Mobilität

An anderen Orten in Europa wird vorgemacht, wie das mit der Mobilitätswende geht. Wir haben uns mal etwas umgeschaut.

Wende in der Mobilität? Das geht!

Die bundesdeutsche Verkehrspolitik verweilt hinsichtlich einer notwendigen Mobilitätswende im Dornröschenschlaf. Das haben wir vor allem der FDP und dem zuständigen Bundesverkehrsminister Volker Wissing zu verdanken. Die Ampelkoalition hat dafür gesorgt, dass einzelne Ministerien nicht mehr verbindlichen Sektorenzielen beim Klimaschutz folgen müssen und tritt – gerade im Verkehrssektor ­– bei den erforderlichen klimaschutzpolitischen Maßnahmen immer wieder auf die Bremse. Nicht so hingegen auf den deutschen Autobahnen: Auch in der Klimakrise hält die FDP-Fraktion am unregulierten Rasen fest. Dabei gibt es aus gutem Grund bereits in allen anderen EU-Ländern ein Tempolimit.

Erst letzte Woche hat der Expertenrat für Klimafragen kritisiert, dass die Bundesregierung die selbst gesetzten Klimaziele verfehlt. Der Sektor Verkehr wurde dabei als einer der hauptverantwortlichen Problembereiche ausgemacht.

Doch wollen wir uns hier nicht an der Mobilitätsbaustelle Deutschland abarbeiten, sondern ein paar erfolgreiche Beispiele für die Umsetzung der Mobilitätswende aus anderen EU-Ländern am Beispiel des Konzepts der «15-Minuten-Stadt» anschauen, das von Prof. Carlos Moreno von der Sorbonne Université in Paris im Jahr 2016 vorgestellt und weltweit bereits von vielen Städten und Kommunen aufgegriffen wurde. Im Kern geht es darum, dass die für die Menschen wichtigsten Einrichtungen und Orte binnen 15 Minuten zu Fuß, per Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind. Damit soll die Lebensqualität der Einwohner:innen verbessert, der Verkehr reduziert sowie der Schadstoff- und Treibhausgasausstoß verringert werden.

In dieser Veröffentlichungstellt Carlos Moreno gemeinsam mit anderen Kolleg:innen das Konzept der «15-Minuten-Stadt» vor. Darin heißt es, dass die Herausforderungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie zur Wiederentdeckung der Vision von Moreno führten. Diese biete eine neuartige Perspektive des «Chrono-Urbanismus». Zudem ergänze das Konzept das bestehende Thema der «Smart Cities» und sorge für den Aufbau menschlicherer städtischer Strukturen, wie sie vom mittlerweile verstorbenen US-amerikanischen Architekten Christopher Alexander skizziert wurden. Der Aufbau sicherer, widerstandsfähigerer, nachhaltiger und inklusiver Städte ist eines der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen.

Ende vergangenen Jahres erschien bereits im EWS Energiewende-Magazin ein lesenswerter Artikel zur «15-Minuten-Stadt». Im Folgenden stellen wir drei europäische Städte vor, die besonders entschlossen diesem Konzept folgen.

Die «15-Minuten-Stadt» Paris

Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo ist eine prominente Unterstützerin der Idee von der «15-Minuten-Stadt» und verfolgt deren Umsetzung bis zum Jahr 2030 durch die Schaffung von autarken Vierteln, deren Infrastruktur so ausgelegt ist, dass es eine optimale Melange aus Wohnraum, Geschäften, Grünflächen sowie Gesundheits-, Bildungs- und Kultureinrichtungen in einer kompakten und gut vernetzten Umgebung gibt.

Diese und sogar der eigene Arbeitsplatz sollen für die Einwohner:innen in maximal 15 Minuten ohne Auto erreichbar sein. Um das möglich zu machen, werden die U-Bahn-Linien ausgebaut, neue Straßenbahnlinien errichtet, das Busnetz erweitert sowie neue Fahrradwege inklusive Fahrradstationen und –plätze geschaffen. Wie wichtig Anne Hidalgo das von ihr angestoßene Projekt ist, wird schon dadurch verdeutlicht, dass sie eine stellvertretende Bürgermeisterin für die «15-Minuten-Stadt» ernannte. Die obige Grafik, die vom VCD Nordost e.V. übersetzt wurde, visualisiert das Konzept.

