Der April macht dem Volksmund nach, was er will. Und am 19. April entschied er sich für Regen in Deutschland. Das machte nicht nur die Eröffnung unseres Solarparks in Döggingen zu einer ungemütlichen Angelegenheit, auch in Berlin mussten die jungen Engagierten von Fridays For Future für ihre Aktion die wasserfesten Sachen rausholen. Der Stimmung auf der Marschallbrücke im Berliner Regierungsviertel tat das keinen Abbruch: In weniger als einer halben Stunde prangte der mit weißer Kreidefarbe aufgepinselte Schriftzug «Our world is on fire. Use your voice!» auf der Fahrbahn, um den zwölf riesige bunte Sterne drapiert wurden – ein Verweis auf die bevorstehende Europawahl. Parallel fuhr die lokale Fridays-Gruppe ein stimmungsvolles Begleitprogramm mit Redebeiträgen, Live-Musik und DJ auf.
Schon die ersten Rednerinnen machten deutlich, warum sie heute hier stehen:
«Ich kann nicht wählen, wer über meine Zukunft entscheidet. Die, die gewählt wurden, müssen meine Zukunft sichern. Doch die Politik blockiert wichtige Veränderungen oder geht Entscheidungen gar nicht erst an. Das Hinauszögern von Maßnahmen gefährdet meine Zukunft. Ich werde noch länger da sein. Ich möchte leben, und zwar auf einem lebenswerten Planeten», machte die fünfzehnjährige Schülerin Mathilda klar.
Anders als bei vergangenen Klimastreiks handelte es sich bei der Aktion nicht um eine Massenveranstaltung, das Event war als Pressekonferenz angesetzt, um ihre Forderungen zur Europawahl kundzutun – flankiert von gleich vier prominenten Stimmen aus der Wissenschaft. An einem langen Tisch, an dem ein Banner mit der Aufschrift «Unite behind the science!» befestigt war, nahmen Sprecherin Luisa Neubauer, Physiker Anders Levermann, Ökonomin Claudia Kemfert, Wirtschaftsingenieur Pao-Yu Oei und Soziologe Matthias Quent unter Regenschirmen Platz und ließen sich nicht von der Witterung beirren.
«Ich kann nicht wählen, wer über meine Zukunft entscheidet. Doch die, die gewählt wurden, müssen meine Zukunft sichern.»
Prof. Dr. Anders Levermann
Der Physiker vom PIK (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung) zeichnete erst einmal ein düsteres Bild vom Ist-Zustand der sich rapide verschlimmernden Klimakrise. «Wir wissen mittlerweile, dass das arktische Meereis im Sommer verschwinden wird, wenn wir so weitermachen. Den Kipppunkt des westantarktischen Eisschelfs haben wir bereits überschritten. Wie die globale Temperatur im letzten Jahr heraufgeschnellt ist, ist dramatisch. Wir haben die 1,5-Grad-Grenze wahrscheinlich schon gerissen.» Levermann betonte noch einmal die Kernbotschaft der Klimawissenschaft: «Wir können das Weltklima nur stabilisieren, wenn wir auf null fossile Emissionen kommen. Das ist die Aufgabe der nächsten Jahrzehnte.»
An alle, die den Wissensstand zur menschengemachten Erderwärmung noch anzweifeln, hatte er eine klare Ansage:
«Dann trauen Sie auch Ihrem Auto nicht, steigen Sie in kein Flugzeug, benutzen Sie keinen Computer oder Mobiltelefon – die alle beruhen nämlich auf derselben Physik.»
Prof. Dr. Claudia Kemfert
Die Ökonomin des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) und Mitglied der Scientists For Future betonte, dass beim verbleibenden CO2-Budget Deutschland schon 2037 Klimaneutralität erreichen müsse. «Wir sind überhaupt nicht auf dem Weg zur Einhaltung der Klimaziele, wir reißen im Moment viele zentrale Versprechungen der Klimapolitik. Lediglich beim Ausbau der Solarenergie sei Deutschland auf einem guten Weg, der Ausbau der Windenergie müsse dreimal so schnell vorangehen wie aktuell und auch der Einbau von Wärmepumpen hinke weit hinter den avisierten Zielen her.
