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Die Advokatin der Meere

Eine Reportage von Julia Macher

Teresa Vicente hat dem Mar Menor 
zu Personenrechten verholfen. Doch genügt das neue Gesetz, um das gefährdete Ökosystem vor dem Kollaps zu bewahren?

Für ein paar Sekunden wirkt Teresa Vicente ganz entspannt. Sie steht auf einem Aussichtsturm in La Manga und hält ihr Gesicht in die Sonne. Der 22 Kilometer lange Landstreifen, der das Mittelmeer vom Mar Menor – dem «kleinen Meer» – trennt, ist hier nur 200 Meter breit. Rechts und links des Turms reihen sich acht- bis zehnstöckige Ferienapartmentblocks wie Dominosteine aneinander: Bausünden aus mehr als 50 Jahren Tourismusboom in Spanien. Am Horizont zeichnen sich hinter Gewächshäusern und braunen Äckern die sanft geschwungenen Hügel der Vulkankette ab, die die Landschaft einst schuf. Von einer Uferböschung steigt ein Schwarm Graureiher auf, überquert den blanken Spiegel der Lagune, die sich dreieckig ins Landesinnere schiebt. Teresa Vicente schließt die Augen – einmal kurz durchatmen, die salzige Brise schmecken. Und die Wärme auf der Haut spüren, die dem Küstenstreifen ihren Namen gegeben hat: Costa Cálida. Dann öffnet die Juristin die Augen. Und schon klingelt wieder das Handy.

Ein Gewässer, das vor Gericht ziehen kann

Teresa Vicente, Professorin für Rechtsphilosophie und Direktorin des Lehrstuhls für Menschenrechte und Rechte der Natur an der Universität Murcia, ist eine gefragte Frau, seit sie im Herbst 2022 Personenrechte für das Mar Menor erstritten hat. Als erstes Ökosystem Europas ist die 135 Quadratkilometer große und nur maximal sieben Meter tiefe Salzwasserlagune in der Region Murcia damit eine juristische Person. Wie für einen Menschen oder ein Unternehmen sind ihre Rechte jetzt vor Gericht einklagbar: das Existenzrecht, das Recht auf Fortentwicklung, auf Schutz und auf Wiederherstellung. Auch außerhalb Spaniens fordern Umweltinitiativen ähnliche Gesetze für Moore, Flüsse und Meere: für die Loire oder das Wattenmeer etwa. Sie alle suchen nun Rat bei Teresa Vicente, die für ihr Engagement in diesem Jahr mit dem «Goldman Environmental Prize» ausgezeichnet wird.

Eine stark bebaute Landzunge schiebt sich tief ins Meer – im Vordergrund stehen mediterrane Urlaubsunterkünfte.
Die 22 Kilometer lange und 100 bis zu 1.200 Meter breite Nehrung La Manga trennt das «kleine Meer» (links) vom Mittelmeer (rechts). Foto: Laura León Gómez
Jemand hält ein Bild auf dem zu sehen ist, wie sehr sich „La Manga“ seit 1964 verändert hat – damals war die Landzunge noch kaum bebaut.
Diese Übersicht drückt Pedro Luengo allen Besucherinnen und Besuchern in die Hand: in ihr sind die größten Bau- und Umweltsünden dokumentiert. Foto: Laura León Gómez
Von oben: Die terracottafarbenen Betonfassaden der Ferienunterkünfte werde durch das Azurblau eines kreisrunden Dachpools unterbrochen.
Heruntergelassene Jalousien, leere Pools: Die meisten Apartments in der Ferienstadt La Manga sind in privater Hand – und nur zur Urlaubszeit bewohnt. Foto: Laura León Gómez
Von hinten: Ein Frau im Hosenanzug und mit roten Locken schreitet eine Treppe in Richtung Küste herab.
Teresa Vicente kennt das Ufer des Mar Menor noch unbebaut. Die meisten Blocks wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren hochgezogen. Foto: Laura León Gómez

Der Feind war einfach zu mächtig, aber jetzt kann sich das Mar Menor wehren.

