Alles im Fluss
Ein Bericht von Tom Jost
Ein Arzt aus dem Sauerland hat jede Menge alter Wasserkraftwerke gerettet. Doch die klimaschonenden Kleinanlagen stoßen nicht bei allen auf Gegenliebe.
Auf dem alten Schwarzweißfoto von 1994 ist eigentlich nichts so, wie es sein sollte: Von den ehemals vier Hallenwänden ist nur noch eine als Fragment vorhanden, die Generatoren sind ausgeweidet, eine Turbine wurde von Schrotthändlern ausgebaut; lediglich die Antriebswellen ragen noch als Stümpfe aus der Wand. Das alte Wasserkraftwerk der Westfälischen Zellstoff AG im sauerländischen Wildshausen sollte in der Konkursmasse eigentlich erhalten bleiben, wurde dann aber quasi «aus Versehen» fast komplett abgerissen. Übrig blieben nur die Grundmauern.
Wie kann man nur so etwas kaufen? «Ach – man muss einfach Optimist sein!», sagt Bernd Walters und dreht sich auf derselben Stelle, wo er 28 Jahre zuvor noch «ziemlich bedröppelt» dreinschaute und ein Mitarbeiter der festen Meinung war, dass da ja wohl nichts mehr zu retten sei. Doch zweieinhalb Jahre später stand die Halle an der Ruhr wieder: Die Turbine aus der Chemnitzer Maschinenfabrik Germania AG von 1920 rotierte und lieferte mit zwei weiteren Rädern insgesamt 700 Kilowatt Leistung in der Spitze. «Vor der Arbeit in der Praxis war ich jeden Tag zwei Stunden hier, in der Mittagszeit und am Abend noch einmal. Mein Vater war Pensionär und hat auch geholfen. Aber das komplette Tragwerk des Dachs mit allen Stahlkonstruktionen habe ich ganz alleine zusammengeschweißt.» Als Mediziner, wohlgemerkt.
Strom für eine ganze Kleinstadt – aus privater Hand
Es war längst nicht das erste Kleinod aus vergangenen Tagen, das Bernd Walters, Betriebsarzt in Brilon und inzwischen 68 Jahre alt, kaufte, reparierte, wie ein eigenes Baby betreute und für die Wasserkraft zurückgewann. Die Initialzündung erfolgte an der Stadtmühle Rüthen, die 1760 als Getreidemühle an der Möhne eingetragen und mitten im Zweiten Weltkrieg mit einer Turbine ausgerüstet wurde. Alles stand still und war zum Abbruch vorgesehen; der Mühlengraben sollte mit dem Bauschutt verfüllt werden, der Verkäufer verlangte 100.000 Mark. Walters, damals junger Assistenzarzt, vereinbarte Ratenzahlung und kaufte mitten in der Generalsanierung eine weitere alte Ölmühle mit Wasserkraft hinzu. Weil es immer so weiterging, war der «Wasserkraft-Doc», wie man ihn gerne hügelauf und landab nennt, schließlich Eigner von zwölf alten, kleinen Wasserkraftwerken und zwischenzeitlich zudem Mitbesitzer von sieben weiteren. Die 20 Millionen Kilowattstunden lupenreinen Ökostroms aus all diesen Anlagen versorgten 6.000 bis 8.000 Haushalte. Erzeugt von einer Privatperson mit zeitweiligem Partner.
In meiner Heimat war Wasserkraft die Quelle des Wohlstands.
Die Begeisterung für Wasserkraft und alte Maschinen hat Bernd Walters von seinem Großvater geerbt. Dessen Vater wiederum war einst Betriebsleiter einer großen Weberei in Schlesien, die sich wie viele andere Industriebetriebe im späten 19. Jahrhundert an einem Fluss ansiedelte, aus dessen Kraft man elektrische Energie erzeugen konnte. In der Werkswohnung des Urgroßvaters hatte man schon Lichtstrom, «wo die anderen Leute nur Kerzen und Ölfunzeln besaßen. Das hat meinen Opa fasziniert: Strom aus Wasserkraft machen ist toll. Und deshalb nahm er mich oft zu den Mühlen mit.» Auch im Sauerland, ergänzt Walters, sei die Wasserkraft der Flüsse Lenne, Diemel und Ruhr die Quelle des regionalen Wohlstands gewesen.