Der Anteil des Radverkehrs soll bis 2024 auf 15 Prozent erhöht und die Anzahl der Autos um die Hälfte reduziert werden. Dies soll unter anderem durch die Einführung von mehr Fußgängerzonen, verkehrsberuhigten Bereichen, die Abschaffung von 60.000 innerstädtischen Parkplätzen sowie eine Sperrung des Pariser Zentrums für den Durchgangsverkehr geschehen. Zudem sollen bis 2026 rund 180 Kilometer gesicherte Radwege und über 120.000 zusätzliche Fahrradstellplätze geschaffen werden. Darüber hinaus gibt es seit 2018 in Paris ein umfangreiches Fahrradverleihsystem namens «Vélib'», das tausende Fahrräder an über 1.400 Stationen in der gesamten Stadt zur Verfügung stellt. Bis zu den Olympischen Spielen im kommenden Jahr soll jede Straße eine Radspur haben. Zusätzlich hat die Pariser Bürgermeisterin im vergangenen Jahr dafür gesorgt, dass es auf fast allen Straßen in der französischen Hauptstadt ein Tempolimit von 30 km/h gibt. Schon jetzt sind in einigen Pariser Vierteln Straßen an Sonn- und Feiertagen für den Autoverkehr komplett gesperrt. Last but not least gibt es einmal im Jahr einen autofreien Sonntag, der in der ganzen Stadt gilt.

Die Stadtverwaltung arbeitet bei der Planung und Umsetzung der «15-Minuten-Stadt» eng mit verschiedenen Fachabteilungen und Expert:innen zusammen. Dabei wurden die Pariser Bürger:innen von Anfang an aktiv in den Prozess mit einbezogen, um ihre Bedürfnisse und Anliegen zu berücksichtigen. Beispielsweise gab es öffentliche Konsultationen und Workshops, die es den Einwohner:innen ermöglichten, sowohl ihre Vorschläge zur Ausgestaltung der Stadt als auch ihre Bedenken zu äußern. Über extra dafür eingerichtete digitale Plattformen und Tools konnten sie eigene Ideen und Kommentare zu verschiedenen Komplexen der «15-Minuten-Stadt», wie öffentlichem Nahverkehr oder Grünflächen, einbringen. Zudem startete die Pariser Stadtverwaltung diverse Pilotprojekte, bei denen die Einwohner:innen aktiv an der Umgestaltung von Straßen und öffentlichen Plätzen beteiligt waren.

Natürlich gibt es auch kritische Töne zur Umsetzung des Konzepts der «15-Minuten-Stadt». Dazu zählt beispielsweise die Befürchtung, dass die Aufwertung von Wohnquartieren zu steigenden Immobilienpreisen führen könnte und sich die bereits seit längerem stattfindende Gentrifizierung verstärkt, also einkommensschwächere zu Gunsten von wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen verdrängt werden könnten. Denn höhere Mieten und Kaufpreise würden zu einer zunehmenden sozialen Ungleichheit führen. Hier muss die Stadtverwaltung tatsächlich noch adäquate Mittel und Lösungen finden, um sozialen Wohnraum zu schaffen und zu erhalten und die soziale Durchmischung zu fördern. Ein erster Schritt, dieser Entwicklung entgegenzusteuern, ist der von der Politik veranlasste Bau zehntausender neuer Sozialwohnungen. Zudem treibt einige die Sorge um, dass die Förderung von Fußgängerzonen und Fahrradwegen und die zu schnelle Sperrung von Autospuren zu einer Verkehrsüberlastung auf den verbleibenden Straßen führen könnte, da der öffentliche Nahverkehr nicht ausreichend ausgebaut sei, um die steigende Nachfrage zu bewältigen. 

Das Ganze ist also ein komplexer Prozess, bei dem unterschiedlichste Bedürfnisse aufeinanderprallen. Dabei sind auch die Themen Barrierefreiheit und Inklusion von großer Bedeutung. Doch trotz aller Hürden ist der Weg zur «15-Minuten-Stadt» in Paris bereits durch viele Maßnahmen geebnet. Wir werden die weitere Entwicklung gespannt beobachten!

Superblocks in Barcelona

Ein sehr gutes Beispiel für eine innovative Verkehrsplanung sind die Superblocks in Barcelona, mit deren Umsetzung im Jahr 2017 im Stadtviertel Poble Nou begonnen wurde. Dahinter steht die Vision von einer nachhaltigen und lebenswerten Stadt. Im Wesentlichen geht es darum, mehrere Straßenblöcke zu einem größeren Bereich zusammenzufassen und motorisierte Fahrzeuge deutlich zu reduzieren oder gar komplett zu verbieten. Dafür wird Fußgänger:innen, Fahrradfahrer:innen und öffentlichen Verkehrsmitteln oberste Priorität eingeräumt. Dies geschieht durch Geschwindigkeitsbegrenzungen und die Schaffung von verkehrsberuhigten Zonen – so ist z. B. bei zweispurigen Straßen nur noch eine für Autos befahrbar. Ein zentrales Merkmal der Superblocks ist die Förderung von Grünflächen und öffentlichen Plätzen.