Prof. Teresa Vicente, Rechtsphilosophin an der Universität Murcia

Vicente seufzt, tippt noch schnell eine E-Mail ins Handy. Dann lässt sie das Smartphone in die Handtasche gleiten und wendet sich wieder uns zu – hoch konzentriert und erwartungsvoll. Trotz aller Anspannung und täglichen Anstrengung ist sie in erster Linie stolz auf das Erreichte. Zu Recht. Dank des von ihr errungenen Gesetzes könnte gelingen, was die Umweltgesetzgebung und die Auflagen für das europäische Schutzgebietsnetz «Natura 2000» oder die «Ramsar-Konvention» für Feuchtgebiete, eines der ältesten internationalen Übereinkommen für den Erhalt und die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen, bisher nicht erreichten: nämlich Europas größte Salzwasserlagune vor dem endgültigen Kollaps zu bewahren. Abwässer aus den Ferienanlagen, vor allem aber die Nitrate und Phosphate aus den überdüngten Gemüsefeldern und Obstplantagen haben das sensible Ökosystem aus dem Gleichgewicht gebracht, zweimal kam es zu einem massenhaften Fischsterben. Passiert ist dennoch wenig. «Der Feind war einfach zu mächtig, aber jetzt kann sich das Mar Menor wehren», sagt Teresa Vicente. «Denn das Mar Menor, das sind laut Gesetz jetzt wir alle!»

Ein Hupen ertönt vom Parkplatz, Teresa Vicente eilt zu einem Auto, begrüßt Pedro Luengo, Sprecher von der Umweltorganisation «Ecologistas en Acción». Die beiden wollen uns an diesem Nachmittag zeigen, welche Auswirkungen der touristische Wildwuchs und die Agrarindustrie für die Lagune haben und wie Anwohnerinnen und Anwohner sich dagegen wehren. Dutzende Male sind sie mit Journalisten und Wissenschaftlern schon ans «kleine Meer» gefahren. Das eingespielte Team ergänzt sich perfekt: Pedro Luengo, der verbindliche Aktivist, der seit seiner Jugend gelernt hat, Koalitionen zu schmieden – und Teresa Vicente, die scharfe Analytikerin, die lange genug Einzelkämpferin war, um zu wissen, dass man Konflikte nicht scheuen darf.

Die Frau mit den roten Haare steht mit einem Mann im Karohemd auf einem Aussichtspunkt und deutet mit dem Finger in die Ferne.
Gemeinsam gegen touris­tischen und agrarindustriellen Wildwuchs: Der Kampf für die Rechte der Lagune hat Teresa Vicente und Pedro Luengo von «Ecologistas en Acción» zusammengeschweißt. Foto: Laura León Gómez

Europas Obst- und Gemüsekammer

Wir machen uns vom südlichsten Zipfel der Lagune aus auf den Weg Richtung Norden. Rechts und links der Schnellstraße ziehen endlose Äcker vorbei. Auf manchen Feldern ist die Erde noch rotbraun, auf den meisten aber glänzen schnurgerade Flächen silbrig in der Sonne: Plastikfolien, die das Gemüse schneller wachsen lassen. «Landwirtschaft gab es hier schon immer», erzählt Luengo, «aber bis in die 1970er-Jahre gaben sich die meisten Bauern mit ein paar Olivenbäumen, Weinstöcken und Weizen zufrieden.» Dann wurde der Tajo-Segura-Kanal bis an die Küste verlängert. Er versorgt den ehemals trockenen Landstrich mit Wasser aus Stauseen. Murcia entwickelte sich zu Europas Obst- und Gemüsekammer – mit bis zu vier Ernten pro Jahr. Pedro Luengo drosselt das Tempo. Vor einem der Felder wartet ein Kühlwagen; knapp ein Dutzend Arbeiter in grünen Signalwesten knien in den Furchen, schneiden im Akkordtempo Salatköpfe ab und legen sie in Plastikkisten. Was hier geerntet wird, steht zwei Tage später in den Supermarktregalen Nord- und Mitteleuropas, ein Viertel aller Erzeugnisse geht nach Deutschland. Ganzjährig werden Salat, Tomaten und Paprika geerntet; im Sommer kommen Kirschen, Pfirsiche und Nektarinen hinzu, im Winter auch Zitrusfrüchte. Damit die Pflanzen schnell wachsen, werden Unmengen an Düngemitteln in die Erde gepumpt. «Ein ausgemachter Wahnsinn», so Vicente.

