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Aus Licht wird Solidarität

Ein Bericht von Svenja Beller

Eine Genossenschaft installiert Solarpanels auf den Dächern sozialer Einrichtungen in Portugal – und zeigt, wie Bürgerenergie Gemeinsinn stiftet.

Es ist ein ungewöhnlicher Tag in einem ungewöhnlichen Winter, als João Braga Lopes und Alekson Dias da Luz die schmale Treppe zum Dach einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung erklimmen und die Tür nach außen öffnen. Ein ungewöhnlicher Tag, der Himmel ist wolkenverhangen – eine Seltenheit in letzter Zeit. Ein ungewöhnlicher Winter, weil es auch aus diesen Wolken einfach nicht regnen will. In Portugal herrscht eine extreme Dürre, mehr als 90 Prozent des Landes haben zu wenig Wasser, und das mitten im Winter, wenn eigentlich die großen Regengüsse fallen sollten.

Die beiden Mittzwanziger Lopes und Luz sind Mitarbeiter der Energiegenossenschaft «Coopérnico» in Lissabon. Die Genossenschaft hatte solche Dürren schon vor Jahren prognostiziert, als die portugiesische Regierung einen Wasserkraftdamm nach dem anderen errichten ließ. Anfang Februar 2022 mussten fünf der rund sechzig Wasserkraftwerke im Land den Betrieb einstellen, weil die Stauseen nach und nach austrocknen. Aus einigen von ihnen ragen nun wieder die Ruinen der Dörfer heraus, die für die Dämme einst geflutet worden waren.

Soziale Einrichtungen setzen auf Solarstrom

Es steckt wenig Genugtuung darin, mit der Voraussage von Krisen Recht behalten zu haben – deutlich befriedigender ist es jedoch, eine Lösung dafür anbieten zu können. Coopérnico setzt auf eine Kraft, die auch in Zeiten der Dürre nicht versiegt: die Sonne. Auf dem Dach, auf dem Lopes und Luz nun stehen, schimmern normalerweise 122 Solarmodule im grellen Sonnenschein, doch heute nur in dem fahlen Licht, das es durch den grauen Wolkenschleier schafft – klassischer Vorführeffekt. Bei voller Sonnenernte können die Anlagen 30 Kilowattstunden Strom erzeugen; damit ließe sich beispielsweise die tägliche Stromversorgung von vier portugiesischen Familien mit jeweils zwei Kindern decken. Der Strom wird in das öffentliche Netz eingespeist – zumindest im Moment noch. In ein paar Jahren wird das Zentrum für Menschen mit Behinderung ihn selbst verbrauchen können.

Zwei junge Männer posieren symphatisch lächelnd neben Photovoltaikmodulen auf einem Dach in Lissabon.
Mit ihrer Arbeit möchten Alekson Dias da Luz (li.) und João Braga Lopes die Energielandschaft Portugals verändern. Foto: Ana BrÍgida
In einem Treppenhaus hängt eine große Sonne aus Pappmaschee. Weiter unten steht ein Mann hinter einer Ballongirlande.
Im Treppenhaus des «Centro Júlia Moreira» erinnert eine riesige Sonne aus Pappmaschee an die Solarmodule auf dem Dach der Einrichtung. Foto: Ana BrÍgida
Ein Mensch mit Behinderung sitzt mit zwei Pflegerinnen des Centro  an einem Tisch, hinter ihm eine Fototapete mit Karibikstrand.
Im «Centro Júlia Moreira» basteln und werkeln Menschen mit Behinderung in kleinen Arbeitsgruppen. Foto: Ana BrÍgida
Mitarbeiter der Einrichtung  begegnen zahlreichen Bewohnern auf einem langgezogenen Flur.
Begegnung auf dem Gang: Luís Besugo und Catarina Simões werden von den Bewohnern begrüßt. Foto: Ana BrÍgida