Durch die Reduzierung des Fahrzeugverkehrs entsteht Platz für Bäume, Parks und Sitzgelegenheiten, die die Lebensqualität für die Bewohner:innen nachweislich verbessern. Diese kommen aufgrund des fehlenden Lärms und der auf sie zugeschnittenen Infrastruktur auch wieder öfters ins Gespräch – und Kinder haben mehr Platz zum Spielen. Zugleich werden Luftverschmutzung und Treibhausgasemissionen verringert. Zudem wird durch die Schaffung von Bürokomplexen und Gewerbegebieten in den jeweiligen Pariser Stadtvierteln die Konzentration von Arbeitsplätzen und Dienstleistungen gefördert, um kurze Wege zu ermöglichen. Alles im Sinne der «15-Minuten-Stadt».

Fotoserie: Superblock-Bereiche im Stadtbezirk Sant Martí


(Fotos by RdA-CH | Quelle: Flickr-Album | Lizenz: CC BY 2.0)

Es ist ein ambitioniertes Vorhaben: Denn die Stadtverwaltung von Barcelona hat die Errichtung von insgesamt 503 Superblocks beschlossen. Eine Studie des Gesundheitsinstituts «BCNecologia Barcelona» zeigt viele positive Entwicklungen seit der Schaffung von Superblocks auf. Als Beispiel sei hier der Stadtbezirk Les Corts genannt: Die Vorschläge für die Umgestaltung von Les Corts umfassten die Beruhigung der Straßen im Inneren des Stadtteils, die Neuorganisation der Mobilitätsnetze in Übereinstimmung mit den Leitlinien des Plans für nachhaltige urbane Mobilität (PMUS) von Barcelona, die Verbesserung der Energieautarkie durch Solarenergie und die Stärkung der städtischen Grüninfrastruktur und der Artenvielfalt. Die Ergebnisse zeigen, dass das Gebiet nach der Umwandlung beim Indikator „zufriedenstellende Werte“ von 53 auf 74 Prozent gestiegen ist. Eine sehr positive Entwicklung! Doch insgesamt bleibt noch viel zu tun für die Stadt, um die selbst gesetzten Ziele zu erreichen. 

Die Fahrrad-Stadt Kopenhagen

Kopenhagen hat sich das ambitionierte Ziel gesetzt, bis 2025 zu einer «15-Minuten-Stadt» zu werden. Schon jetzt verfügt die dänische Hauptstadt über ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrssystem aus Bussen, U-Bahnen und S-Bahnen sowie eine sehr fahrradfreundliche Infrastruktur. Es wird auch sehr auf eine klare bauliche Trennung der Spuren der einzelnen Verkehrsteilnehmer:innen geachtet, um für mehr Sicherheit und weniger Stress zu sorgen. Wie schon bei den Superblocks in Barcelona sollen Arbeitsstätten, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten und andere Einrichtungen von den jeweiligen Wohnorten der Menschen aus schnell ohne Auto erreicht werden können, um die Notwendigkeit von langen Pendelzeiten zu reduzieren. In der Innenstadt wurden die Straßen für den Autoverkehr größtenteils gesperrt und in Fußgängerzonen umgewandelt. Die vorhandenen Grünflächen, Parks und Gärten, die den Einwohner:innen zur Erholung und Freizeitgestaltung dienen, sollen weiter ausgebaut werden. 

Gefördert wird auch die «Sharing Economy», um den Bedarf an persönlichem Besitz zu reduzieren und den Zugang zu Dienstleistungen zu verbessern. Das beinhaltet das Car- und Bikesharing sowie andere Formen des geteilten Transports. Eine große Rolle spielt zudem die Elektromobilität. Viele Busse und Bahnen werden elektrisch betrieben und für Elektrofahrzeuge werden mehrere tausend öffentliche Ladestationen bereitgestellt.

Fotoserie: Die große Bedeutung des Fahrrads in Kopenhagen


In einem Punkt ist Kopenhagen schon jetzt weltweit führend: Es gilt als die fahrradfreundlichste Stadt auf dem Globus. Laut dem Copenhagenize Indexnutzten im Jahr 2019 rund 62 Prozent der Einwohner:innen das Rad als ihr Hauptverkehrsmittel – und legten dabei ca. 1,44 Millionen Kilometer Tag für Tag zurück! Es gibt eine Vielzahl an Fahrrad- und Fußgängerbrücken, die einzelne Stadtteile miteinander verbinden.