Aus der Vogelperspektive: Eine Straße zieht sich durch die karge Landschaft – auf der rechten Seite liegen abgedeckte Felder.
Auf dem Festland: ein Meer aus Plastikplanen. Bis vor wenigen Jahren zogen sich die Äcker der Agrarindustrie noch bis zum Ufer der Lagune. Foto: Laura León Gómez
Ein Mann in schwarzer Kleidung und mit Sonnenbrille läuft über rote, sandige Erde und betrachtet die Planen auf einem Feld.
Die Plastikplanen ermöglichen bis zu vier Ernten im Jahr – für Umweltschützer Luengo das Sinnbild für die Rücksichtslosigkeit der Agrarindustrie. Foto: Laura León Gómez
Im Vordergrund verläuft eine Landstraße, dahinter erstrecken sich weite Flächen mit aufgewühlter Erde fast bis zum Meer.
Abgeerntet: Viele der Landarbeiterinnen und Landarbeiter sind migrantischer Herkunft und werden nur zur Erntezeit angeheuert. Foto: Laura León Gómez

Wenn Nährstoffe der Fauna den Atem rauben

Weil das Wasser aus dem Kanal nicht mehr ausreicht, bohrten Landwirte immer wieder illegale Brunnen oder stellten auf eigene Faust Entsalzungsanlagen auf. Wenn die Polizei oder Gerichte die Brunnen versiegeln ließen, entstanden an anderer Stelle sofort neue. Die Regionalregierung und die Gemeinden konnten sich nicht zu einer strengen Kontrolle durchringen. Trotz Auflagen wie denen des Natura-2000-Netzes entwickelte die Verwaltung keine wirksamen Schutzmaßnahmen. Und so gelangten mit dem Wasser jahrzehntelang überschüssige Nährstoffe aus der Düngung in die Lagune.

Was hier geschehen ist, liest sich wie die Chronik eines angekündigten Todes.

Pedro Luengo, Umweltaktivist aus Murcia

Das medizinische Protokoll dieses Siechtums liegt auf dem Rücksitz seines Autos. Darin ist akribisch festgehalten, wie das von den Feldern abfließende Wasser den Salzgehalt der Lagune senkt, die mit 44 Gramm pro Liter einst zu den salzhaltigsten Europas gehörte. Schon das verändert das Ökosystem der Lagune massiv. Gleichzeitig jedoch fördern die mitgeführten Nährstoffe das Wachstum von Algen an der Wasseroberfläche. Diese wiederum rauben einer für das Mar Menor charakteristischen Algenart auf dem Grund der Lagune das Licht – sie sterben ab und verfaulen auf dem Boden. Der Sauerstoff wird knapp, Fische und andere Meerestiere ersticken. Eutrophierung lautet der wissenschaftliche Fachbegriff. «Sopa verde» – «grüne Suppe» – nennen es die Menschen am Mar Menor.

Massenhaftes Fischsterben

2016 kippte die Lagune zum ersten Mal. Statt kristallklarem Wasser schwappte über Monate hinweg eine grüne Brühe an die Ufer. Die Regionalregierung ließ die Küstenstreifen notdürftig säubern, die Algen verschwanden von der Oberfläche. Doch 85 Prozent der Meeresflora war bereits abgestorben, das Mar Menor chronisch krank: ein geschwächter Organismus, empfindlicher denn je. Drei Jahre später, im Oktober 2019, gelangten nach heftigen Regenfällen große Mengen an Süßwasser und Nitraten aus den überdüngten Böden in die Lagune. Es kam zum ersten großen Fischsterben. Das Mar Menor, das jahrzehntelang scheinbar klaglos alles geschluckt hatte, war am Ende. Hunderttausende Fische und Meerestiere, die um Sauerstoff rangen, wurden an den Strand gespült und verendeten dort kläglich.

Pedro Luengo scrollt durch die Fotos auf seinem Handy. Ein makabrer Teppich aus toten Grundeln, Garnelen und Tintenfischen bedeckte damals meterbreit den Sand. Das zu sehen habe die Menschen aufgerüttelt, sagt Teresa Vicente: «Wenn du miterlebst, wie das Mar Menor dir aus lauter Verzweiflung sein Innerstes vor die Füße wirft, fühlt sich das an, als begehe es Suizid – und dann stirbt auch etwas in dir.»

