Anderssein als Superkraft
Ein Porträt von Anne Backhaus
Cesy Leonard inspiriert mit der feministischen Initiative «Radikale Töchter» junge Menschen dazu, sich für Demokratie, Solidarität und Klimaschutz einzusetzen.
Ein langer Flur, das Ende ist kaum zu erkennen. Links und rechts gehen Türen ab. Aus der Küche fällt grelles Licht auf den grauen Boden. Cesy Leonard steht in Turnschuhen, Leggings und Wollpulli an der Arbeitsplatte und versucht, die Kaffeemaschine in Gang zu bringen. Sie ist an diesem Herbstmorgen als eine der Ersten in dem siebenstöckigen Bürogebäude in Berlin-Friedrichshain, das sich viele Organisationen teilen. Ihre Tage sind lang – und trotzdem oft zu kurz für all das, was zu tun ist. Immerhin läuft der Kaffee jetzt durch. «Siehste, die erste Hürde ist geschafft», sagt sie. «Gleich wird’s schöner.»
An der Tür zu den Büroräumen, in denen Leonard mit ihren Kolleginnen arbeitet, prangt ein pinkfarbenes Schild. «Wann hast du dich zuletzt mutig gefühlt?», fragt es in schwarzen Großbuchstaben. Die drei Zimmer sehen dann aus, wie Büros eben so aussehen: ein paar Tische, ein Drucker, Kabelsalat auf der Fensterbank. Blick auf die Berliner Skyline. Cesy Leonard deutet auf das Berghain, den legendären Techno-Club. Dann setzt sich die 42-jährige Aktionskünstlerin an den Konferenztisch und schaut sich um, als wäre sie selbst zum ersten Mal da. «Wir kommen hier immer noch an», sagt sie. «Es ist eine spannende Zeit.»
Weil Demokratie ein Tuwort ist
Wir, das sind die sechs Festangestellten und meist noch eine Person, die ein Praktikum macht. Sie sind im Sommer eingezogen, weil sie inzwischen mehr Platz brauchen. Die Initiative «Radikale Töchter», die Leonard 2019 gemeinsam mit der Medienkünstlerin Katharina Haverich gegründet hat, ist schnell gewachsen – und gefragt. Sie behandelt viele Themen, die heute vielleicht wichtiger sind denn je: Antirassismus, Feminismus und Klimaschutz. Ihr Ziel ist es, unsere Demokratie zu stärken.
Es ist wichtig zu begreifen, dass Demokratie nie fertig ist.
«Manchmal denken wir, die Demokratie sei irgendwann fertig oder abgeschlossen», sagte Cesy Leonard bei einer Podiumsdiskussion auf dem «Schönauer Stromseminar» 2024. «Aber es ist wichtig zu begreifen, dass Demokratie nie fertig ist. Dass Demokratie ein Tuwort ist, etwas, an dem wir ständig weiterarbeiten müssen.»

Radikale Töchter setzt sich für politische Bildung und Selbstermächtigung ein. Der Name steht symbolisch für eine nicht patriarchale, neue und aktivistische Zeit – und natürlich dürfen auch männliche und nicht binäre Personen mitmachen. Ein feministischer Verein, der unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziell unterstützt wird und sich klar positioniert. Eben gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Für den Klimaschutz. Denn auch der ist immer abhängig davon, wie gewählt wird.
Man denke da zum Beispiel an Donald Trump, der den Klimawandel leugnet. Kurz nach seinem Amtsantritt erklärte der wiedergewählte Präsident den erneuten Austritt der USA aus dem Pariser Klimaabkommen, das eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius vorsieht. Darüber hinaus will Trump Naturschutzgebiete um Tausende Hektar verkleinern, dort Erdölbohrungen und Bergbau ermöglichen. Generell fossile Energien fördern.
In Deutschland fordert derweil die AfD von der Bundesregierung, internationale Klimavereinbarungen – einschließlich des Pariser Abkommens – aufzukündigen und die CO2-Bepreisung abzuschaffen. Klimaschutz sei ein «politischer Kampfbegriff», Maßnahmen zu ergreifen überflüssig.
Stärkung der Persönlichkeit

Die spürbare Verschiebung vieler Länder nach rechts ist eine wachsende Gefahr für den Klimaschutz. Auch deshalb engagiert sich die Initiative von Cesy Leonard dagegen, zunächst in Brandenburg, Thüringen und Sachsen. Der Grund: Die geringe Wahlbeteiligung – und viele, die dort wählen, wählen rechts.