Die in den vergangenen Jahren geschaffenen und sich vom Stadtzentrum aus erstreckenden kilometerlangen Fahrrad-Highways sind sehr breit ausgelegt, verfügen über eine verbesserte Wegweisung und Beleuchtung, Reparaturstationen und zeitgesteuerte Kreuzungen.

Auch gibt es über die ganze Stadt verteilt unzählige Abstellvorrichtungen für Fahrräder – ob auf extra dafür vorgesehenen Parkinseln, in Parkhäusern, an Häuserwänden, an Bahnhöfen oder in Regionalzügen, in denen der Drahtesel kostenlos mitgeführt werden kann. Und bereits die Allerkleinsten sind fester Bestandteil der Mobilitätsplanung: So besitzen sehr viele Familien in Kopenhagen ein Lastenrad, mit dem sie ihre Kinder von A nach B bringen.

Schöne Impressionen aus Kopenhagen von Prof. Stefan Rahmstorf auf Mastodon:

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Der Vollständigkeit halber sei jedoch erwähnt, dass laut einem Berichtder dänischen Tageszeitung Berlingske die Bürger:innen im Jahr 2021 nur 21 Prozent aller Fahrten in Kopenhagen mit dem Rad erledigten – der niedrigste Stand seit 15 Jahren. Vermutet wird, dass dies zum einen an der Corona-Pandemie liegen könnte und zum anderen daran, dass die Fahrradwege auch für Scooter und Mopeds freigegeben wurden.

Nichtsdestotrotz liegt Kopenhagen weiter an der Spitze der fahrradfreundlichsten Städte und hat weitere Maßnahmen angekündigt, um den Titel zu untermauern. So will die Stadt bis 2025 die Grundlage dafür schaffen, dass 50 Prozent der Menschen ihre Arbeitswege mit dem Fahrrad zurücklegen – bis dato sind es bis zu 35 Prozent. Wir denken: Ambitioniert, aber machbar!

Vorbild auch für Deutschland?

Was lernen wir aus diesen Beispielen? Wo ein Wille ist, da ist auch ein (Fahrrad-)Weg! Dazu braucht es natürlich Politiker:innen, die die Notwendigkeit eines Umdenkens bei der Stadtplanung im Sinne des Klimaschutzes sehen und dieser Erkenntnis auch Taten folgen lassen. Konzepte und Ideen gibt es auch hierzulande viele, was engagierten Menschen wie der Stromrebellin und Mobilitätsexpertin Katja Diehl zu verdanken ist, die mit ihrem Buch «Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt» interessante Lösungsvorschläge präsentiert hat. Hier ein spannendes Interview mit ihr im EWS Energiewende-Magazin.

Gerade auf kommunaler Ebene gibt es zarte Ansätze für eine Mobilitätswende: Dazu gehören auch die Kiezblocks. Unser Mitarbeiter Robert hat einen interessanten Erfahrungsbericht mit einem Beispiel aus dem Komponistenviertel in Berlin-Weißensee geschrieben. Sehr interessant ist damit verbunden ein Projekt an der Fachhochschule Potsdam, das mittels einer interaktiven Karteveranschaulicht, inwieweit Berlin den Erfordernissen der «15-Minuten-Stadt» entspricht. Auch in anderen deutschen Städten gibt es vielversprechende Ansätze: Dazu gehört beispielsweise der Freiburger Stadtteil Vauban. Dieser wurde auf einem ehemaligen Kasernenviertel am Stadtrand nachhaltig konzipiert mit kurzen Wegen zu den Einrichtungen des täglichen Bedarfs. Und in Hamburg gibt es das Konzept der Stadtteilzentren. Dabei können die Bewohner:innen eigene Ideen und Vorschläge zur Ausgestaltung ihres Stadtteils einbringen, um die Nachhaltigkeit und Erreichbarkeit zu fördern.

All das sind zwar erfreuliche, aber auch überschaubare Entwicklungen im Vergleich zu anderen Ländern. Es braucht einen stärkeren politischen Willen für eine echte Wende in der Mobilität!

Abschließend noch eine empfehlenswerte Doku von der Deutschen Welle, in der unter anderem auf die Mobilitätswende-Entwicklungen in Paris und Barcelona eingegangen wird:

Fotoquellen

Infos zum Titelbild

  • Quelle: Adobe Stock | Autor: ikuday | Zu sehen: Superblocks in Barcelona


Genaue Angaben zu den Bildern aus Kopenhagen in der Reihenfolge der Fotoserie: