Das Märchen von der nachhaltigen Atomkraft
Gastkommentar von Mycle Schneider
Mit der Einstufung von Atom und Gas als «nachhaltige Energiequellen» betreibt die EU Greenwashing auf höchster Ebene – und versäumt eine historische Chance.
Die Europäische Union sieht sich gern als Vorreiter in Sachen Umwelt- und Klimaschutz. Die «EU-Taxonomie» – ein Regelwerk, das designierte wirtschaftliche Tätigkeiten nach bestimmten Kriterien als «nachhaltig» einordnet – sollte zum internationalen Goldstandard werden und als wichtiger Bestandteil des «European Green Deal» Orientierungshilfe für die notwendigen massiven Investitionen liefern. «Wir setzen ehrgeizigere Maßstäbe im Bereich des nachhaltigen Finanzwesens, damit Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent wird. Die Zeit ist gekommen, auf Worte Taten folgen zu lassen und nachhaltig zu investieren», sagt die für Finanzdienstleistungen, Finanzstabilität und die Kapitalmarktunion zuständige EU-Kommissarin Mairead McGuinness anlässlich der Vorstellung des ersten Maßnahmenpakets im April 2021.
Das klang gut. Noch kein Wort von Atom oder Erdgas. Die strittige Frage der Atomkraft war in der Tat zunächst ausgeklammert worden. Dazu hatte die EU-Kommission bei ihrer «Gemeinsamen Forschungsstelle» (GFS) eine Studie in Auftrag gegeben, die im März 2021 als fast 400 Seiten dicker Bericht vorgelegt wurde. Die Experten konnten «keinen wissenschaftlich fundierten Beleg» finden, dass Atomkraft «mehr Schaden für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt anrichtet als andere Stromerzeugungstechnologien, die bereits in der Taxonomie enthalten sind».
Das Werk lässt sich so zusammenfassen: Wenn sich alle immer und überall an die Regeln halten, heute und in Zukunft nichts passiert und jegliche Probleme von Sicherheit über Proliferation bis Atommüllentsorgung gelöst sind, dann ist Atomkraft nachhaltig. Begriffe wie «Krieg» oder «bewaffneter Konflikt» finden sich dort nicht. Die Studie wurde in zahlreichen Analysen scharf kritisiert, selbst vom kommissionseigenen Wissenschaftlichen Ausschuss «Gesundheitsrisiken, Umweltrisiken und neu auftretende Risiken» (SCHEER) sowie etwa in einer Untersuchung des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung im Auftrag der deutschen Bundesregierung.
EU-Taxonomie: Lobbyismus schlägt Wissenschaft
Überraschend kam die Schlussfolgerung der GFS nicht. Die Organisation ist historisch vorbelastet: Sie wurde Ende der 1950er-Jahre unter dem Euratom-Vertrag als «gemeinsame Kernforschungsstelle» gegründet. Zwar hat man den Begriff «Kern» später gestrichen und die Aufgaben erheblich ausgeweitet, doch betreibt die GFS weiterhin Atomforschung und erhält über 40 Prozent ihrer Mittel aus dem Euratom-Budget. Nach umfangreichen Lobbyinitiativen, vor allem seitens der französischen Regierung, kam es zu einem politischen Kuhhandel mit der Bundesregierung: Frankreich erhält das atomare Zugeständnis und Deutschland im Gegenzug den Nachhaltigkeitsstempel fürs Erdgas. Nicht nur Investitionen in neue Reaktoren und Konzepte, sondern auch Nachrüstungen laufender AKWs sollen unter die Taxonomieregeln fallen.
Die Tatsache, dass Atomkraft und Erdgas als Übergangstechnologien eingestuft wurden und bestimmten Auflagen genügen sollten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Politik der Wissenschaft wieder einmal den Garaus gemacht hat. Die Einstufung eines potenten Treibhausgases (Erdgas besteht hauptsächlich aus Methan) und einer Technologie, die unter anderem toxische Abfälle für Tausende von Generationen produziert, als nachhaltig, widerspricht zweifellos jedem gesunden Menschenverstand. Der Goldstandard ist tot.
Aller Kritik zum Trotz veröffentlicht die EU-Kommission am 2. Februar 2022 einen «ergänzenden delegierten Taxonomie-Rechtsakt zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel», der «bestimmte Gas- und Kernenergietätigkeiten abdeckt». In einem Factsheet heißt es: «Ziel der EU-Taxonomie ist es, Grünfärberei zu verhindern und Investoren dabei zu unterstützen, Wirtschaftstätigkeiten zu identifizieren, die mit unseren Umwelt- und Klimazielen in Einklang stehen.» Der französische Thinktank «Reclaim Finance» sieht in dem Rechtsakt eher «einen neuen Standard für Greenwashing», also das Gegenteil des propagierten Ziels.