Zudem bemängelte sie den politischen Unwillen, für die Zukunft wichtige Entscheidungen anzugehen. Als Beispiel verwies sie auf die jüngst vom DIW publizierte Studie, die den zügigen Rückbau der Gasnetze anmahnt, das Versprechen von Wasserstoff im Gasnetz sei aus Effizienzgründen nicht realistisch. Auch die Untätigkeit im Verkehrssektor kritisierte sie scharf und die unlängst beschlossene Reform des Klimaschutzgesetzes, das die Verantwortung der einzelnen Sektoren aufweicht.
«Wenn wir es jetzt nicht angehen, schaffen wir die Ziele nicht. Deutschland hat seine Klimaziele nie auf das 1,5-Grad-Ziel ausgerichtet, Richtung zwei Grad sind mehr Anstrengungen nötig.»
Prof. Dr. Pao-Yu Oei
Auf den Zusammenhang von Transformation und Sozialpolitik ging anschließend der Energiewende-Experte Pao-Yu Oei von der Europa-Universität Flensburg ein. Denn beim Strukturwandel, besonders in den neuen Bundesländern, sei gerade die soziale Infrastruktur entscheidend: «Es geht darum, Arbeitsplätze zu schaffen, aber auch um Schulen und Kitas. Die entscheiden darüber, ob junge, gut ausgebildete Menschen, insbesondere Frauen, in diesen Gegenden leben wollen oder wegziehen. Ansonsten entstehen Regionen, die zurückgelassen werden, und in denen erstarkt der Populismus, was die Demokratie gefährdet.»
«Energiepolitik und Sozialpolitik müssen zusammengedacht werden.»
Das betreffe nicht nur Deutschland, in ganz Europa seien Gebiete von Armut betroffen. In Gebieten, die von aussterbenden Industrien leben, seien abfedernde Maßnahmen nötig. Darum warb der Energiewissenschaftler dafür, den europäischen «Green Deal» zu bewahren und weiter zu verbessern, um europaweit Impulse für Transformation, Effizienz- und Suffizienz-Maßnahmen anzustoßen.
Prof. Dr. Matthias Quent
«Mit den Europawahlen am 9. Juni droht in Europa ein Rechtsruck. Es droht ein weiteres Erstarken der äußeren Rechten im europäischen Parlament mit tiefen Auswirkungen, nicht nur für die Klimapolitik.» Der Soziologe Matthias Quent vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) fokussierte sich in seinem Redebeitrag auf die möglichen Auswirkungen der weltweit anstehenden Wahlen.
Dass rechtsextreme Kräfte gerade Klimapolitik zurückdrehen wollen und immer wieder durch Leugnung der Fakten auffallen, ist für den Rechtsextremismus-Experten nur logisch: «Die Klimakrise ist aus soziologischer Sicht eine Krise der Ungleichheit, was Betroffenheit und Beitrag zu den Emissionen angeht. Rechtsextremismus ist im Kern eine Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit. Und der Kapitalismus, der diese Ungleichheit erzeugt und reproduziert, steht mit wachsenden Krisen zunehmend unter Legitimationsdruck.»
Hinter Klimawandelleugnung stehe entsprechend nicht bloßes Unwissen, sondern die handfesten wirtschaftlichen Interessen derer, die bislang von fossilen Geschäften besonders profitiert hätten.
«Der Ausstieg aus der globalen Verantwortungslogik, die der einzige Weg ist, die Klimakrise abzumildern, ist nur eine Scheinlösung. Nationalismus ist keine Lösung für die Herausforderungen.»
Trotz des Drucks von denen, die das System der Ungleichheit aufrechterhalten wollen, zeigte sich Quent nicht pessimistisch. «Wir haben die Möglichkeiten, bei jeder Wahl – von der EU bis zur kommunalen Ebene – die Kräfte zu stärken, die Gerechtigkeit ermöglichen.»
Umso wichtiger schätzt er ein starkes Engagement der Zivilgesellschaft ein, wie es sich bei den Protesten gegen Rechtsextremismus zu Jahresbeginn manifestiert hat. «Wir hatten noch nie mehr Möglichkeiten, mehr Wissen, mehr Chancen, mehr Handlungsspielräume, diese Auseinandersetzung auch zu gewinnen.»
Fotos: Fridays For Future / Lukas Stratmann, Santiago Rodriguez