Das «Centro Júlia Moreira», in dem 14 Menschen wohnen und weitere 81 tagsüber betreut werden und arbeiten, steht im Westen Lissabons im Stadtteil Penha de França, weit entfernt vom mondänen Platz Praça do Comércio in der Innenstadt, von den Restaurants und Bars in den verwinkelten Pflastersteingassen oder den Straßenmusikern an den beliebten Aussichtspunkten. In diesem Teil der Stadt ragen schmucklose Plattenbauten in den Himmel, hierher verirren sich keine Touristen, durch die ruhigen Wohnstraßen tönen die Rufe von Tauben und Möwen. Das rosafarben angestrichene Zentrum ist Teil der «Associação Portuguesa de Pais e Amigos do Cidadão ­Deficiente Mental» (Portugiesische Vereinigung der Eltern und Freunde geistig behinderter Bürger), deren Emblem aus zwei Kerzen besteht, eine mit großer und eine mit kleiner Flamme: Die Starken helfen den Schwächeren. Der Vereinigung gehören fünf Institutionen an, darunter eine Kindertagesstätte und Zentren zur beruflichen Fortbildung. Und auf jedem ihrer Dächer fangen Solarmodule die Sonnenstrahlen ein.

Zehn Jahre Engagement für die Energiewende 

So sieht Coopérnicos Idee von einer dezentralen und so­zialen Stromversorgung aus. Die Energiegenossenschaft ist die erste und bislang einzige ihrer Art in Portugal, gegründet wurde sie 2013 von Nuno Brito Jorge. Der war damals gerade aus Barcelona zurückgekehrt, wo er die katalanische Energiegenossenschaft «Som Energia» kennengelernt hatte. Etwas Vergleichbares gab es in Portugal nicht, und so scharte er 16 Kollegen und Freunde um sich – viele davon aus der Umweltschutzbewegung –, um die erste Energiegenossenschaft des Landes zu gründen. Eine davon ist Ana Rita Antunes: Sie arbeitete damals für die portugiesische Naturschutzorganisation «Quercus», nun ist sie leitende Koordinatorin von Coopérnico. Ihr dortiges Aufgabenfeld beschreibt sie so: «Ich mache alles» – und lacht.

Eine Anschubförderung erhielt die Genossenschaft von anderen Energiegenossenschaften aus Belgien, den Niederlanden und Spanien, organisiert wurde sie von «REScoop», dem europäischen Verband der Genossenschaften für Erneuerbare Energien. Coopérnicos Ziel: klimafreundlichen Strom mit sozialen Projekten zu verbinden. Dafür suchte die Genossenschaft nach sozialen Einrichtungen wie dem Centro Júlia Moreira, um auf deren Dächern Solarpanels zu installieren. Die Vereinbarung ist schnell erklärt: Coopérnico kann die Fläche nutzen, die Institutionen erhalten eine monatliche Miete dafür – und nach 15 Jahren dürfen sie den Strom der Anlage für sich selbst verwenden.

Für mich ist es sehr motivierend, etwas für den gemeinschaftlichen Nutzen zu tun.

João Braga Lopes, Kommunikations- und Projektleiter bei «Coopérnico» in Lissabon
Alekson Dias da Luz bei der Arbeit Foto: Ana BrÍgida

Alekson Luz, der bei Coopérnico die technische Überwachung der Solaranlagen verantwortet, liest mittlerweile die Leistung der Dachmodule ab. «Niedrig heute», sagt er – klar, die Wolken! Luz, dessen Name passenderweise «Licht» bedeutet, kontrolliert anschließend mit seinem Kollegen Lopes die Transformatoren. Diese hängen hinter einer weiteren Tür auf dem Dachboden an der Wand. Ein Bündel bunter Kabel führt von ihnen nach oben zu den Modulen. Luz ist zufrieden, denn es liegen keine Fehlermeldungen vor. Gibt es welche, werden sie ihm per App angezeigt. Er muss dann nicht selbst zu den Anlagen ausrücken, sondern beauftragt in der Regel Techniker in der Nähe damit. Dass er Anlagen persönlich besucht, ist eine Ausnahme – heute macht er das uns zuliebe. Luz arbeitet genau wie sein Kollege seit einem Jahr aus Überzeugung für Coopérnico. «Für mich ist es sehr motivierend, etwas für den gemeinschaft­lichen Nutzen zu tun. Mit vereinten Kräften nehmen wir den großen Unternehmen die Macht», erklärt Lopes. «Und Solarenergie stellt eine große Hoffnung für die Energiewende dar», ergänzt er. Wieder zurück auf dem Dach können die beiden bis auf den Tejo schauen, den breiten Fluss, an dessen Ufer sich Lissabon schmiegt.