Klimafreundlich, ausfallsicher, robust
Laut einer Umfrage von 2015 hat die Wasserkraft mit einer Zustimmung von 74 Prozent in der deutschen Bevölkerung ein gutes Image. Sie ist weitgehend CO2-frei, kommt auf den höchsten Wirkungsgrad aller Energieerzeugungsformen und ist im besten Fall rund um die Uhr konstant nutzbar, also «grundlastfähig». Zudem wäre sie selbst bei einem kompletten Blackout noch verfügbar: Um ein Wasserkraftwerk herum lassen sich funktionsfähige Inselnetze aufbauen. Die eingesetzte Technik ist oft alt, aber robust und zuverlässig.
In der Werkstatt von Walters wird gerade die Generalüberholung einer Turbine abgeschlossen, die 1904 bei Schneider, Jaquet & Cie im Elsass fabriziert worden ist. Sein Sohn Jost und sein Mitarbeiter Johann Glansk haben über ein Jahr immer wieder daran gearbeitet: Sie erneuerten zwei Drittel der Turbinenklappen und alle Schraubenbolzen, setzten Messingbuchsen ein und fetteten diese mit heißem Rindertalg. «Auch in 40 bis 60 Jahren werden diese Schrauben wie neu aussehen», ist sich der Sohn sicher.
Ersatzteile für Wasserkraft kann ein guter Schlosser jederzeit anfertigen.
Befragt, ob er sich bei all dem Engagement eigentlich als «Öko» fühlt, stutzt Bernd Walters und grübelt eine Weile. «Wir bezeichnen uns als nachhaltig», sagt er dann. Und als Gegner der Wachstumsgesellschaft: Die könne nicht funktionieren. Der Mediziner fügt hinzu, dass er und seine Frau immer nur alte, gebrauchte Autos gefahren hätten – aktuell besäßen sie einen 2000er VW Golf. Die Möbel im Haus stammen vielleicht nicht einmal aus dem 20. Jahrhundert, da ist nichts aus dem Katalog darunter. Und die Wasserkraft liebe er eben unter dem Aspekt der unerschöpflichen Nutzung ohne schädigende Wirkung. «Wobei bestimmte Leute aus dem Landesfischereiverband in diesem Punkt eine andere Einschätzung pflegen», fügt er hinzu.
Damit spricht Walters einen Konflikt an, der sich in den vergangenen Jahren stetig verschärft hat und aktuell von einer Lösung weit entfernt ist. Ausgangspunkt ist die EU-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL), die für ein stärker ökologisch ausgerichtetes und ganzheitliches Wassermanagement sorgen sollte: Sie hatte zum Ziel, möglichst bis 2015 in Deutschland eine gute Gewässerqualität zu erreichen. «Zu jenem Zeitpunkt sind allerdings gerade einmal zehn Prozent der Fließgewässer in einem guten ökologischen Zustand gewesen», berichtet der Geograf Olaf Niepagenkemper, der als WRRL-Beauftragter des Fischereiverbandes Nordrhein-Westfalen über die Fortschritte wacht.
Ich kenne kein Wasserkraftwerk, das so funktioniert, wie es die Tiere brauchen.
Eine «gute Gewässerqualität» bedeute für ihn vor allem, dass Fische als ihr wichtigster Indikator einen echten Lebensraum bekämen, der ihnen lebenswichtige und artgerechte Wanderungen ermögliche. Die Fließgewässer seien aber in vielen Bereichen keine echten Fließgewässer mehr, in Bayern oder in den Mittelgebirgen gebe es «ein Stauwehr unter dem nächsten». Und bei vielen Anlagen der sogenannten «kleinen Wasserkraft» unter einem Megawatt Leistung könnten die installierten Fischrechen die Tiere nicht davon abhalten, in die Turbinen zu schwimmen. Dort kämen etwa 20 Prozent zu Tode. Gewiss seien inzwischen etliche Anlagen mit separaten Fischwegen ausgerüstet. «Ich kenne aber kein einziges Wasserkraftwerk, wo Fischaufstieg und -abstieg so funktionieren, wie es die Tiere brauchen», zieht Niepagenkemper ein ernüchterndes Zwischenfazit: «Die Zerschneidung von Lebensräumen mit Klein- oder Kleinstwasserkraftanlagen, die kaum etwas zur Energieerzeugung beitragen – gegen die wehren wir uns.» Mit der Maximalforderung: Die kleine Wasserkraft soll weg.
