Stell Dir vor, Du betreibst Kohle- und Atomkraftwerke und jedes Jahr im April sind die Zeitungen voll mit negativer Presse zur Atomenergie, weil sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April jährt. Was tust Du, wenn Dir die Kund:innen in Scharen davonlaufen? Wenn mit jeder Frühjahrswelle von Super-GAU-Reportagen weitere Menschen auf die Idee gebracht werden, sich vom Atomstrom zu befreien?
Kultur für und gegen Greenwashing
Da könnte man doch auf die Idee kommen, dieses wiederkehrende Ärgernis mit freundlicher Berichterstattung zum eigenen Unternehmen aus den Medien zu verdrängen. Als Konzern engagiert man für solche Aufgaben eine PR-Agentur. In diesem Fall eine, die von sich sagt: «Wir produzieren faszinierende Geschichten». Mit einer umtriebigen Agentur-Chefin, die damit wirbt «Kontakte in die Welt der Literatur, Kunst, Wissenschaft und Musik» zu vermitteln.
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Die Greenwash-Strategie ging auf. Sie funktionierte solange, bis sich im März 2011 mit der Dreifach-Kernschmelze von Fukushima ein weiterer Atomkatastrophen-Gedenktag vor den «kulturellen Frühling» schob und so das geniale Lobby-Timing zerschredderte. Dazu kam, dass die Anti-Atom-Bewegung – aufgeschreckt durch die Laufzeitverlängerung von 2010 – selbst aktiv geworden war und mit literarischen Konkurrenzveranstaltungen das atomare Saubermann-Image nachhaltig ankratzte.
Es war Günther Grass, der mit dem Vorschlag haderte, in den heiligen Hallen der Großstadt zu performen. Er fand es passender, das Gegen-Kultur-Fest vor dem nahgelegenen AKW Krümmel steigen zu lassen. Weder er noch die Veranstalter konnten im Herbst 2010 ahnen, dass wenige Monate später die nächsten 3 AKW in die Luft fliegen würden. Und so sorgten im April 2011 die Erneuerbaren Lesetage vor dem AKW Krümmel erstmals für Furore. Unter dem Motto «Lesen ohne Atomstrom» erlebten 2000 Gäste Musiker:innen, Kabarettist:innen, Bestsellerautor:innen und Wissenschaftler:innen. Bekannte Namen wie Nina Hagen, Günter Grass, Jan Delay, Iris Berben, Udo Lindenberg, Hannes Jaennicke, Elke Heidenreich u. v. m. sorgten seitdem für Frühjahrs-Schlagzeilen.
Das Lesefestival der Zivilgesellschaft, bei dem sich Jahr für Jahr alle Beteiligten ehrenamtlich und als glühende Überzeugungstäter:innen engagieren, hat das teure Greenwash-Spektakel überlebt. Seit 13 Jahren ist Lesen ohne Atomstrom «Kulturversorger der Metropolregion Hamburg» (Hamburger Abendblatt) wo «immer wieder Superstar-Pop auf Nobelpreis-Noblesse trifft». Ohne Sponsoren, ohne Parteien. Für ein anderes Kulturverständnis, für das Ende des nuklearen Zeitalters.
Erster Jahrestag des Atomausstiegs gefeiert
Inzwischen haben mehr als 43.000 Menschen 364 namhafte Künstler:innen live in 97 Veranstaltungen gesehen. Zur Feier des 1. Jahrestags des deutschen Atomaustiegs präsentierte ein Star-Ensemble am 15. April 2024 sein neues Hörbuch als konzertante Lesung. Barbara Auer, Johanna Christine Gehlen, Anna Thalbach, Johann von Bülow und Walter Sittler sowie Zeitzeug:innen verschiedener Generationen würdigten die vielen, die auf sehr unterschiedliche Weise vor und hinter den großen Bühnen zum Erfolg des Atomausstiegs beigetragen haben. Mit musikalischen Intermezzi von Abi Wallenstein und Günther Brackmann sowie mit erinnerungsweckenden Foto- und Video-Projektionen wurde der historische Streifzug durch die kunterbunte Geschichte der Anti-Atom-Bewegung zu einem Fest für alle Sinne.
Ein Fest für eine Bewegung, die das nukleare AUS! mit allen Mitteln ihrer taktisch gewollten Vielfältigkeit über ein halbes Jahrhundert erkämpft hat. Ein Kulturfest, das auch in Süddeutschland, nahe der Schweizer Grenze Mut machen kann – jetzt, da die Eidgenössischen Atomkonzerne laut über Laufzeitverlängerungen für ihre altersschwachen grenznahen AKW nachdenken.
Fotos: Andreas Conradt
Kostenloses Hörbuch
Nach dem Bühnenevent ist das neue Hörbuch online abrufbar und unter lesen-ohne-atomstrom.de als CD bestellbar – kostenlos, so lange der Vorrat reicht.
Einen Auszug aus der Buchvorlage hat der Kulturjoker hier veröffentlicht.