«Viele junge Menschen in Deutschland, insbesondere in den neuen Bundesländern, sind politisch desillusioniert», sagt Cesy Leonard. «Wir wollen Resignation und Ohnmachtsgefühle in Handlungsfähigkeit umwandeln und Jugendliche inspirieren, sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen.» Radikale Töchter setzt damit an einem Punkt an, der weit vor allen anderen Bemühungen zu Umweltschutz und politischer Veränderung liegt: dem Zugang zum persönlichen Empfinden – als Mittel zur Stärkung der Persönlichkeit.
Dafür fahren die Trainerinnen inzwischen auch in andere Regionen Deutschlands, nach Usedom, Witten, Augsburg. Oder nach Graz, Wien und Innsbruck in Österreich. Geben Workshops an Schulen und Berufsschulen. In Ausbildungsbetrieben, Jugendzentren, kulturellen Einrichtungen, bei politischen Initiativen und Unternehmen.
Was macht euch wütend? Wozu wollt ihr arbeiten? Das ist unser Ausgangspunkt, um Kunst zu machen.
Die Workshops beginnen immer mit Fragen. So lockern Leonard und die gut 20 freien Trainerinnen die Atmosphäre auf, regen zum gemeinsamen Denken an. Die Frage an der Bürotür gehört auch dazu: Wann hast du dich zuletzt mutig gefühlt? Weitere sind: Was macht dich wütend? Hast du schon mal eine Kuh gemolken? Was ist dein Lieblingssnack? Hast du deinen Vater irgendwann weinen gesehen? Und: Sind diese Fragen eigentlich politisch?

«Darüber kommen wir ins Gespräch», sagt Leonard. «Denn es ist politisch, ob du deinen Vater weinen siehst. Wer weint in unserer Gesellschaft? Wir denken zusammen darüber nach und lernen uns kennen.» Das Kennenlernen, es ist auch deshalb wichtig, weil Leonard und ihr Team das Programm ständig variieren. Flexibel gehen sie auf die individuellen Bedürfnisse der Personen ein, die ihre Workshops besuchen. Diese dauern manchmal vier Stunden, manchmal einen oder mehrere Tage.
«Aber egal, wie lange es dauert: Wir sind nicht da, um anderen zu sagen, wie es läuft», sagt Leonard. «Wir wollen wissen, wie es ihnen geht und was ihre Themen sind.» Die Idee dahinter ist, dass Eigenermächtigung am besten aus eigenen Anliegen erwachsen kann.
Eine grundlegende Herausforderung liegt darin, die Teilnehmenden überhaupt zu erreichen. Häufig treffen sie bei den Workshops auf Gruppen, die nicht unbedingt auf den feministisch-antirassistischen Besuch aus Berlin gewartet haben. Jugendliche zum Beispiel, die von ihrem Klassenlehrer angemeldet wurden und dann mit rechten Sprüchen auf dem T-Shirt vor Cesy Leonard sitzen. Keine Miene verziehen. Die null Bock auf sie haben – und schon gar nicht darauf, über Demokratie oder den Klimawandel zu reden. Oder darüber, ob man seine Einstellung ändern sollte.
«Deswegen gehen wir nicht hin und sagen: Du musst jetzt das oder das machen. Das bringt überhaupt nichts», sagt Leonard. «In diesem Moment habe ich Vorurteile und die haben Vorurteile. Da müssen wir ansetzen.»
Wie finden wir trotzdem einen Weg? Wo begegnen wir uns als Menschen?
Leonard hat rote Haare und Sommersprossen. Sie trägt bei den Workshops einen Arbeitsoverall. Sieht aus wie eine, die in ihrer Berliner Blase mit dem Lastenrad unterwegs ist und am liebsten irgendeinen komplizierten Kaffee trinkt. Das Klischeebild einer linken Städterin, nicht selten von Konservativen heraufbeschworen, um zu polarisieren, Menschen verächtlich zu machen. «Genau so ist es», sagt Cesy Leonard. «Manche Schüler:innen finden mich also vielleicht doof. Und die dürfen das auch. Letztlich geht es aber darum: Wie finden wir trotzdem einen gemeinsamen Weg? Wo begegnen wir uns als Menschen?» Für sie bedeutet das, raus aus der eigenen Komfortzone zu gehen. Selbst mutig zu sein, immer wieder. Und offen.

«Jemanden zu verstehen, heißt nicht unbedingt, mit seiner Haltung übereinzustimmen», sagte Leonard in Schönau. Wer sich mit ihr unterhält, spürt: Es geht ihr auch sonst um Augenhöhe. Sie fordert kein Einverständnis ein. Und fragt häufig nach der Einschätzung ihres Gegenübers.
