Stromnetz macht das jedoch nicht leichter. Zumal den Stromrebellen finanziell wie technisch die Hände gebunden sind: EDF bestimmt, ob und zu welchen Konditionen etwa Solaranlagen ans Inselnetz angeschlossen werden können; die Vergütung dafür ist nicht kostendeckend.
Wir wollen das Stromnetz übernehmen. Und wir wollen das ganze System EDF zum Einsturz bringen.
EDF hingegen bekommt alle Ausgaben für die Energieversorgung der Insel ersetzt – finanziert über die nationale Umlage. Wie viel das ist, verrät der Konzern nicht, sondern verweist auf den gesetzlichen Auftrag, die Inselbewohner mit Strom zu versorgen. Nach Berechnungen der IDSE geht es um mindestens 450.000 Euro pro Jahr – eine «Perversität», urteilt Saultier.
Genau mit diesem Geld wollen die Stromrebellen den Umbau der Energieversorgung ihrer Insel finanzieren. Denn als Stromversorger der Insel hätten sie anstelle EDF Anrecht auf die Subvention. Und weil intelligent genutzte Erneuerbare Energien nach ihrer Berechnung deutlich billiger kämen als der bisherige teure Dieselstrom, würden die Verbraucher in ganz Frankreich dadurch mittelfristig sogar entlastet.
EDF hingegen, kritisiert Saultier im Saal, wolle vor allem zeigen, dass Erneuerbare Energien kompliziert und teuer seien. Deshalb setze der Konzern auf aufwendige Batteriespeicher, anstatt die vielen regelbaren Stromverbraucher auf der Insel entsprechend der Stromproduktion zu steuern. Deshalb habe er ein Jahr lang mit einem eigens errichteten Messmast Winddaten erhoben, statt einfach die bereits vorhandenen des Wetterdienstes auszuwerten. Deshalb habe es 33 Jahre gedauert, bis der Konzern für eine schon 1984 versprochene Windkraftanlage nun einen Baugenehmigungsantrag angekündigt habe. Und deshalb drehten sich auch die beiden kleinen Windrädchen im Hof der ehemaligen Dorfschule so gut wie nie.
«Wir wollen das Stromnetz übernehmen», fasst Saultier die Ziele der Initiative zusammen. «Und wir wollen das ganze System EDF zum Einsturz bringen.» Applaus. Ein Student, der über Bürgerenergieprojekte forscht, ist eigens für die Versammlung vom Festland übergesetzt. «David gegen Goliath», hält er fest.
Träumer und Gendarm
Bürgermeister Salvert ist neidisch auf die Stromrebellen, deren Idee im In- und Ausland so viel öffentliche Aufmerksamkeit und Zuspruch erfährt. An Saultier, dem Geschäftsführer der IDSE, lässt er kein gutes Haar. Ein Honorar von 100.000 Euro jährlich habe der sich zusichern lassen, empört er sich. Die Summe verstehe sich inklusive seiner eigenen Auslagen, sagt Saultier, und entspreche dann nur einem normalen Ingenieursgehalt. Zudem werde dieses nur fällig, wenn das Projekt tatsächlich zustande komme. Bis dahin strecke er seine Arbeit und seine Ausgaben auf eigenes Risiko vor.
Die Bürger, die mit je 250 Euro die Gründung der IDSE ermöglicht haben, stellt der Bürgermeister als Opfer dar, das Vorhaben der Stromrebellen als chancenlos. Ohne EDF, so sein Tenor, gehe es schlicht nicht: «Wir lassen die Leute nicht träumen.»
Selbst die Gendarmerie hat Salvert wegen des Energiestreits schon vom Festland übersetzen lassen. Sie sollte eine Infotafel demontieren, welche die IDSE an der Uferpromenade aufgestellt hatte – angeblich war sie zu groß.
Eine echte 100-Prozent-Versorgung mit Erneuerbaren Energien ist illusorisch.
Den Vorwurf, der AKW-Betreiber blockiere die Energiewende, weist der Bürgermeister brüsk zurück: «EDF erleichtert uns das Leben!» Dann listet er auf, was die Gemeinde zusammen mit dem Stromkonzern und anderen Akteuren in den vergangenen fünf Jahren schon erreicht habe: zehn Prozent weniger Dieselverbrauch dank Energiesparmaßnahmen und neuer Aggregate, LED-Straßenbeleuchtung, Solarzellen auf bald fünf Dächern, dazu die beiden Windrädchen und schließlich die jüngste Ankündigung von EDF, noch dieses Jahr einen Bauantrag für eine 250-Kilowatt-Windkraftanlage einzureichen. Man arbeite «Hand in Hand» mit der Kommune und der Region, betont EDF. «Die Energiewende ist längst im Gange», unterstreicht Salvert. Im Übrigen sei eine echte 100-Prozent-Versorgung mit Erneuerbaren Energien illusorisch und der Klimawandel «nicht so katastrophal».