Zwei Aufnahmen nebeneinander: links ist ein veralgtes Gewässer zu sehen, rechts tote Fische am Strand.
Tonnen von Nitraten, die täglich ins Mar Menor flossen, führten ab 2015 regelmäßig zur vollständigen Störung der Selbstregulierungsmechanismen der Salzwasserlagune. Das unverhältnismäßige Algenwachstum zog massenhaftes Fischsterben nach sich. Fotos: www.globalassembly.de
Das Wasser in der Brandung ist milchig-trüb – von den Wellen werden abgestorbene Pflanzenreste ans Ufer angeschwemmt.
Geht es dem Mar Menor gut, ist das Wasser kristallklar. Sammelt sich organischer Schlick am Ufer, stehen die Alarmzeichen auf Rot. Foto: sanedor / Adobe Stock
Immer noch sieht man die Spuren: Der Sand an diesem Strand wurde von Hand aufgeschüttet, um ihn für Touristen wieder attraktiv zu machen. Die dunkle Farbe des Sandes ist Zeichen der Zersetzung organischer Stoffe. Foto: Laura León Gómez

Der Kampf um die Heimat beginnt

Dutzende von Sommern hat Teresa Vicente am Mar Menor verbracht. Als Kind tauchte sie mit ihren Geschwistern nach Seepferdchen, hielt den Finger hin, bis eines der Tierchen seinen Schwanz darum wickelte. Als Jugendliche flitzte sie mit ihren Freundinnen im Segelboot über die Lagune. Später, als Jurastudentin, lernte sie im Schatten der Palmen für ihr Examen. «Das Mar Menor war für mich immer mit Freundschaft, Liebe und großem Glück verbunden.»

Bis zum großen Fischsterben 2019. Die Bilder erreichten sie damals an der britischen University of Reading, wo sie als Juniorprofessorin zu den Rechten der Natur in Neuseeland und Lateinamerika forschte. Einige ihrer Studierenden hatten sie ihr geschickt – verbunden mit der Frage: «Wie können wir das Mar Menor zur juristischen Person erklären lassen?» Trotz des Schocks über die Umweltkatastrophe habe etwas in ihr aufgeatmet: Erstmals bot sich ihr die Gelegenheit, ihre theoretischen Ideen in die Praxis, in gültiges Recht umzusetzen.

Ein verschmitztes Lächeln huscht über ihr Gesicht. Jahrelang hatten Fakultätskollegen zunächst die Studentin, dann die Doktorandin und Wissenschaftlerin Vicente belächelt. Nicht nur, dass die rothaarige Frau jeden Tag mit dem Fahrrad zur Uni fuhr, sie hatte sich auch ein Forschungsgebiet ausgesucht, das in keine Schublade passte: ökologische Gerechtigkeit. «Mir wurde gesagt, wenn ich mich so sehr für die Umwelt interessiere, dann solle ich doch zu den Ökologen wechseln.» Um zu diesem Thema überhaupt promovieren zu können, musste sie erst eine Sondergenehmigung vom Ministerium erstreiten. Lediglich ihr verstorbener Vater, ein linker Arbeitsrechtler, habe sie damals unterstützt. «Für ihn waren meine Arbeiten zu den Rechten der Natur die logische Fortsetzung seines Kampfs um Sozial- und Frauenrechte.»

Damit dem Mar Menor Personenrechte zugesprochen werden konnten, erarbeitete Vicente mit ihren Studierenden eine Strategie: In der Region Murcia können Bürgerinnen und Bürger Gesetzesinitiativen ins Parlament einbringen, wenn eine Kommune sowie 10.000 Menschen sie dabei unterstützen. Für ein spanienweites Gesetz sind laut Verfassung mindestens 500.000 Unterstützer notwendig. «Iniciativa Legislativa Popular» – «Gesetzesinitiative aus dem Volk» – nennt sich dieses Verfahren, kurz: ILP. Einen ersten Gesetzesentwurf legte Vicente gleich vor.

Ein Moment des kollektiven Erwachens

Im Herbst 2019, kurz nach der Katastrophe, riefen Bürgerinitiativen fast wöchentlich zu Protestkundgebungen und Mahnwachen auf. Zu einer dieser Veranstaltungen auf der Plaza del Espejo im Küstenstädtchen Los Alcázares hatte man auch die Juraprofessorin eingeladen. Als Vicente von der Idee erzählte, die sie gerade mit ihren Studierenden entwickelt hatte, begannen die Ersten, spontan Unterschriften zu sammeln. Ein Moment des «kollektiven Erwachens» sei das gewesen: «Die toten Fische hatten allen vor Augen geführt, dass das bisherige Umweltrecht dem Mar Menor nicht mehr helfen konnte und wir neue Wege finden mussten.» «Pacto por el Mar Menor», «Ecologistas en Acción», Nachbarschafts- und Anwohnervereine rund um die Lagune: Dutzende Bürgerinitiativen sicherten der Juraprofessorin ihre Unterstützung zu.