Ökoverbände fordern Rückbau der Wasserkraft
Unterstützung bekommen die Fischereiverbände von Ökologen aus NABU, BUND und anderen Naturschutzorganisationen. «Einen einzelnen Fischpass können die Tiere überwinden, eine Reihe davon aber nicht mehr», fasst Gewässerexpertin Sandra Schulz die jüngsten Erkenntnisse der Deutschen Umwelthilfe zusammen. «Und die Querbauwerke verhindern, dass sich über Äste und Kies eine natürliche Flusslandschaft formt.» Die Kleinanlagen hätten im sehr trockenen Jahr 2020 lediglich 0,5 Prozent zur gesamten deutschen Stromproduktion beigesteuert. Das war knapp ein Siebtel der Erzeugung, die die Wasserkraft in Summe leistete.
Angesichts des relativ geringen Beitrags der kleinen Wasserkraft zur Stromerzeugung in Deutschland, so Schulz, «würde es uns gefallen, wenn ein neues EEG mit einem attraktiven Programm zum Rückbau gekoppelt wäre». Über das Umweltministerium gelangte auf Druck der Naturschutzverbände eine entsprechende Vorlage in das «Osterpaket» der Bundesregierung. Der Wasserkraft sollte als einziger unter den Erneuerbaren die Zusicherung eines «überragenden öffentlichen Interesses» verwehrt bleiben, die kleine Wasserkraft unter 500 Kilowatt Leistung bei Neubau oder Modernisierung sogar aus dem EEG fallen. Der Bundesverband Deutscher Wasserkraftwerke (BDW) war sofort in Alarmstimmung. Wirtschaftsminister Robert Habeck habe einerseits erklärt, dass jede Kilowattstunde Strom aus erneuerbarer Quelle zähle, er und sein Ministerium wollten aber «eine etablierte Branche, die stabilen, CO2-freien, netzdienlichen und kostengünstigen Strom erzeugt, auslöschen». Aktuell sind bundesweit 7.300 Wasserkraftanlagen mit einer installierten Leistung von 5.600 Megawatt in Betrieb. Ihr Stromertrag liegt bei 20 Milliarden Kilowattstunden und spart jedes Jahr rund 15 Millionen Tonnen CO2 ein.
Gesetze schützen alte Kleinanlagen
Die Gesetzeslage sah bisher die Wassermüller im Vorteil. Nur relativ neue und moderne Turbinen sind mit einer befristeten Genehmigung ausgestattet, die erstmals zwischen 2025 und 2035 ausläuft. Altanlagen verfügen aber über hundertjährige oder gar unbegrenzte Wasserrechte, die nicht einfach eingezogen werden können. Sofern sich ihre Betreiber gesetzestreu verhalten und die Anlagen ordnungsgemäß betreiben, wird man ihre Rechte nicht antasten können. Auch der Hebel über die EEG-Vergütung würde nicht funktionieren: Bei den aktuellen Preisen an den Strombörsen oder mit einer lokalen Direktvermarktung könnten Betreiber auch von kleinen Wasserkraftwerken momentan Einnahmen erzielen, die deutlich höher ausfallen als die 9 bis 11 Cent pro kWh über das EEG.
Ein Stück Energiegeschichte
Noch eine Reihe von weiteren Überlegungen spielt in diesem Konflikt eine Rolle: Mehr als die Hälfte aller Wasserkraftanlagen in Deutschland ist älter als 60 Jahre, die Betriebsgebäude stehen teilweise sogar unter Denkmalschutz. Und wenn ein 30 Jahre altes Auto als Oldtimer gewisse Sonderrechte genießt, könnte man diesen Status auch für fast historische Maschinenanlagen reklamieren, «die ein Stück Energiegeschichte repräsentieren und immer noch laufen, laufen, laufen», sagt Helge Beyer, Geschäftsstellenleiter des BDW. Er führt die Hochwasserschutzfunktion der Querbauwerke ins Feld – und dass bei einem Absacken des Grundwasserspiegels etliche Häuser in Flussnähe ramponiert würden. Außerdem erklärt er: «Wo Fischbestände zurückgehen, liegt das oft an der chemischen Belastung der Gewässer. Die Oberläufe, an denen die kleine Wasserkraft beheimatet ist, sind hingegen meist ökologisch intakt und brauchen keine dringende Verbesserung.»