Aus Projektpartnern werden Energiegenossen

«2014 gehörten die Projekte in unseren Einrichtungen zu den ersten, die Coopérnico umgesetzt hat», erzählt Luís Besugo, verantwortlich für die Unternehmensentwicklung der Vereinigung, in einem Raum zwei Stockwerke tiefer. An den Wänden hängen bunte Collagen und Fotos der Bewohnerinnen und Bewohner, an einem Schrank klebt das Bild eines Regenbogens mit den Worten «vai ficar tudo bem» – «alles wird gut». Zwei Jahre zuvor habe Coopérnico ihn erstmals kontaktiert, noch ein Jahr vor der offiziellen Genossenschaftsgründung, erzählt Besugo – der gleich dermaßen überzeugt davon war, dass er prompt selbst Genossenschaftsmitglied wurde.

«Ich fand sofort, dass das eine gute Idee ist», erinnert sich Luís Besugo, groß gewachsen, mit freundlichen Augen hinter einer randlosen Brille. «Unserer Institution ist es wichtig, für die Gemeinschaft zu arbeiten», erklärt er. «Und ein Beitrag zum Klimaschutz dient dieser Gemeinschaft.» Den Ausbau der Solarenergie zu fördern ist für ihn deswegen ein zutiefst soziales Anliegen. Besugo und seine Kolleginnen und Kollegen zögerten nicht lange: Bereits etwas mehr als ein Jahr nach dem Erstkontakt waren die Panels auf dem Dach, nun können sie sich über die zusätzlichen Mieteinnahmen freuen.

Das größte Problem ist es, Dächer zu finden.

Ana Rita Antunes, Energiegenossenschaft «Coopérnico» in Lissabon

Längst nicht jede Einrichtung ist so entscheidungsfreudig. «Als ich angefangen habe, bei Coopérnico zu arbeiten, dachte ich, das größte Problem wäre, genug Geld aufzutreiben», sagt Ana Rita Antunes, die Projekt­ko­ordinatorin. «Aber ich habe mich geirrt. Das größte Problem ist es, Dächer zu finden.» Dabei müssen die Insti­tutionen, die ihre Dächer zur Verfügung stellen, keinen Cent für die Solaranlagen bezahlen, ganz im Gegenteil: Sie bekommen Miete für eine bislang ungenutzte Fläche, und nach 15 Jahren sinken ihre Betriebskosten erheblich, wenn sie den Strom der Module selbst nutzen können.

Dass sich viele Einrichtungen trotzdem gegen das Angebot von Coopérnico entscheiden, erklärt sich Antunes so: «Die Photovoltaikanlagen sind eine Entscheidung für die nächsten 25 Jahre» – denn so lange ist die durchschnitt­liche Lebenszeit der Module. «Viele scheuen davor zurück, eine derart weitreichende Entscheidung zu fällen.» Außerdem fänden einige die Panels hässlich. «Aber wie schön ist denn der Schornstein eines Kohlekraftwerks?», fragt sie herausfordernd. Die Dringlichkeit, auf Erneuerbare Energien umzusatteln, ist wohl noch nicht bei allen angekommen. Sie atmet tief durch – wie so oft, sagt sie, weil sie vieles so aufrege.