Manche merken erst im Gespräch, was sie frustriert und wütend macht.
So geht es bei den Radikalen Töchtern im Kleinen um das, worum es in unserer Gesellschaft als Ganzes geht: um den Austausch zwischen Andersdenkenden, der meist zu kurz kommt. Von dem oft die Rede ist – was aber selten zu echten Dialogen führt. Die gelingen Leonard und ihrem Team auch nicht in jedem Workshop. Nicht alle lassen sich mit ein paar Fragen und Gruppenübungen zum Mitmachen bewegen. Überraschend oft klappt es aber.
Das führt im besten Fall zu Erfolgen, die sich nur schwer messen lassen. Zum Beispiel zu Aha-Erlebnissen junger Menschen, die sich sonst vergessen fühlen. Die jeden Morgen um Viertel nach fünf aus dem Haus müssen, weil nur dann ein Bus zu ihrer Berufsschule fährt. «Da warten sie noch anderthalb Stunden, bis der Unterricht losgeht», sagt Leonard. «Sie merken manchmal erst im Gespräch mit uns, wie frustrierend das grundsätzlich für sie ist. Wie wütend sie das macht.»
Leonard entwickelt gemeinsam mit ihnen Pläne, um mit dieser Wut umzugehen. Selbst auf sich und die eigenen Bedürfnisse aufmerksam machen, anstatt zu hoffen, dass sie von anderen erkannt werden. Von Politiker:innen bessere Busverbindungen im Landkreis fordern. Es sind kleine Schritte, die auf persönlicher Ebene eine Entwicklung anstoßen können. Die im besten Fall irgendwann dazu führen, sich als aktiver Teil unserer Demokratie zu verstehen.
Besondere Aktionen und heftige Reaktionen
Schon bevor sie ihre Bildungsinitiative gründete, hatte sich Leonard mit vollem Einsatz dem politischen Aktivismus gewidmet. Ab 2011 war sie Chefin des Planungsstabs des «Zentrums für Politische Schönheit» (ZPS) und dort unter anderem für die künstlerische Konzeption von Aktionen und die Leitung des Filmdepartments verantwortlich. Das ZPS ist bekannt für provokative und kontrovers diskutierte Kunstkampagnen. «Wir versuchen, den Kunstbegriff weiterzutreiben und mit der Kunst wirklich Veränderung zu schaffen», sagte Leonard 2018 bei einem Vortrag im Wiener Museum Belvedere 21, wo sie einige der spektakulärsten Aktionen vorstellte.
Bis zu sechs Monate recherchiert und plant das ZPS, dem sich mehr als 100 Aktionskünstler:innen und Kreative zurechnen, die jeweiligen meist spektakulären Einsätze. Wie zum Beispiel die Nachbildung des Holocaust-Mahnmals neben dem Wohnhaus von AfD-Politiker Björn Höcke in Bornhagen. Die Kunstaktion im November 2017 war eine Reaktion auf Höckes «Dresdner Rede», in der er das Berliner Holocaust-Mahnmal ein «Denkmal der Schande» nannte. Das ZPS wollte die Öffentlichkeit mobilisieren. Ein Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen.

«Natürlich wird eine Debatte angestoßen, aber die Kunst macht es möglich, dass auch ein Gefühl dabei transportiert wird. Dass man gezwungen wird, sich zu fragen: Wie stehe ich dazu?», sagt Cesy Leonard bei ihrem Vortrag. Sie begrüßt es, wenn Aktionen zu heftigen Reaktionen führen. Breit diskutiert werden. Und so vielleicht mehr Menschen erreichen als manche Demo.
Das ZPS hat allein mit der Höcke-Aktion mehr als 100.000 Euro an Spenden gesammelt, viel Unterstützung gefunden. Der AfD-Chef bezeichnete das Zentrum für Politische Schönheit als «terroristische Vereinigung». «Darüber haben wir uns natürlich gefreut», sagt Leonard. Nach der Aktion erreichten die Künstlergruppe und Leonard als Person zahlreiche Morddrohungen. Sogar ihre kleinen Kinder wurden erwähnt.
Radikale Töchter ist ja auch entstanden, um dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen.
