Die Bilder gingen um die Welt: Am 11. März 2011 verursachte ein Erdbebender Stärke 9,0 vor der Küste Japans einen Tsunami von einem bis dato ungekanntem Ausmaß. Zwei Flutwellen von bis zu 15 Meter Höhe brachen über die Küste herein und verursachten Verwüstungen bis weit ins Landesinnere. Im Atomreaktor Fukushima Dai-Ichi wurden die Kühlsysteme zerstört, es kam zur Kernschmelze.
Der Super-GAU löste in Japan, das noch im Vorjahr eine schrittweise Anhebung des Atomstrom-Anteils am Strommix bis auf 50 Prozent im Jahr 2030 beschlossen hatte, eine Neubewertung der Kernenergie aus. Das Land vollzog einen Atomausstieg im Eiltempo. Atomanlagen, die zur Überprüfung vom Netz genommen wurden, gingen nicht wieder ans Netz. Am 6. Mai 2012 wurde der letzte der 54 Reaktoren des Landes außer Betrieb genommen. Im Vergleich zum Jahr 2010 fehlten dem Land dadurch 35 GW an Erzeugungskapazität – Atomkraftwerke hatten 30 Prozent der japanischen Stromversorgung abgedeckt.
Umgang mit der Energiekrise
Die Tsunami-Katastrophe des 11. März hat die japanische Energieversorgung schwer getroffen. Nicht nur die havarierten Atommeiler in Fukushima, sondern auch mehrere Kohlekraftwerke in Küstennähe wurden bei dem Unglück zerstört. Zusammen gingen landesweit ca. 25 Gigawatt an Stromerzeugungs- und Transportkapazität verloren.
Der Stromversorger TEPCO (Tokio Electric Power Company) reagierte auf die Kapazitätseinbußen zuerst mit sogenannten rollierenden Blackouts, also kontrollierten Abschaltungen: Dabei wurde den Gebieten im Großraum Tokio im Wechsel für je drei Stunden der Strom komplett abgeriegelt. Dies hatte jedoch viel Verwirrung, Unmut und Chaos zur Folge, besonders im Verkehrssektor, da auch der öffentliche Nahverkehr durch die Stromabschaltungen zum Erliegen kam. Die mangelhafte Kommunikation über Zonengrenzen und Abschaltzeiten tat ihr Übriges, sodass diese Maßnahme ab dem 28. März nach zwei Wochen wieder beendet wurde.
Die ausgefallenen Stromerzeugungskapazitäten wurden durch das Errichten und Hochfahren anderer Kraftwerkstypen – besonders Flüssiggas (LNG) – ausgeglichen. Dennoch fehlte zum Sommer immer noch durchschnittlich über 10 Prozent Leistung, um der prognostizierten Stromnachfrage gerecht zu werden. Besonders durch Klimaanlagen erwartet Japan alljährlich ein Ansteigen der Stromnachfrage zum schwülen Sommer.
Um einem Kollaps der Stromnetze zuvorzukommen, wurde das Setsuden-Programm ins Leben gerufen. Dieses Wort lässt sich mit „Stromsparen“ übersetzen. Die TEPCO appellierte mit einer breit aufgestellten Kampagne an die Bevölkerung, den eigenen Energiekonsum zu reduzieren. Bald fanden sich im gesamten Großraum Tokio Schilder mit Spar-Appellen, und auch sonst schlug sich das Sparprogramm sichtbar im Tokioter Stadtbild nieder.
Behördliche Vorgaben
Am 13. Mai 2011 verabschiedete die Regierung das National Power Saving Edict, das Großverbrauchern (über 500 kWh) eine Einsparung von 15 Prozent verordnete; kleineren kommerziellen Verbrauchern und Privathaushalten wurden 10 Prozent Einsparung nahegelegt.
Das Umweltministerium und der Gouverneur von Tokio strebten sogar eine Reduzierung um 25 Prozent an. Mangels Kontrollmöglichkeiten war jedoch keine Sanktionierung vorgesehen für den Fall, dass diese Ziele nicht erreicht werden würden. Mit dem Stromsparen wurde jedoch schon zuvor begonnen - als direkte Reaktion auf die Infrastrukturschäden des 11. März. Dies wurde auch als Gebot der gesellschaftlichen Solidarität verstanden.
Breites Bündel an Maßnahmen
Um Strom zu sparen, schalteten Geschäfte freiwillig Rolltreppen, Fahrstühle und Werbetafeln aus. Die Stadt verzichtete auf das Anstrahlen von Wahrzeichen. Tokio, nachts sonst immer ein buntes Lichtermeer, zeigte sich plötzlich im Halbdunkel. Elektronikgeschäfte ließen ihre Vorführgeräte ausgeschaltet, die Kühltemperatur der Klimaanlagen wurde gedrosselt.