Ana Rita Antunes steht vor einem bunten Wandmosaik und blickt lächelnd in die Kamera.
Ana Rita Antunes, von Beginn an bei «Coopérnico» dabei, engagiert sich auch privat für den Umweltschutz. Foto: Ana BrÍgida

Energiewende mit angezogener Handbremse

Sie ist an diesem Donnerstagnachmittag in die «Biblioteca Orlando Ribeiro» ganz im Norden Lissabons im Stadtteil Telheiras gekommen, ein weiß gestrichenes Gebäude, in dessen Innenhof ein Café seine Tische und Stühle aufgestellt hat. Eingeladen wurde sie von einer lokalen Bürgerinitiative, die eine sogenannte Energiegemeinschaft gründen möchte, Antunes soll ihr dabei helfen. Die Initiative will selbst Energie produzieren und verwalten – und die Kosten und Gewinne teilen. 2019 hat die portugie­sische Regierung ein Gesetz verabschiedet, das solche Energiegemeinschaften ermöglichen soll. «Doch bis heute gibt es keine einzige davon, weil das Gesetz so schlecht gemacht ist», kritisiert Antunes. Es sei zu kompliziert, kein Mensch blicke bei diesem Gesetz durch. Ein weiterer Grund, tief durchzuatmen. In ihren Augen leiste die Regierung zu wenig für eine Wende hin zu einem wirklich nachhaltigen, demokratischen und sozialen Energiesystem.

Dabei gilt Portugal europaweit sogar als ein Vorbild im Vorantreiben der Energiewende: Mehrfach hatte das Land seinen Ausstieg aus der Kohlekraft von ursprünglich dem Jahr 2030 auf 2023 und schließlich auf 2021 vorverlegt. Im Januar letzten Jahres hatte der ehemals staatliche und seit einigen Jahren privatisierte Betreiber «Energias de Portugal» (EDP) das Kraftwerk in Sines im Süden des Landes vom Netz genommen, im November folgte das letzte Kraftwerk «Pego» im Zentrum Portugals. Als Gründe für den vorgezogenen Ausstieg nannte EDP unter anderem die gestiegenen Preise im europäischen Emissionshandel und hohe Steuern.

Portugal wurde damit nach Belgien, Schweden und Österreich zum vierten Land Europas, das aus der Kohle ausgestiegen ist – Deutschland hat diesen Schritt für frühestens 2035 geplant. Ende 2021 kamen laut der portugiesischen Energieagentur «Adene» 73 Prozent des portugiesischen Stroms aus erneuerbaren Quellen, der Rest wurde in Gaskraftwerken mit importiertem Gas generiert – Portugal besitzt keine natürlichen Gas-, Öl- oder Kohlevorkommen, fossile Energieträger bezieht das Land am südwestlichsten Zipfel Europas per Schiff.

Widerstand gegen Energiewende-Großprojekte

Den größten Anteil an den erneuerbaren Energie­trägern hatten 2020 die Wind- und die Wasserkraft mit je gut 40 Prozent, Biomasse machte knapp 12, Solarenergie nur knapp 5,5 Prozent aus – eigentlich absurd in einem Land, über dem die Sonne fast immer scheint. «Aber nicht die Sonnenstunden sind der entscheidende Faktor, sondern die politischen Maßnahmen», sagt Ana Rita Antunes. Politisch gefördert werden vor allem große Solarparks in Investorenhänden – sie liefern in Portugal derzeit doppelt so viel Energie wie kleine Anlagen.

In einer hügeligen Landschaft steht ein Umspannwerk. Dahinter reihen sich zahlreiche Windräder über die Hügelkette.
Im Gegensatz zur Solarenergie boomt in Portugal der Ausbau der Windkraft: Ihr Anteil am Strom aus Erneuerbaren Energien betrug 2020 rund 40 Prozent. Auf dem Bild sieht man den Windpark «Mendoiro-Bustavade». Foto: Zuma Press Inc. / Alamy Stock

Der erste portugiesische Solarpark war 2008 mit einer Kapazität von 46 Megawatt kurzzeitig sogar der größte weltweit, gerade sorgt das nächste Megaprojekt für Aufruhr: In dem zentralportugiesischen Distrikt Port­alegre soll ein neuer Solarpark entstehen, mehr als 1.000 Korkeichen müssen dafür weichen – die Bäume sind in Portugal geschützt und dürfen eigentlich nur gefällt werden, wenn sie krank oder tot sind. Die Anwohnerinnen und Anwohner protestieren deswegen dagegen.

So stellt sich Coopérnico die Energiewende nicht vor. «Wir müssen die Menschen mit einbeziehen», sagt ­Antunes. Die Genossenschaft macht das im Kleinen vor: Mehr als 2.300 Mitglieder sind ihr seit der Gründung 2013 beigetreten, sie können die Arbeit von Coopérnico mitgestalten und etwa in den landesweit verteilten Lokalgruppen die Ziele und die Arbeitsweise der Genossenschaft publik machen, Strom über die Genossenschaft beziehen oder in neue Projekte investieren.

Wie gut Letzteres funktioniert, zeigte sich beispielsweise Ende 2020, als zwölf Mitglieder innerhalb von fünf Minuten ein 22.000 Euro teures Solarprojekt in Tavira an der Südküste Portugals finanzierten. Für jede Investition erhalten sie drei Prozent Rendite, 32 Projekte mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von mehr als 1,8 Millionen Euro konnte Coopérnico so schon umsetzen. Seit Lissabons Regierung 2019 die Einspeisevergütung für Solarenergie von 100 auf 45 Euro pro Megawattstunde kürzte, initiiert die Genossenschaft keine Projekte mehr, die Strom ins Netz einspeisen, weil es sich finanziell nicht mehr lohnt. Stattdessen wird der Solarstrom bei den aktuellen sieben Projekten von den Institutionen selbst verbraucht – wie im Fall von Tavira. Dort nutzen nun eine Kindertagesstätte und eine Krippe den Strom, der von den Solaranlagen auf ihren Dächern erzeugt wird.

Die Menschen hier sind es immer noch nicht gewohnt, sich demokratisch einzubringen.

Ana Rita Antunes, leitende Koordinatorin von «Coopérnico» in Lissabon

Die Änderung der Einspeisevergütung macht es der Genossenschaft noch schwerer, Partnerinstitutionen zu finden, denn den Strom selbst zu verbrauchen ist nicht immer die beste Lösung: Die Betreiber von vornehmlich abends genutzten Sporthallen etwa müssten den tagsüber generierten Strom zwischenspeichern und dann wieder einspeisen – aber Speichersysteme sind noch immer teuer. 

Blick ins Arbeitszimmer der Genossenschaft, vier Mitarbeiter sitzen um einen großen Arbeitstisch herum.
Saubere Energie für ein Land, in dem die Sonne fast immer scheint – diese Vision verbindet João Lopes, Alekson Luz, Catarina Pereira und Ana Rita Antunes (v. l. n. r.). Foto: Ana BrÍgida

Trotz solcher Hürden wächst Coopérnico weiter: 2016 konnte die Genossenschaft ihre Startfinanzierung an die anderen europäischen Energiegenossenschaften zurückzahlen, letztes Jahr hat sie selbst der griechischen Energiegenossenschaft «Hyperion» Starthilfe geleistet. Im europäischen Vergleich sind Coopérnicos Dimensionen allerdings immer noch recht klein: In Deutschland gestalten mehr als 800 Energiegenossenschaften mit insgesamt rund 200.000 Mitgliedern den Strommarkt mit. Ana Rita Antunes vermutet kulturelle Gründe dahinter, warum die Idee von Coopérnico in Portugal bislang keine Nach­ahmer gefunden hat: «Unsere Demokratie ist gerade einmal 48 Jahre alt, die Menschen hier sind es immer noch nicht gewohnt, sich demokratisch einzubringen.»