Entlang eines Strandes stehen unzählige Menschen mit Gesichtsmaske und Badebekleidung mit den Füßen im Meer.
Sommer 2021: Nach dem zweiten großen Fischsterben umringten 70.000 Menschen die Salzwasserlagune in einer symbolischen Umarmung. Foto: Edu Botella / Imago Images

Der Vorstoß über die Gemeinde Los Alcázares scheiterte am 29. Juli 2020 zwar an Verfahrensfehlern, doch noch am selben Tag fuhr Vicente mit sieben Unterstützern nach Madrid, um die Initiative im Parlament zu registrieren und damit das spanienweite Verfahren einzuleiten. Vier Monate später startete die Kampagne. Spanien hatte gerade einen der europaweit strengsten Corona-Lockdowns hinter sich, die Sorge vor dem Virus steckte den meisten nach wie vor in den Knochen. «Viele hatten immer noch Angst, einen Kugelschreiber anzufassen», erzählt Vicente. Trotzdem unterschrieben in den folgenden zwölf Monaten Menschen in ganz Spanien das Volksbegehren. Auch weil das Mar Menor selbst noch einmal deutlich signalisierte, dass es so nicht weitergehen kann: Im August 2021 verendeten abermals Fische und Krustentiere an den Ufern, worüber landesweit berichtet wurde. Die von Vicente ins Leben gerufene Initiative nahm Fahrt auf.

Hunderttausende Stimmen im Konsens

«Teresa hat es geschafft, den Kampf für das Mar Menor über die Grenzen der Region zu tragen», sagt Pedro Luengo heute. «Dank ihr haben viele begonnen, die Beziehung von uns Menschen zur Natur grundsätzlich neu zu überdenken.» Ende Oktober 2021, noch vor Ablauf der offiziellen Frist, überreichten Teresa Vicente und ihre Mitstreiter siebzehn Kartons mit 639.826 Unterschriften dem spanischen Parlament.

Man hat das Mar Menor als Objekt behandelt, das unbegrenzt ausgebeutet werden kann.

Prof. Teresa Vicente, Rechtsphilosophin an der Universität Murcia

Fünf Monate später lädt der Umweltausschuss sie nach Madrid. Trotz einer schlaflosen Nacht trägt sie mit ruhiger, fester Stimme die Gründe für die ILP vor: das Scheitern der bisherigen Umweltauflagen, die mangelnde politische und juristische Kontrolle. «Man hat das Mar Menor als Objekt behandelt, das unbegrenzt ausgebeutet werden kann», sagt sie. «Nur der stärkste juristische Schutz ist in der Lage, ihm noch zu helfen: Es muss daher vom Objekt zum Subjekt werden und eigene Rechte erhalten.» Klar und nüchtern umreißt sie die Tragweite des Gesetzes: «Die Rechte des Mar Menor werden andere Rechte beschneiden: etwa das Recht auf Eigentum, die unternehmerische Freiheit und das Streben nach wirtschaftlichem Wachstum.»

Die Abgeordneten machen sich Notizen, es gibt ein paar vorsichtige Nachfragen nach möglichen Entschädigungen und juristischen Unsicherheiten. Doch bis auf die rechtsextreme Vox, die zu einer Brandrede über «linksextremistischen Klimafanatismus» ansetzt, sichern alle Parteien der Gesetzesinitiative ihre Unterstützung zu – selbst die konservative Volkspartei Partido Popular, die in der Region Murcia seit fast dreißig Jahren das Sagen hat und die exportorientierte Agrarindustrie vehement als Wohlstandsgaranten verteidigt.

Ein neuer Weg erkennt die Rechte der Natur an

Anfang April 2022 verabschiedet das Parlament das Gesetz, im September passiert es den Senat. Mit ein paar Dutzend Unterstützern hat Teresa Vicente damals einen Bus gechartert, um die Abstimmung live vor dem spanischen Oberhaus mitzuverfolgen. Ein paar haben Trommeln und Rasseln mitgebracht, andere sind als Seepferd­chen verkleidet. Als der Senat grünes Licht gibt,­ fallen sich die Aktivisten in die Arme und skandieren «Si, si, si. La ley está aquí», «Ja, das Gesetz ist endlich da». Teresa Vicente reißt die Arme in die Luft und hüpft im Takt auf und ab. «Mit diesem ILP haben wir in Europa einen Weg für die Anerkennung der Rechte der Natur geebnet», sagt sie heute. 