Atom und Gas: Erhöhtes Risiko in Kriegszeiten
Am 24. Februar 2022 startet Russland seinen Frontalangriff auf die Ukraine – und Europa taucht in ein neues, unwägbares Zeitalter ein. Gas- und Strompreise explodieren. Einen Monat später, am 4. März 2022, greift die russische Armee das größte Atomkraftwerk Europas in Saporischschja an, beschädigt ein Reaktorgebäude und hält den Standort seither besetzt. Die ukrainische Atomaufsicht spricht von Terror und Entführungen von Mitgliedern des Betriebspersonals. Das russische Militär hat das Kraftwerksgelände inzwischen in eine Festung verwandelt und belegt umliegende Gebiete mit Artilleriefeuer. Der ukrainischen Verteidigung ist hier weitgehend machtlos. Angriffe auf das AKW-Gelände sind mit der stetigen Gefahr einer atomaren Katastrophe verbunden. Demonstration einer nachhaltigen Energietechnologie im Krieg?
Eine Mehrheit der Abgeordneten des Europaparlaments lässt sich erstaunlicherweise dennoch nicht davon abhalten, am 6. Juli 2022, am 125. Tag der Besetzung des ukrainischen AKWs, für die Klassifizierung von Atom und Erdgas als «nachhaltig» zu stimmen.
Parallel wird europaweit fieberhaft nach Strategien zur Einsparung von Erdgas gesucht. Ende Juli 2022, fünf Monate nach Kriegsbeginn, schlägt die EU-Kommission einen «Plan zur Senkung der Gasnachfrage» vor, um die EU auf Lieferkürzungen vorzubereiten. Eine neue Verordnung würde allen Mitgliedstaaten das Ziel vorgeben, die Gasnachfrage im Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 31. März 2023 um 15 Prozent zu senken. Ein «Unionsalarm» könnte ausgerufen werden, so die Kommission, wenn «ein erhebliches Risiko einer gravierenden Gasknappheit besteht», und Verbrauchsreduktionen obligatorisch machen. Demonstration einer nachhaltigen Energiequelle in Zeiten von Ressourcenknappheit?
Negativbeispiel EDF: teuer und unzuverlässig
Gleichzeitig zeigt der größte AKW-Betreiber der Welt, die «Électricité de France» (EDF), wie wenig zuverlässig seine Meiler Strom produzieren. Neben den explodierten Gaspreisen ist die katastrophale Betriebsbilanz der französischen Atomflotte der entscheidende Treiber der europäischen Strompreise. Mitte August 2022 ist weniger als die Hälfte der französischen Atomkapazität in Betrieb, und trotz drei bis vier Gigawatt (GW) Erdgas im Netz muss der nukleare Nachbar bis zu zehn GW Strom importieren – der größte Lieferant ist Deutschland. Die Ursachen für das Versagen kumulieren sich, darunter das hohe Durchschnittsalter der AKWs von 37 Jahren, Post-Fukushima-Nachbesserungen, Arbeiten für eine Laufzeitverlängerung, unerwartete Korrosionen in Kühlsystemen, klimabedingte Leistungsdrosselung und Streiks.
Neben den Problemen im Bestand macht auch der AKW-Neubau in Flamanville weiterhin Sorgen. Baubeginn 2007, Betriebsaufnahme 2012 – so der eigentliche Plan. Nach unzähligen Verschiebungen soll die Brennelementladung in der zweiten Jahreshälfte 2023 stattfinden. Geld aus Töpfen der EU könnte zwar etwas die Bilanz schönen, ändern lässt sich damit vor Ort nichts. Es mangelt überall an qualifizierten Fachkräften, Ingenieuren, Managern. Die lassen sich auch nicht mit einem Haufen Euros und einem 3D-Drucker herstellen. Das braucht Zeit, viel Zeit.
Nach einem historischen Verlust von 5,3 Milliarden Euro im ersten Halbjahr und mit der Aussicht auf historische Nettoschulden von geschätzten 65 Milliarden Euro Ende 2022 hat die französische Regierung die Notbremse gezogen und die Vollverstaatlichung der EDF angekündigt.