Auch das Arbeitsleben wurde im Zuge des neuen Energiesparzwangs anders organisiert. So verlegten beispielsweise manche produzierenden Betriebe die Erholungstage ihrer Mitarbeiter:innen in die Woche, um die geringere Stromnachfrage an den Wochenendtagen zu nutzen. Andere organisierten das Schichtsystem neu, um verstärkt zu Zeiten mit geringer Stromnachfrage produzieren zu können - oder gewährten ihrer Belegschaft verlängerte Sommerurlaube. Arbeitsrechner wurden durch energiesparende Tablet- oder Laptop-Geräte ersetzt, und viele Betriebe brachten PV-Anlagen an.
Arbeitnehmer:innen wurden aufgerufen, ins Büro ihre eigenen kühlen Getränke mitzubringen, um die in Japan omnipräsenten Verkaufsautomaten abzuschalten, deren ständiger Kühlbetrieb einen nicht unerheblichen Verbrauch ausmacht.
Und auch die Kleiderordnung wurde gelockert: Die «Super Cool Biz»-Kampagne (sūpā kūru bizu) bewarb leichtere Kleidung am Arbeitsplatz, mit der eine geringere Klimatisierung der Büros erträglicher werden sollte. Mit T-Shirts oder Sandalen zur Arbeit zu erscheinen, war für viele vor 2011 undenkbar gewesen.
Die Kampagne, getragen und organisiert durch Regierungsbehörden, umfasste ein breites Informationsangebot auf vielen Kanälen. Auch die damals noch jungen Social-Media-Plattformen wurden intensiv bespielt und deren Vorteile genutzt.
Erfolge des Setsuden-Programms
Die Statistiken zeigen, dass die Sparziele des Landes nicht nur eingehalten, sondern sogar übertroffen wurden: Im Großraum Tokio schrumpfte die durchschnittliche Spitzennachfrage sogar um 19 Prozent, die Lastreduktion um 14 Prozent. Der sommerliche Spitzenverbrauch ging von 60 Gigawatt im Juli 2010 zurück auf 49 Gigawatt im August 2011.
Landesweit ging der Stromverbrauch 2011 um sechs Prozent zurück, das angeschlagene Stromnetz konnte zu jeder Zeit aufrechterhalten werden.
Die Tendenz zu sparsamerem Verhalten konnte auch in den folgenden Jahren noch aufrechterhalten werden (siehe Grafik).
Was können wir aus Setsuden lernen?
Die japanische Energiesparkampagne wird bis heute als Beispiel für eine gut funktionierende Mobilisierung zitiert. Unter dem Eindruck der Fukushima-Katastrophe hat die japanische Gesellschaft ihre Anpassungsfähigkeit gezeigt, ihr Verbrauchsverhalten stellenweise sogar dauerhaft verändert und so mitgeholfen, zugunsten der Allgemeinheit einen Versorgungsengpass zu überwinden.
Die umfassende Informationskampagne hielt das Thema Energiesparen präsent im Gedächtnis: TEPCO versorgte die Bevölkerung mit einem tagesaktuellen Strombericht, ähnlich dem Wetterbericht, und informierte so über die erwartbare Stromversorgungslage. Nicht vergessen werden darf dabei, dass im Zuge der Stromknappheit 2011/12 auch die Strompreise stark angestiegen sind und Energiesparen schon aus wirtschaftlichen Gründen ein handfestes Eigeninteresse darstellte.
Hilfreich war sicher auch der allgemeine Geist der Solidarität, gerade im Angesicht des Schreckens der Tsunami-Katastrophe. Von Gruppierungen, die das Thema ausnutzten, um wie in Deutschland gegen die Regierung Stimmung zu machen, ist uns nichts bekannt.
Gefunden haben wir hingegen ein Zitat, das die besondere Ausgangslage des Landes auf den Punkt bringt: «Da die Europäer durch ihre Stromnetze miteinander verbunden sind, haben sie vielleicht noch das Gefühl, Hilfe kommt immer von irgendwoher», wird Koichiro Tanaka vom japanischen Institut für Energiewirtschaft zitiert. «Hier in Japan haben wir diesen Luxus nicht. Es gibt nur uns.»
Fotos: Jeffrey Isaac Greenberg (Alamy), Abdulla Binmassam(Pixabay)
Quellen:
Lindner, Robert: Setsuden. Die Energiekrise und gesellschaftliche Stromsparanstrengungen nach Fukushima. In: Japan Jahrbuch 2014, VSJF - Vereinigung für sozialwissenschaftliche Japanforschung e.V.
Luhmann, Hans-Jochen: Die Sozialtechnik Setsuden. Wie Japan nach Fukushima mit dem Verdacht eines Common Mode Failures umgegangen und über den Sommer 2011 gekommen ist. In: ifo Schnelldienst 12/2012.
ORF.at: Energiesparen auf japanische Art
Fundscene: Projekt «Setsuden» – Energiesparen in Japan als Vorbild für Europa