Von oben: brachliegende Felder erstrecken sich in einem Korridor bis zum Meer, seitlich davon stehen Wohnsiedlungen.
Die graubraune Färbung der Felder am Ufer ist ein gutes Zeichen: Die Äcker werden nicht mehr bewirtschaftet und sukzessive renaturiert. Foto: Laura León Gómez
Unter einem weitläufig aufgespannten Dach aus Planen ist die Vegetation ausgedörrt und weitestgehend abgestorben.
Die Gewächshäuser direkt in Ufernähe sind verlassen. Doch die Betreiber haben sich vor der Demontage bisher gedrückt – und die Kontrollen sind nur lax. Foto: Laura León Gómez
Ein Fluss unterquert eine Betonbrücke und führt dabei kaum noch Wasser – der Pegelstand liegt unter zehn Zentimetern.
«Stoppt die Verklappung ins Mar Menor» steht an der Kanalmauer. Eigentlich sollte der Fluss Rambla del Albujón nur bei starken Regenfällen Wasser führen. Doch weil die Felder bewässert werden, fließt das Wasser unablässig. Foto: Laura León Gómez

Mit Blick auf die Uhr treibt die Juristin zur Eile. Wir fahren zu einem Interviewtermin in Los Alcázares, wo die Bewegung vor fast fünf Jahren ihren Anfang nahm. Eine Regionalzeitung plant zum Weltfrauentag eine Reportage über «das weibliche Mar Menor». Neben Vicente sind Celia Martínez, Sprecherin des «Pacto por el Mar Menor», der ältesten Bürgerinitiative zum Schutz der Lagune, und Maria Cruz Ferreira, Umweltbeauftragte der Regionalregierung Murcia, eingeladen.

Die kurze Begegnung der drei Frauen an der Strandpromenade zeigt, dass der Kampf um die Rechte des Mar Menor noch lange nicht ausgefochten ist. Der Smalltalk mit Ferreira wirkt etwas bemüht. Als die Politikerin davon spricht, wie wichtig es sei, auch die Agrarindustrie und den Tourismus in den Schutz des Mar Menor einzubeziehen, zieht Vicente mehrfach die Augenbraue hoch. Die Regionalregierung habe bisher noch nicht einmal die bestehenden Vorschriften umgesetzt, erklärt sie uns später.

Der Kampf ist noch lange nicht ausgefochten

Tatsächlich hat die Anerkennung der Lagune als juristische Person bisher noch keine positiven Folgen für das Mar Menor. Nach wie vor läuft unablässig nitratbelastetes Wasser in die Lagune; über einen Grüngürtel rings um das Mar Menor, der nach Vorgabe des Umweltministeriums den Abstand zwischen landwirtschaftlich genutzten Flächen und der Lagune vergrößern soll, wird seit fast drei Jahren verhandelt. Und immer wieder gelingt es Landwirten, sich Entschädigungsforderungen für Umweltdelikte zu entziehen. Die Verfahren dauern teils mehr als zehn Jahre. «Für mich symbolisiert der neue Status vor allem unsere tiefe Verbundenheit mit dem ‹kleinen Meer›», sagt die Aktivistin Celia Martínez. «Um Umweltsünder wirksam in die Schranken zu weisen, muss das Gesetz aber noch konkretisiert werden.»

Dabei geht es auch um die Frage, wer für das Mar Menor sprechen darf. Laut Artikel 3 des «Gesetzes über die Rechte des Mar Menor und seiner Einzugsgebiete» wird die Lagune von drei Kommissionen vertreten: einem repräsentativen Gremium, besetzt aus Vertretern der Regional- und Zentralregierung sowie der Zivilgesellschaft, einem «Komitee der Wächterinnen und Wächter», das den Zustand des Mar Menor ständig überwacht, und einem unabhängigen wissenschaftlichen Rat. Über die Richtlinien wird jedoch gestritten, noch hat sich keine Kommission konstituiert.

Die Stimme des Mar Menor wird bald überall zu hören sein.