Atomenergie – fast überall ein Auslaufmodell
Die atomfreundliche Taxonomie wird am langsamen Untergang der Industrie nichts ändern. Vor 15 Jahren ging das letzte AKW in den 27 EU-Mitgliedstaaten in Bau, jenes in Flamanville. Seitdem ging nur ein neues AKW in Betrieb, im März 2022 in Finnland, nach 17 Jahren Bauzeit. 1989 waren 136 Reaktoren in der EU-27 in Betrieb, heute sind es noch 103 – darunter 56 in Frankreich, von denen aber nur etwa die Hälfte Strom liefert. In Westeuropa gibt es dann noch Hinkley Point C in Großbritannien. Der erste von zwei Blöcken sollte bereits Strom für den Weihnachtsbraten 2017 liefern –so hatte der Bauherr EDF 2007 vollmundig verkündet – er ging jedoch erst 2018 in Bau und liegt ebenfalls weit hinter den Plandaten und über den veranschlagten Kosten.
Die Atomtechnologie ist am Markt für Stromerzeugungskapazität schlicht irrelevant. Rekordinvestitionen fließen dagegen in Erneuerbare. Die Renaissance der Atomkraft findet nur in den Köpfen und Tweets ihrer Propagandisten statt. 2021 gingen auch weltweit mehr Blöcke vom Netz, als hinzukamen. Für zehn AKWs, darunter drei in Deutschland, wurde das endgültige Aus beschieden, nur sechs nahmen den Betrieb auf, darunter drei in China und eins in Pakistan, von China gebaut. Die meisten Meiler sind in China im Bau, 22 von 56 weltweit (Stand 1. August 2022).
Der größte Reaktorbauer der Welt aber ist Russland: Insgesamt 22 Reaktoren russischen Designs sind in Bau, darunter nur drei im eigenen Land, jedoch jeweils vier in China, Indien und der Türkei, jeweils zwei in Bangladesch und der Slowakei (seit 1985) und jeweils einer in Ägypten, Belarus und im Iran. Kurioserweise gingen noch nach Kriegsbeginn in der Ukraine vier dieser Projekte in Bau: zwei in China und jeweils eines in Ägypten und in der Türkei. Doch längerfristig wird Russland wohl nicht nur mit der Finanzierung Schwierigkeiten bekommen, sondern aktuelle wie mögliche zusätzliche Sanktionen werden zweifellos zunehmend auch Zulieferfirmen betreffen.
Historische Chance verpasst
Der Atomsektor wurde bisher sorgsam von direkten Sanktionen ausgeschlossen, trotz eines eindeutigen Beschlusses des Europaparlaments. Wenig Beachtung fand bisher, dass die russische «Rosatom» seit 2009 Alleineigentümer des nun auf Rückbau spezialisierten Unternehmens «Nukem Technologies» in Deutschland ist. Und Frankreich hat Rosatom noch nach Kriegsbeginn eine 20-prozentige Beteiligung am Hersteller der Arabelle-Turbinen angeboten, die werden nämlich in russischen AKW-Modellen eingesetzt. Und wer sonst baut noch AKWs?
Im Jahre 2021 ist der Anteil der Atomkraft am kommerziellen Strommix zum ersten Mal in über vier Jahrzehnten wieder unter die 10-Prozent-Marke gerutscht. Der historische Höhepunkt wurde schon 25 Jahre früher mit 17,5 Prozent erreicht. Alle Spitzenwerte der Schlüsselindikatoren der Atomindustrie wurden bereits vor Jahrzehnten erreicht: bei der Stromproduktion im Jahr 2006, bei der Anzahl der in Betrieb befindlichen Reaktoren 2002, bei Betriebsaufnahmen Mitte der 1980er-Jahre, bei im Bau befindlichen Reaktoren 1979, bei Baustarts 1976. Haben wir den Höhepunkt der Entwicklung, das «peak-atom», also bereits überschritten?
Die Taxonomie wird die Atomindustrie nicht retten. Die EU-Institutionen haben mit dem grünen Label für Atom und Erdgas aber nicht nur die historische Chance versäumt, einen weltweiten Goldstandard zu setzen. Sie haben auch den Graben zwischen Wahrnehmung und Realität des Atomsektors weiter vertieft.
Mycle Schneider
Mycle Schneider, 1959 in Köln geboren, ist unabhängiger Berater für Energie- und Atompolitik und lebt bei Paris. Seit 2007 analysiert und beschreibt er mit einem internationalen Team im von ihm initiierten und herausgegebenen jährlichen «World Nuclear Industry Status Report» den Zustand der Atomindustrie weltweit. Er ist Mitglied im «International Panel on Fissile Materials», einem an der Princeton University ansässigen Expertengremium zur Nichtweiterverbreitung waffenfähiger Materialien. Von 2004 bis 2009 lehrte er «Umwelt- und Energiestrategien» in einem internationalen Masterkurs an der «École des Mines» in Nantes. Für seine «Warnungen vor den Gefahren durch Plutonium für die Menschheit» wurde er 1997 mit dem «Right Livelihood Award» ausgezeichnet. (Foto: Nina Schneider)
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