Energiearmut – und der Ausweg daraus

Dabei bräuchten viele Menschen in Portugal dringend finanzielle Unterstützung oder selbst erzeugte Energie, denn im europäischen Vergleich sind sie mit am stärksten von Energiearmut betroffen. Das macht sich vor allem im Winter bemerkbar: Die Häuser sind schlecht isoliert und besitzen selten Heizungen, die meisten heizen notdürftig mit kleinen Heizlüftern oder Elektroheizungen. Knapp ein Fünftel der Portugiesen ist laut einer EU-Umfrage nicht in der Lage, seine Wohnungen im Winter ausreichend warm zu halten – nur in Litauen, Bulgarien, Zypern und der Türkei sind es mehr. 

Die Strompreise sind gemessen an dem niedrigen Durchschnittseinkommen hoch, die Regierung führte deswegen im vergangenen Jahr einen Sozialstromtarif für Geringverdiener ein. Für Ana Rita Antunes ist das der falsche Weg: «Das ist, als würden Sie Geld für Medikamente bekommen, um die Symptome Ihrer Krankheit zu behandeln, aber nicht die Ursache.» Coopérnico fordert daher die Einrichtung einer landesweiten Beobachtungsstelle für Energiearmut – zudem koordiniert die Genossenschaft das EU-Projekt «Powerpoor» in Portugal, in dessen Rahmen man einkommensschwächere Haushalte unterstützt. Ihnen werden Verhaltensänderungen beim Energieverbrauch und kostengünstige Energieeffizienzmaßnahmen vorgeschlagen, außerdem wird ihnen bei der Suche nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten geholfen. In den Städten Ermesinde, Mértola und Lissabon richtete Coopérnico zudem im Rahmen des Projekts Energie­beratungsbüros ein.

Alle nach ihren Möglichkeiten

Luís Besugo und seine Kollegin Catarina Simões Foto: Ana BrÍgida

Die Starken helfen also den Schwächeren, wie auch im Centro Júlia Moreira. Luís Besugo und seine Kollegin Catarina Simões drehen dort noch eine letzte Runde durchs Haus. Auf den Fluren fallen ihnen manche der Bewohner stürmisch um den Hals. «Das dürfen wir doch nicht, wegen Covid», flüstert ihnen Simões lächelnd zu und zupft ihnen die verrutschten Masken zurecht. Im Eingangsbereich prangt eine große goldene 60 von der Wand, umgeben von blauen, weißen und gelben Luftballons – die Institution hat gerade ihr 60-jähriges Jubiläum gefeiert. In einem der Arbeitsräume steckt eine Gruppe von Personen Plastikteile für eine Elektronikfirma zusammen, im nächsten werden Bilder für eine Aufzugsfirma gemalt – Geschenke, gedacht als Entschuldigung für die Menschen, die in den Aufzügen des Herstellers stecken geblieben sind. Und in der Typografiewerkstatt fertigen ein paar Leute Papieranhänger für die portugiesische Airline «TAP» an – alle nach ihren Möglichkeiten. 

In sieben Jahren wird der Sonnenstrom vom Dach dann mit für die Beleuchtung und den Betrieb der Radios sorgen, die in den Räumen fast den ganzen Tag laufen. Das wird vor allem die hohe Stromrechnung des Zentrums erheblich senken. Den Menschen mit Behinderung können sie das leider nicht erklären, es wäre einfach zu kompliziert für sie, bedauert Catarina Simões. Immerhin erinnert im Treppenhaus eine große Sonne aus Pappmaschee daran, was oben auf dem Dach passiert.

Noch ist die Solaranlage dort nur eine Keimzelle für die dezentrale, nachhaltige und soziale Stromversorgung, die Coopérnico sich erträumt. Und so lange sie die einzige Energiegenossenschaft des Landes ist, wird dies wohl vorerst ein Traum bleiben. Doch davon lassen sich Ana Rita Antunes und ihre Mitstreiter nicht entmutigen. Für die Portugiesen ist es nicht allzu lange her, dass sie sich friedlich von ihrer Diktatur befreiten. Damals war es die «Revolution der Nelken» – der nächste Meilenstein könnte eine Revolution der Sonne werden.

 

Den Bericht haben wir auch auf Englisch veröffentlicht.

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16. Juni 2022 | Energiewende-Magazin