Konflikt bleibt trotz Kehrtwende ungelöst
Ziemlich überraschend für alle Beteiligten strich der Bundestag bei der Verabschiedung des Osterpakets im Juli 2022 die darin geplanten Verschlechterungen bei der kleinen Wasserkraft. Mehr sogar: Ihr wurde auch das «überragende öffentliche Interesse» zugebilligt, das nun allen Formen der Erneuerbaren Energie in Genehmigungsverfahren eine stärkere Position verschafft. Mit diesem Beschluss hat die Politik – vermutlich auf Druck aus den wasserreichen südlichen Bundesländern – vorerst ein Machtwort gesprochen. Gelöst ist damit der verhärtete Konflikt zwischen Artenschutz und Erneuerbaren allerdings keineswegs. Eine Mediation, wie es sie teilweise schon bei der Windenergie gibt, scheint nicht in Sicht. Zumindest ein «Kamingespräch» habe es auf Vermittlung der Energieagentur NRW mal gegeben, erinnert sich Olaf Niepagenkemper. «Wir vom Fischereiverband haben gesagt, wie es sein müsste. Und die Wasserkraftbetreiber haben ihre Sicht dargestellt. Man ist zum Ergebnis gekommen, dass es nicht passt.»
Seine optimistische Lebenseinstellung ließ Bernd Walters im Laufe zahlreicher Gespräche immer wieder durchblicken. Niemals sonst hätte er die erste Mühle gekauft – und schon gar nicht zwischendurch auch die neunzehnte. Er hätte keine abgerissenen Gebäude wiederaufgebaut oder eine ausgemusterte Francis-Turbine, Baujahr 1915, wieder zum Laufen gebracht. Optimistisch ist er auch bezüglich der Fortführung seines Lebenswerks: Ehefrau Gesa und sein ältester Sohn Steffen sind Co-Geschäftsführer in der Familiengesellschaft («falls ich mal vom Gerüst falle»), der zweite Sohn Jost dreht und schraubt, schweißt und fräst an Ersatzteilen, als hätte er nie im Leben etwas anderes gemacht.
Alte Ingenieurskunst erhalten und pflegen
Für Reparaturen war im trockenen Sommer 2022 auch wieder reichlich Gelegenheit, denn der Wassermangel lässt etliche Kleinanlagen stillstehen – auch wenn es von außen vielleicht anders scheint. Die Pegel an den Stauwehren sind hoch, doch der Wasserdurchfluss – und damit die Stromerzeugung – fällt eher gering aus. Anlagen der Familie Walters sind von der Trockenheit nur zum Teil betroffen: Die Hälfte von ihnen liegt im Abfluss von sauerländischen Talsperren mit einem relativ gleichmäßigen Wassergang. Selbst dort, wo mehrere Turbinen nebeneinander laufen, kann man immer mindestens eine zur Revision und Inspektion aus dem Betrieb nehmen. Vater und Sohn Jost haben sich einen guten Ruf als kenntnisreiche Monteure und Sanierer erarbeitet und bekommen längst auch Aufträge von anderen Anlagenbesitzern.
Die Leidenschaft und Begeisterung für die «große Ingenieurskunst der alten Kraftwerke» hat sich über Generationen hinweg vererbt: So, wie der «Wasserkraft-Doc» einst als Junge mit dem Großvater zu den Wassermühlen unterwegs war, sitzen Jost und Bernd Walters jetzt abends zusammen an den Turbinen. «Ich lerne da noch jede Menge. Papa kann als Mediziner die Sachen sehr gut erklären und vermitteln, sodass man sich auch über Kleinigkeiten freut», so der Sohn – und wirft noch einmal einen Blick auf die Turbine, die mit ihren stolzen 118 Jahren mehr als viermal so alt ist wie er selbst: «Wahrscheinlich wird an der nie wieder jemand arbeiten», sagt Jost Walters und klopft seinen Arbeitsdress ab. «Na ja – wenn ich mal Kinder habe, vielleicht doch …», fügt er schmunzelnd hinzu.
Weitere Artikel
-
Ein Leben für die Solarkraft
Der Erfinder Jürgen Kleinwächter tüftelt seit Jahrzehnten an Solarkraftwerken für den Globalen Süden. Jetzt soll endlich der Durchbruch gelingen.
-
Weinbau in Zeiten des Klimawandels
Die Klimaerwärmung beeinflusst auch den Weinbau. Mit neuen Weinsorten und nachhaltigerem Anbau rüsten sich Winzer wie Andreas Dilger für die Zukunft.