Kerzenlicht und Lobbying
Der Inselbäcker bringt ein Blech Pizza in den Hof vor dem Gemeindesaal. Es reicht für alle, die noch da sind. «Viele glauben, dass EDF zu stark ist und dass das ein verlorener Kampf ist», sagt Catherine Fouquet-Spinec, die Frau des Fischers und wie dieser im Vorstand der IDSE. Hinzu kommt der Streit um das Projekt, der die Insel spaltet. Man hockt hier eng aufeinander. Viele, die die Idee an sich unterstützen, halten sich daher öffentlich eher zurück.
Um ein Haar hätten die Stromrebellen 2015 einen Passus im französischen Energiewendegesetz untergebracht, der zumindest auf den drei bretonischen Inseln andere Stromnetzbetreiber als EDF erlaubt hätte. Die Novelle hatte den Senat schon in erster Lesung passiert, auch die Regierung unterstützte das Vorhaben. In letzter Minute jedoch sorgte ausgerechnet der Vorsitzende der staatlichen Energiewendekommission dafür, dass der Absatz wieder rausflog. Kurz darauf machte EDF ihn zum Chef der Übertragungsnetzgesellschaft RTE.
Spinec, Saultier und Coatmeur können viele solcher Geschichten erzählen. Von der 25.000-Euro-Spende für die Seenotretter, die ein EDF-Vertreter dem damaligen Bürgermeister der Insel zusagte, der vom Fan zum Gegner des Bürgerenergieprojekts wurde. Von Journalisten, die tagelang recherchierten, ihren Beitrag über die Stromrebellen aber niemals senden durften. Von anderen, die der Chefredakteur einbestellte, damit ihnen ein EDF-Vertreter die Leviten lesen konnte. Von Gendarmen, die Aktionäre der IDSE vorluden und ihnen vorwarfen, in ein unrentables Projekt zu investieren. Und so weiter.
Hoffnung und Vorbild
François Spinecs Fischerboot liegt vorne am Hafen, im Rettungsring an der Kajütenwand prangt ein großer Aufkleber der IDSE: «Befreit die Bürgerenergien!» Sein Boot hat er wie das seines Vaters benannt; er fand, dass der Name gut zum Fischen passt: «Patience» – Geduld.
Etliche der Abgeordneten, die 2014 dafür waren, das EDF-Monopol auf den bretonischen Inseln zu lockern, sitzen inzwischen in der Regierung. Gut möglich also, dass die damals gescheiterte Gesetzesänderung doch noch zustande komme, sagt Spinec. Und wenn die IDSE vor Gericht Erfolg habe, müsse die Regierung die Stromnetzvergabe sogar in ganz Frankreich öffnen.
Ihrem eigentlichen Ziel, einer Bürgerenergiewende auf der Île de Sein, wären die Stromrebellen in beiden Fällen aber nur einen der notwendigen Schritte nähergekommen. Die Konzessionsvergabe, bei der sie sich gegen EDF behaupten müssten, stünde dann 2023 an; zuvor müssen noch Gemeinderat und Bürgermeister neu gewählt werden.
Wir können hier nicht experimentieren.
Zumindest Amtsinhaber Salvert macht keinen Hehl daraus, dass er das Inselnetz unter keinen Umständen an die IDSE geben will. Die Insel brauche einen «vertrauenswürdigen» Stromversorger, unterstreicht er. «Wir können hier nicht experimentieren.» Es sind Argumente, wie sie einst auch die Stromrebellen aus Schönau im Schwarzwald zu hören bekamen. Salvert kennt das Beispiel aus Deutschland. Er weiß, dass Saultier, Coatmeur und Spinec vergangenes Jahr bereits in Schönau waren, um sich Tipps zu holen, und dass Vertreter der EWS die Insel im Atlantik schon besucht haben. «Keine einzige Erfahrung aus Schönau kann auf die Île de Sein übertragen werden», betont der Bürgermeister im Rathaussaal, die Unterarme fest auf den Sitzungstisch gestützt. Es klingt, als wolle er es beschwören.
Salvert weiß, wie die Geschichte in Schönau ausging.
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Die Geschichte der Stromrebellen aus Schönau
Mit ihrer Stromnetzübernahme wurden die «Schönauer Stromrebellen» 1996 bekannt. Doch begonnen hatte ihre Geschichte bereits 1986 – nach Tschernobyl.
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Bure – das Gorleben Frankreichs
In Lothringen baut Frankreich sein erstes Atommüllendlager. Das Projekt stößt bei Aktivisten und der lokalen Bevölkerung auf erbitterten Widerstand. Ein Bericht von Gaspar D'Allens.