Prof. Teresa Vicente, Rechtsphilosophin an der Universität Murcia

Ist das Gesetz also ein zahnloser Tiger, die Anerkennung der Personenrechte nicht mehr als eine schöne Idee? Teresa Vicente schüttelt energisch den Kopf. «Der wichtigste Artikel ist Artikel 6!» Denn danach kann auch jede Bürgerin, jeder Bürger die Lagune vor Gericht vertreten. Tatsächlich hat ein Untersuchungsrichter aus Cartagena das Mar Menor bereits vorgeladen, als Betroffener in drei Strafsachen. Dass das «kleine Meer», vertreten durch zwei Umweltorganisationen, tatsächlich angehört wird, hält die Juristin für einen guten Anfang. Sie ist sich sicher: «Die Stimme des Mar Menor wird bald in allen Instanzen und allen Rechtssystemen zu hören sein – nicht nur wie bisher im Verwaltungs- und Strafrecht, sondern auch im Zivilrecht.» Vicente hält das für eine geradezu kopernikanische Wende. Denn als Rechtssubjekt kann die Salzwasserlagune zum Beispiel prüfen lassen, ob es ihre Rechte verletzt, wenn ein Agrarunternehmen Nutzflächen zukaufen oder eine Kommune Düngeverordnungen neu festgelegen will. «Sie kann endlich in ihrem eigenen Interesse handeln», so die Rechtsphilosophin. «Und das ist letztlich im Interesse aller.»

Die Frau mit den roten Haaren steht mit anderen Personen in einer Galerie und hat ein sanftes Lächeln im Gesicht.
Die Universität Murcia ehrt engagierte Akademikerinnen mit einer Ausstellung – eine der Geehrten ist die Rechts­philosophin Teresa Vicente. Foto: Laura León Gómez
Zwischen rot-grünen Trieben mit sternförmigen, handgroßen Blättern steht ein Mann mittleren Alters mit Zopf.
Die Rizinus-Bäumchen sprießen kräftig. Dass die Landwirtschaft sich der Natur anpassen muss und nicht umgekehrt, ist für David Andreu, den Mitbetreiber der Finca «La Cesta de Juan», selbstverständlich. Foto: Laura León Gómez

Auf dem Weg zu nachhaltigerer Landwirtschaft

Ob das alle verstehen? Auch diejenigen, die die Ausbeutung des Ökosystems reich und mächtig gemacht hat? Schulterzucken. «Sie werden es irgendwann verstehen müssen.» Es ist Abend geworden, die untergehende Sonne taucht das Mar Menor in ein leuchtendes Orange. Teresa Vicente will zurück in die Stadt, zum allabendlichen Besuch bei ihrer Mutter. Pedro Luengo diktiert uns noch schnell ein paar Telefonnummern ins Handy: Kontaktdaten «von Menschen, die schon verstanden haben, worum es geht».

Einen von ihnen besuchen wir am nächsten Tag. Die kleine Finca von Juan Jesús Meroño liegt im Landesinneren, im Flickenteppich der Plastikzelte und Zitrusplantagen. Vor zehn Jahren hat Meroño einen Garten angelegt, in dem gezielte Fruchtfolgen für stetigen Humusaufbau sorgen. Ringsum stehen Orangenbäume in Reih und Glied. Hier sprießen Obst und Gemüse in wohlüberlegter Vielfalt: Mangold neben Fenchel, Rotkohl neben Sellerie, dazwischen ein paar Rizinus-Bäumchen. Die Pflanzen sind so ausgesucht, dass sie sich in ihrem Nährstoffbedarf und ihren Lebenszyklen ergänzen. So entsteht ausreichend Biomasse, die Bodenqualität steigt, der Wasserbedarf dagegen sinkt sukzessive – und gedüngt werden muss auch nicht.

Wenn der Boden sich regeneriert hat, soll die künstliche Bewässerung ganz wegfallen und der natürliche Regen ausreichen: Trockenfeldbau, wie ihn noch Meroños Großeltern betrieben. Noch gibt es nur eine Handvoll Landwirte, die so wirtschaften wie er. Aber es würden immer mehr, aus purer Notwendigkeit. «Nur wenn wir die Grenzen unseres Ökosystems respektieren, können wir langfristig in und mit ihm leben.» Und dann sagt er den Satz, den auch Teresa Vicente stets wiederholt hat: «Das Mar Menor, das sind wir alle!»

 

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01. August 2024 | Energiewende-Magazin