Überlandleitung
Energiewende verstehen

Im deutschen Stromnetz müssen immer mehr Ausgleichsmaßnahmen vorgenommen werden. Eine Studie im Auftrag der EWS zeigt Kosten und Lösungswege auf.

Steigende Kosten durch Redispatch

Nicht nur die Erzeugungsart bestimmt Ihren Strompreis, auch die Netzentgelte machen einen guten Teil davon aus. Doch da sie noch den Gesetzmäßigkeiten der alten Energiewelt unterliegen, sind die Kosten für den Stromtransport in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Warum genau, wollen wir in diesem Artikel einmal näher beleuchten:

Die Fiktion der Kupferplatte

Stromnetze bringen den Strom von dort, wo er erzeugt wird, dorthin, wo er gebraucht wird. Die Betreiber dieser Netze lassen sich für den Transport vergüten – diese Netzentgelte sind als Bestandteil jeder Stromrechnung eingepreist. Um bei der Liberalisierung des Strommarktes 1998 Chancengleichheit auf dem entstehenden Markt zu gewährleisten, wurde in Deutschland die «Fiktion der Kupferplatte» eingeführt: Unabhängig vom Standort sollen alle Marktteilnehmer gleichberechtigt Strom anbieten und abnehmen können. Man versprach sich davon eine hohe Wettbewerbsintensität und somit günstige Preise. Notwendig dafür ist anzunehmen, dass die Netzkapazitäten stets ausreichen, um den Strom so zu liefern, wie er gehandelt wurde.

Ungleichgewicht im deutschen Stromnetz
 

In der Realität ist diese Annahme jedoch nicht mehr zu halten. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien hat dafür gesorgt, dass Strom mitunter recht unterschiedlich verfügbar ist. An einem windstarken, aber bedeckten Tag wird beispielsweise im Norden in den On- und Offshore-Windkraftanlagen viel Strom erzeugt, während im Süden, in dem die Windkraft weniger ausgebaut ist, deutlich weniger fließt. Es bräuchte also viel Leitungskapazität, um den Strom vom Norden in den Süden zu transportieren.

Diese ist jedoch noch nicht vorhanden. Vor allem Bayern hat sich jahrelang stark gegen den Ausbau oberirdischer Stromleitungen gewehrt. Gleichzeitig sitzen die großen Stromverbraucher, also Industriebetriebe, eher im südlichen Teil Deutschlands, der zudem auch dichter besiedelt ist. 

Die Netzbetreiber haben die Aufgabe, die Stabilität der Netze zu jedem Zeitpunkt zu gewährleisten. Wenn das Netz droht, überlastet zu werden, können sie verschiedene Ausgleichsmaßnahmen vornehmen, also in den Stromtransport eingreifen. Man spricht hierbei vom «Engpassmanagement».

Steigende Kosten für Redispatch 
 

Eine davon, die immer öfter angewendet wird, ist der sogenannte Redispatch, übersetzt etwa: Änderung des Einsatzplans. Die Kraftwerke melden dem zuständigen Netzbetreiber täglich die erwartete Einspeisung für den kommenden Tag, die sie nach Faktoren wie erwartetem Erlös, Brennstoffkosten oder Wetterbedingungen bestimmen. Stellt der Netzbetreiber fest, dass partiell die Übertragungskapazität seines Netzes überschritten zu werden droht, kann er eine Änderung der Netzeinspeisung anordnen. Das kann am Vortag oder auch sehr kurzfristig nötig werden.

Grob gesagt wird dann dort, wo viel Produktion stattfindet, der Strom nicht mehr ins Netz eingespeist. Stattdessen wird an anderer Stelle – dort, wo viel Nachfrage herrscht – ein anderes Kraftwerk angeworfen, das zuvor nicht im Einsatzplan stand. Da den Stromproduzenten jedoch dadurch keine Nachteile entstehen sollen, erhalten sie ihre Vergütung auch für den nicht abgenommenen Strom. Letztlich werden dieselben Kilowattstunden also doppelt bezahlt: die abgeregelten wie die zusätzlich erzeugten. Die entstehenden Mehrkosten fließen in die Netzentgelte ein und werden so sozialisiert. 

Die EWS haben beim Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) eine Studie in Auftrag gegeben, die diesen Vorgang genauer betrachtet.

Die Kosten für Redispatch beliefen sich in 2022 auf 2,69 Mrd. Euro, was einem Anstieg von 2.345 Prozent gegenüber 2013 entspricht.

Die Auswertung von Daten der Bundesnetzagentur zeigte: Ausgleichsmaßnahmen zum Engpassmanagement werden immer häufiger notwendig. Der gesamte Bedarf ist 2022 im Vergleich zu 2021 um 19 Prozent auf 32.772 GWh angestiegen. Die Kosten hierfür beliefen sich 2022 auf 4,2 Milliarden Euro, wovon mit 2,69 Mrd. Euro alleine zwei Drittel auf den Redispatch zurückzuführen sind. Im Vergleich zu 2013 sind die Gesamtkosten um 1.900 Prozent angestiegen; die des Redispatchs haben sich sogar um 2.345 Prozent erhöht. Die gestiegenen Kosten für fossile Brennstoffe im Zuge der Energiekrise ab 2021 treiben die Netzentgelte zusätzlich in die Höhe (siehe Grafik oben).

Soziale und ökologische Folgen

Die steigenden Kosten für die Netzentgelte schlagen sich in den Stromrechnungen nieder. Sie betreffen besonders Privathaushalte, denn im Vergleich zu Gewerbe- und Industriekunden bezahlen diese deutlich höhere Netzentgelte, auf den Verbrauch gerechnet. 