Bei den Workshops von Radikale Töchter sind sie zur organisatorischen Vorsicht gezwungen – so werden diese beispielsweise nie mit dem genauen Veranstaltungsort angekündigt. Persönlich lässt Leonard sich jedoch nicht einschüchtern. «Radikale Töchter ist ja auch als Reaktion auf die politische Entwicklung in Deutschland entstanden, um dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen.» In den Konferenzraum stecken inzwischen immer häufiger junge Frauen ihre Köpfe. Die Kolleginnen begrüßen Cesy Leonard freudig. Fragen, wie lange sie wohl noch braucht. Nicken, lachen, ziehen sich wieder zurück. Das wöchentliche Team-Meeting steht an. Leonard hat nach dem ruhigen Morgen im Büro nun tatsächlich Zeitdruck. Trotzdem wirkt sie nicht im Mindesten gestresst. Antwortet allen Mitarbeiterinnen gleich zugewandt, kündigt an, dass sie bald fertig sei. Erzählt ruhig zu Ende, verabschiedet sich dann herzlich. Fürs Erste.
Aufmerksamkeit erzeugen

Drohnenflug: Autobahn, Hochhaussiedlung. Eine junge Frau vor einem Hochhaus, roter Overall, die Haare wehen im Wind. Ein junger Mann in gelbem Overall. Pferdehufe auf dem Asphalt. Zwei Schimmel. Darauf die Gründerinnen der Radikalen Töchter. Sie reiten durch die Siedlung. Beats, bei denen sich die Armhaare aufstellen. Dazwischen Filmszenen von Demos und politischen Aktionen. Immer mehr Menschen in bunten Overalls kommen ins Bild, laufen mit Leonard. Am Ende die Aufforderung: «Bildet Banden!»
Im Raum: Applaus. Der Imagefilm von Radikale Töchter gefällt den Teilnehmenden des Workshops, der kurz nach unserem Besuch bei Leonard in einem anderen Stadtteil, einem anderen Bürogebäude in Berlin, seinen Lauf nimmt. Hier steht ein ganztägiger Kurs für mehrere gemeinnützige Umwelt- und Klimaschutzorganisationen an. Ein neuer Schulungszweig der Radikalen Töchter, der ähnlich wie die Zahl der Jugendkurse wächst. Die Gesichter der gut zwanzig Teilnehmenden – die meisten gehen schon länger nicht mehr zur Schule – wenden sich gespannt der Trainerin Kasia Wójcik zu. Der Film hat erreicht, was er soll: Er macht Lust, dabei zu sein. Er zeigt, dass es cool ist, sich abzuheben und zusammenzuschließen. Etwas zu tun.
Wójcik, 34, Künstlerin und Aktivistin, hat einen rosa Overall an. Trägt ihre Fingernägel in der gleichen Farbe und ihre Locken oben auf dem Kopf zusammengeknotet. Die Overalls tragen alle, die Workshops für Radikale Töchter leiten. Sie sind bequem und helfen dabei, so Wójcik, dass die Initiative «als Bande» zu erkennen ist.
Sie steht am vollbesetzten Stuhlkreis. Erklärt, fragt. Zeigt bald weitere Filme, die erzählen, wie Umweltschutz mit Aktionskunst mehr Aufmerksamkeit erreichen kann. Beispiele, die inspirieren. Wie das Video «Sonne statt Kohle»: Als 2018 die Kohlekommission in Berlin tagt, demonstrieren Aktivist:innen von Greenpeace gegen Kohlestrom und für Solarkraft. Sie organisieren aber keine Demo. Stattdessen schütten sie an der Berliner Siegessäule 3.500 Liter ökologisch abbaubare gelbe Farbe auf die Straße. Den Rest übernehmen die Autos: Sie verbreiten das Gelb mit ihren Reifen in die Straßen rund um den Kreisverkehr. Von oben sieht das bald aus wie eine Sonne. Ein starkes Bild für Solarkraft, das durch die Nachrichten geht. Aufmerksamkeit garantiert.
Manche würden das als gutes Marketing bezeichnen. «Legalen Stress» nennen es die Radikalen Töchter, obwohl solche Aktionen durchaus juristische Folgen und erhebliche Kosten nach sich ziehen können. Doch natürlich will die Initiative nicht zu Gesetzesbruch aufrufen, warnt in den Workshops immer wieder vor unüberlegten Taten. «Lange, bevor solche Aktionen möglich sind, braucht es sowieso immer erst eine klare Idee davon, was eigentlich das Problem ist – und was sich genau ändern sollte», sagt Kasia Wójcik. «Für uns ist Wut ein positives Gefühl. Schreibt also bitte mal auf, was euch wütend macht!»
Erzähle eine radikale Idee niemals langweiligen Menschen, sie werden sie in der Luft zerreißen.
Neben ihr auf dem Bildschirm steht nun: «Von der Wut in den Mut: eigene Themen finden!» Sie verteilt Zettel, auf denen die Workshop-Teilnehmenden notieren, was sie verändern wollen. Ausgehend von dieser ersten Sammlung wird Kasia Wójcik den Nachmittag mit den Gruppen gestalten. Ideen für politische Aktionen entwickeln, die Aufmerksamkeit generieren, aber hier in diesem Artikel nicht beschrieben werden sollen. Sonst wäre ja, falls sie in diesem Jahr umgesetzt werden, der Überraschungseffekt hin. «Erzähle eine radikale Idee niemals langweiligen Menschen, sie werden sie in der Luft zerreißen», entgegnet Kasia Wójcik auf die Frage, was sie von Cesy Leonard gelernt habe.
Die Wichtigkeit zu scheitern
Einige Wochen später, am Telefon darauf angesprochen, lacht Leonard. Und meint nach einer kurzen Pause: «Das stimmt wirklich immer! Und ich habe noch einen anderen Tipp: Am besten nimmt man sich selbst nicht zu ernst.» Eigentlich war ein zweites Treffen angedacht, doch dann kamen einige Termine dazwischen. Cesy Leonard wirkt am Telefon ernster als in unserem ersten Gespräch. Vielleicht weil der Blickkontakt fehlt. Vielleicht weil sie darüber spricht, wie wichtig es ist, sich nicht verunsichern zu lassen. Sich etwas zu trauen, zu scheitern. «Aktivismus ist ja nicht nur erfolgreich, wenn ich 20.000 Unterschriften sammle. Ich probiere etwas aus und es funktioniert nicht. Das ist nicht schlimm. Vielleicht ist es sogar interessanter und bringt mich weiter, als alles richtig zu machen.»

Der sprichwörtliche Weg ist das Ziel. So wie für Leonard die Arbeit an der Demokratie nie abgeschlossen, sondern «Demokratie ein Tuwort» ist, so ist es auch ihre Arbeit als Künstlerin. Das heißt aber nicht, dass ihr das immer leichtfällt. Sie hat daran gearbeitet, sich mit ihren Fehlern zu akzeptieren, sich zuzugestehen, neue zu machen. Nicht allen zu gefallen, anders zu sein. Bereits ihre feministische Mutter sah es nicht ein, die kleine Tochter in ein rosa Tutu zu stecken – nur für eine Ballettaufführung. Cesy tanzte also in einem blauen Sportbody neben den anderen Mädchen. «Meine Tochter würde das heute niemals mitmachen», sagt sie und lacht. Als Jugendliche war sie dann in der Stuttgarter Graffiti- und Hip-Hop-Szene aktiv. Ging für ihre Schauspielausbildung schließlich nach Berlin, arbeitete im Film, Fernsehen und Theater – und blieb, weil «die Stadt so divers ist und dort alle machen können, was sie wollen».
Emotionen wie Scham und Wut sind ja oft politisch geprägt – somit veränderbar.
Trotzdem habe sie lange einen Minderwertigkeitskomplex gespürt, sich zum Beispiel der Kulturszene nicht zugehörig gefühlt. Sie hatte kein Abitur gemacht. Durfte sie sich da überhaupt in intellektuelle Kunstdiskurse einmischen? Oder Interviews geben? «Und dann verstand ich irgendwann, dass es am besten ist, das eigene Anderssein in eine Art Superkraft umzuwandeln», sagt Cesy Leonard. «Emotionen wie Scham und Wut sind ja oft politisch geprägt – und somit veränderbar.»
Wenn Cesy Leonard solche Sätze sagt, gibt sie einem wirklich das Gefühl, ja, jede Person kann, du kannst etwas tun. «Demokratie ist wie ein Muskel, den man trainieren muss», auch sowas sagt sie. Los, hol dir einen Overall!
Ende des vergangenen Jahres hat Leonard ihr drittes Kind bekommen. «Nein, ich würde sagen, mein viertes! Radikale Töchter war mein drittes.» Ihre Kolleginnen haben ihr für das Mädchen einen Strampelanzug mit dem Aufdruck «Radikale Tochter» geschenkt. Cesy Leonard freut sich darüber – und auf den Frühling, wenn sie nach dem Mutterschutz wieder arbeiten geht. «Vielleicht ist es eh gut für die Initiative, wenn die Jüngeren jetzt ohne mich ihr Ding machen», sagt sie. Vermutlich ist sie die Einzige, die so denkt.
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