EWS-Vorstand Sebastian Sladek kritisiert das: «Nicht nur, dass große industrielle Verbraucher im aktuellen System vom Bezug des kostengünstigen Windstroms aus dem Norden profitieren, sie werden zudem mit rabattierten Netzentgelten immer noch fürstlich dafür belohnt, Strom gleichmäßig zu verbrauchen, was bei dem wachsenden Anteil von volatiler Einspeisung heute aber gar nicht mehr sinnvoll ist.»

Die fehlenden Übertragungskapazitäten sind auch ein Problem für den Klimaschutz, da die Kraftwerke, die meistens im Zuge des Redispatch hochgefahren werden, fossile Brennstoffe verfeuern. Zwar gilt grundsätzlich der Einspeisevorrang für Erneuerbare, aber zur Stabilisierung des Stromnetzes kommen meistens Kohle- und Gaskraftwerke weiter zum Einsatz, wenn nicht genügend erneuerbarer Strom vorhanden ist. 2022 kam es durch die Ersatzerzeugung des Stroms mit fossilen Kraftwerken zu Mehremissionen von ca. 1,04 Mio. Tonnen CO2.

Was jetzt zu tun ist

Das Großprojekt «Stromtransport von Nord nach Süd» hinkt seit Jahren seinem ursprünglichen Zeitplan hinterher, jetzt wird es immerhin etwas konkreter: Der Baubeginn für die geplante 700 Kilometer lange Stromtrasse SuedLink fand im September statt, 2028 soll erstmals Strom fließen

Doch auf die große Unwucht im deutschen Strommarkt muss schon vorher reagiert werden, betont Sebastian Sladek: «Ein Weiter-wie-bisher zementiert nicht nur soziale und ökologische Missstände, sondern wird das System über kurz oder lang implodieren lassen, da Markt und Physik immer weiter auseinanderlaufen.» Die Autor:innen des FÖS haben daher ein paar Vorschläge gemacht, wie der Herausforderung jenseits des Netzausbaus zu begegnen ist. 

Die aktuelle Struktur der Netzentgelte kommt aus der fossil geprägten Vergangenheit und belohnt eine konstante hohe Nachfrage (z. B. bei Industriebetrieben). Das spiegelt jedoch nicht die Realität eines Stromsystems wider, das auf Erneuerbaren mit schwankender Erzeugung beruht. Darum müssen Anreize neu gesetzt werden, um Redispatch-Maßnahmen nicht so häufig notwendig zu machen.

Netzentgeltreform: Kosten gerechter verteilen und Flexibilität belohnen!

2022 waren die Netzentgelte für Haushalte fast dreimal so hoch wie für Industriekunden. Um mehr Gerechtigkeit nach dem Verursacherprinzip zu schaffen, plädieren die Autor:innen für eine grundsätzliche Reform der Netzentgeltsystematik, um die Systemkosten sowohl regional wie auch nach Verbrauchergruppen fairer zu verteilen.

Dadurch ließen sich sowohl Regionen entlasten, die bereits sehr viel installierte Leistung von EE-Stromerzeugungsanlagen errichtet haben, als auch die wachsende Belastung der privaten Verbraucherinnen und Verbraucher durch die steigenden Netzentgelte reduzieren.

Den Strom flexibel abzunehmen und erzeugungsnah dann zu verbrauchen, wenn viel davon vorhanden ist, kann die Netze entlasten und Systemkosten senken. Das kann etwa durch Batteriespeicher, Elektrolyseure oder angepasste Produktionsprozesse in Industriebetrieben geschehen. Auch hier gibt die Studie Hinweise, wie über die Anpassung der Netzentgelte Anreize für verbrauchseitige Flexibilitäten geschaffen werden können. Passenderweise berät dazu aktuell auch der Bundestag beispielsweise die Regelung «Nutzen statt Abregeln» im Rahmen einer Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes. 

Aufteilung in mehrere Preiszonen

So lange im Süden massenhaft Windstrom aus dem Norden eingekauft wird, ohne dass der Aspekt des Transports in die Kosten einfließt, gibt es keine Anreize, den Verbrauch nach der tatsächlichen Verfügbarkeit auszurichten. Eine Idee ist, den Stromhandel in mehrere Zonen aufzuteilen, also von der einheitlichen Preiszone abzulassen. Diese Idee ist nicht neu und hätte den Vorteil, dass der jeweilige Strommarkt die physikalische Realität besser abbildet: In Zonen, in denen es viel Strom gibt, wird der Strom billiger, also steigen zum Beispiel die Anreize für Großverbraucher, sich dort niederzulassen. Dafür würden dann in den Zonen, in denen Strom teurer wird, Anreize gesetzt, in erneuerbare Energieerzeugung und Leitungen zu investieren. Das Thema wird in der Politik bereits kontrovers diskutiert, die Haltungen der zu erwartenden Gewinner und Verlierer einer solchen Reform sind nicht überraschend.

Fazit

Immer mehr Strom in Deutschland wird erneuerbar hergestellt, und das ist gut so. Jedoch ist das Stromnetz noch nicht darauf ausgerichtet, was dies mit sich bringt. Der stetig steigende Einsatz von Netzausgleichsmaßnahmen belastet die Verbraucher:innen und das Klima. Darum müssen die Engpässe möglichst schnell behoben werden und die Regulierung der Stromnetze an die erneuerbare Energiewelt angepasst werden. Darüber hinaus müssen Netze für die neue Energiewelt fit gemacht werden – was nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine große Aufgabe ist. Und natürlich führt kein Weg daran vorbei, dass die südlichen Regionen beim Ausbau der Windkraft aufholen müssen. 

Fotos: Adobe Stock
Grafiken: Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS)