Das Motto «Klimaschutz braucht Demokratie» wird bei der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament besonders bedeutsam. Schließlich gehen von der EU machtvolle gesetzgeberische Impulse aus, deren Resultate sich auf unser aller Alltag und Zukunft auswirken. Doch für viele Menschen erscheint die Arbeit des EU-Parlaments abstrakt und weit weg von der eigenen Lebensrealität. Mit erschreckender Konsequenz: Gerade mal jeder zweite Mensch unter dreißig hat überhaupt vor, bei der Europawahl seine Stimme abzugeben.
Darum haben wir mal ein paar deutsche EU-Abgeordnete gefragt, was diese Wahl zum Europa-Parlament eigentlich für jede:n von uns bedeutet.
Rede und Antwort standen uns Anna Cavazzini (Bündnis 90/Die Grünen), Damian Boeselager (VOLT), René Repasi (SPD) und Jutta Paulus (Bündnis 90/Die Grünen). Vielen Dank dafür!
Warum ist die Wahl zum Europaparlament so wichtig?
Damian Boeselager: Das Europaparlament entscheidet über fast drei Viertel der Gesetze, die uns Bürger:innen direkt betreffen. Das Parlament agiert in 85 Prozent der Gesetzesvorschläge der Europäischen Kommission mit gleicher Verantwortung und Gesetzgebungsmacht wie der Rat der Europäischen Union. Doch kann man, im Gegensatz zu den Ratsexperten, die Abgeordneten direkt wählen und kontaktieren. Es gibt im Europaparlament keine wirkliche Regierungsmehrheit, sondern jede:r Europaabgeordnete:r hat die Chance, Gesetze mitzugestalten und zu beeinflussen.
Anna Cavazzini: Es geht bei der Wahl am 9. Juni 2024 um nicht weniger, als unseren Frieden und Wohlstand in Europa zu erhalten und auszubauen. Mit oft kleinteiligen Gesetzen in der EU regeln wir Glühbirnen oder das Ladekabel. Aber das ist eben auch die große Stärke der EU – sie setzt auf gemeinsame Regeln und Verhandlungen statt Konflikte. Und mit europäischen Gesetzen verbessern wir den Alltag der Menschen und Unternehmen in Europa ganz konkret.
Doch ein friedliches und starkes Europa ist alles andere als selbstverständlich. Gerade in Zeiten des Rechtsrucks zählt bei der Wahl jede Stimme für die Demokratie. Diese Wahl ist eine Richtungswahl. Denn der Aufschwung der AfD und ihrer rechten europäischen Schwesterparteien ist eine große Gefahr für die europäische Idee und die Sicherheit in Europa.
«Mit europäischen Gesetzen verbessern wir den Alltag der Menschen und Unternehmen in Europa ganz konkret.»
Jutta Paulus: Das Europaparlament ist das einzig direkt gewählte Gremium auf der europäischen Ebene und ist an allen Gesetzesentscheidungen beteiligt. Wir sehen in Europa gerade einen Rechtsruck. Die Fraktion «Identität und Demokratie», in der sich die AfD und ähnlich gelagerte Parteien versammeln, könnte drittstärkste Kraft werden. Die würden natürlich versuchen, alles, was irgendwie in eine progressive Richtung geht, zu blockieren. Darum ist es so wichtig, wählen zu gehen, um die demokratischen und proeuropäischen Kräfte in der EU zu stärken. Jede Stimme zählt!
René Repasi: Grundsätzlich ist es immer wichtig, zur Wahl zu gehen. Das Wahlrecht ist ja nicht selbstverständlich. Im Fall der EU ist es wichtig, weil die Herausforderungen, denen wir begegnen müssen, sich immer weniger um Grenzen scheren: Die Pandemie erfasst den ganzen Globus, woanders sollen Grenzen mit Gewalt verschoben werden, und die Erderwärmung heizt den gesamten Planeten auf. Wo die Probleme sich nicht an Grenzen halten, kann ein Denken in Grenzen keine Lösung bieten. Von daher ist es wichtig, dass es die EU gibt, aber es ist auch wichtig, dass die Entscheidungen demokratisch kontrolliert werden und nicht im Hinterzimmer ausgehandelt werden. Dazu bedarf es des Parlaments, damit Entscheidungen von einer solchen Tragweite auf demokratische Weise zustande kommen.
«Wo die Probleme sich nicht an Grenzen halten, kann ein Denken in Grenzen keine Lösung bieten.»
Was bedeutet die Wahl für die Klimaschutzziele der EU?
Damian Boeselager: Nachdem der Green Deal von Frau von der Leyen vorgeschlagen wurde, ist diese europäische Wahl ein Art Test für die ambitionierten Klimaziele der Kommission. Die Konservativen im Europaparlament haben im letzten Jahr bereits angefangen, gegen die Vorschläge abzustimmen und Druck auf die Kommission auszuüben.
Außerdem wird es ein Test für klima-aktive/ambitionierte Parteien in ganz Europa zu zeigen, ob diese Thematik noch immer für Europäer:innen eine Priorität sind, wie sie es 2019 war. Ein Europaparlament, das eine Mehrheit klimaskeptischer oder gar -feindlicher Parteien hat, kann die Klimaziele der EU in Bedrängnis bringen.
Anna Cavazzini: Die Klimakrise ist längst in Europa angekommen. Die europäische Antwort auf die Klimakrise ist der Green Deal - das größte Klimaschutzprogramm in der Geschichte des Kontinents. Wir haben so die EU endlich auf den Weg der Klimaneutralität gebracht. Wir konnten erfolgreich viele wichtige Gesetze für effektiven Klimaschutz im Rahmen des Green Deals auf den Weg bringen.
Um die Ziele des Green Deals zu erreichen, brauchen wir eine grüne Industriepolitik zum Beispiel für den Ausbau nachhaltiger Energieinfrastruktur in Europa. Doch Konservative und Rechte Parteien versuchen stattdessen aktuell, den Green Deal aufzuweichen und seine Gesetze zu stoppen. Wir als Grüne kämpfen daher weiterhin für echten Klimaschutz und eine verlässliche Umsetzung des Green Deals.
Schon jetzt zählt bei den Abstimmungen im Parlament jede Stimme. Zum Beispiel konnten wir die Verhandlungen zum Gesetz zur Renaturierung der Natur mit 312 zu 324 Stimmen im Juli 2023 nur knapp vor dem Aus retten. Ein einziges Kreuz kann dazu beitragen, dass die Natur in Europa besser geschützt wird. Sollten die Anti-Europäischen Kräfte stärker werden, wird es sogar noch knapper. Der 9. Juni ist deshalb nicht nur ein entscheidender Tag, um gegen den Rechtsruck aktiv zu werden, sondern auch für den Klima- und Naturschutz in der EU.
«Wir sehen sehr viele Tendenzen, Naturschutz- und Klimaschutzziele abzuschwächen und Gesetze wieder zurückzunehmen.»
Jutta Paulus: Wir sehen sehr viele Tendenzen, Naturschutz- und Klimaschutzziele abzuschwächen und Gesetze wieder zurückzunehmen, Stichwort: Verbrenner-Aus. Es gibt auch die Bestrebung, die Atomkraft mit den Erneuerbaren gleichzusetzen. Sprich: Staaten können, anstatt die Erneuerbaren auszubauen, das Geld in teure Atomprojekte stecken – eine Richtung, die nicht nur wir Grüne für einen fatalen Irrweg halten.
Der Green Deal, den Frau von der Leyen ausgerufen hat, ist bislang im Wesentlichen ein Energie- und Klima-Deal geblieben, die anderen Themen wie Artensterben, nachhaltigere Landwirtschaft oder Umweltverschmutzung sind bestenfalls zaghaft angegangen worden. Und leider werden gerade agrarökologische Maßnahmen wie Erosionsschutz, Rückzugsflächen für Bestäuber oder Fruchtfolge-Vorschriften nach den landwirtschaftlichen Protesten wieder zurückgeschraubt und nur auf «freiwillig» gesetzt. Das gefährdet langfristig unsere Lebensgrundlagen und die Ernährungssicherheit, aber es zeigt schon das allgemeine Stimmungsbild. Darum ist es wichtig, ein progressives europäisches Parlament zu erhalten.
René Repasi: Was wir in den letzten fünf Jahren mit dem Green Deal hinbekommen haben, ist schon außerordentlich. Wir haben unsere Wirtschaft mit ambitionierten Zielen auf Dekarbonisierung eingestellt, und zwar mit ambitionierten Zielen. Da haben wir vieles an Gesetzgebung durchbekommen, was manche gar nicht erwartet hätten – die Verschärfung des Emissionszertifikatehandels, das Verbrenner-Aus, Gebäudeenergie-Effizienzvorgaben, ein massives Investitionsprogramm für die Erneuerbaren Energien …
Nun ist es aber nicht so, dass der Beschluss eines Gesetzes alleine ausreichen würde, die Klimakrise einzudämmen. Deswegen kommt es jetzt darauf an, dass die Gesetze mit konkreten Maßnahmen hinterlegt werden und dabei im Ambitionsniveau nicht nachgelassen wird. In den kommenden fünf Jahren müssen wir sehen: Werden die Dinge umgesetzt? Wir brauchen massive Investitionsprogramme, da viele europäische Staaten die Transformation, die eine gesamteuropäische Aufgabe ist, alleine nicht packen würden.
Angesichts der enormen Anstrengungen gibt es einige Kräfte, die sich lieber wieder hinsetzen würden und meinen, wir könnten den Marathon immer noch in einer halben Stunde laufen. Können wir aber nicht. Darum ist die größte Gefahr, dass sich eine Mehrheit dafür findet, das Ambitionsniveau wieder nach unten zu schrauben. Nur: Wenn wir jetzt nachlassen, werden wir den Kampf gegen den Klimawandel verlieren.
«Ein Europaparlament, das eine Mehrheit klimaskeptischer oder gar -feindlicher Parteien hat, kann die Klimaziele der EU in Bedrängnis bringen.»
Welche Beschlüsse oder Gesetze aus der letzten Legislatur waren für Sie persönlich besonders wichtig?
Damian Boeselager: Das ist eine schwierige Frage, denn mir haben viele Gesetze etwas bedeutet. Ich nehme eins aus jedem Ausschuss, in dem ich gearbeitet habe. Erstens: Die Reform des europäischen Wahlrechts. In der Parlamentsposition haben wir eine pan-europäische Zweitstimme verankert – das erste Mal, dass das Parlament eine solche Stimme unterstützt seit den ersten Versuchen in den 90er Jahren.
Zweitens: Europäischer Talentpool. Basierend auf meinem Vorschlag von 2020 hat die Europäische Kommission ein Gesetz für einen europaweiten Talentpool vorgeschlagen. Da haben die Arbeiten erst jetzt begonnen, aber wir werden sie in der nächsten Legislaturperiode fortsetzen.
Drittens: Data Act. Wir haben die Regeln für den Austausch für nicht-personenbezogene Daten wettbewerbsfähig gemacht und KMUs mehr Teilhabe am Datenmarkt ermöglicht.
Viertens: Ukraine Facility. Wir haben starke Konditionen für die Ausschüttung der 50 Mrd. Euro geschaffen, sodass europäische Gelder der Ukraine helfen, sich nachhaltig, regional und digital zu entwickeln.
Jutta Paulus: Erstens: Die Schifffahrt wird im Emissionshandel mit erfasst – endlich! Zweitens: Wir haben Regeln für nachhaltigere Treibstoffe für Schiffs- und Flugverkehr vereinbart, wo – man glaubt es kaum – wir Grüne für die E-Fuels gekämpft haben. Aber hier braucht man sie auch wirklich, weil man mit dem Schiff eben nicht batterieelektrisch von Shanghai nach Rotterdam kommt. Da wird es jetzt Quoten geben, und das bringt Veränderungen mit sich, die nur über den CO2-Preis nicht zu erreichen gewesen wären.
Der dritte große Punkt ist die Methanverordnung. In dieser werden Öl-, Kohle- und Gasunternehmen verpflichtet, ihre Emissionen nach bestimmten Regularien zu erfassen und zu berichten. Sie müssen Lecks, beispielsweise in Pipelines, suchen und reparieren. Und das Gute ist: Wir haben es geschafft, dass diese Vorgaben auch auf die Importe stufenweise ausgedehnt werden. Und wenn sich alle Importländer daran halten, brächte das eine Emissionsreduktion von umgerechnet 400 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten. Das sind ungefähr 60 Prozent der CO2-Emissionen von Deutschland, das macht also einen riesigen Unterschied, und darauf bin ich besonders stolz.
«Mit der Methanverordnung erreichen wir eine Emissionsreduktion von umgerechnet bis zu 400 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten.»
Anna Cavazzini: Mich treibt der Kampf für Menschenrechte und eine nachhaltige Wirtschaft an. Besonders wichtige Gesetze dieser Legislatur sind für mich daher das EU-Lieferkettengesetz und das Verbot für Produkte aus Zwangsarbeit. Beide sind ein Meilenstein im Schutz von Umwelt und Menschenrechten weltweit. Endlich legen wir der Ausbeutung in unseren Lieferketten den Riegel vor. Verbraucher:innen können sich sicher sein, dass ihr T-Shirt oder der Kaffee nicht mehr unter Zwangsarbeit hergestellt wurde. Und Unternehmen haben endlich europaweit klare Regeln und gleiche Wettbewerbsbedingungen.
Als Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz habe ich in den vergangenen fünf Jahren viele Gesetze für eine echte Kreislaufwirtschaft und die Verbraucher:innen auf den Weg gebracht. Mit dem Recht auf Reparatur oder dem einheitlichen Ladekabel sorgen wir dafür, dass Reparieren leichter und günstiger wird. Das spart wichtige Ressourcen, schützt das Klima und schont den Geldbeutel.
René Repasi: Da ich nachgerückt bin, war ich nicht an allen Entscheidungen der letzten Legislatur beteiligt. Von denen, bei denen ich mit abstimmen durfte, waren die Entscheidungen zum Verbrenner-Aus und der Einführung des neuen Emissionszertifikatehandels sicherlich sehr wichtig. Für mich persönlich, weil das mein erstes eigenes Gesetzgebungsverfahren als Verhandler des Europäischen Parlaments war, sticht das Recht auf Reparatur heraus. Da erzeugen wir mit der Transformation der Wirtschaft in eine echte Kreislaufwirtschaft eine Win-Win-Win-Situation. Es hilft der Umwelt und dem Klima, stärkt die Rechte der Verbraucher:innen und schont ihren Geldbeutel, und stärkt die kleinen mittelständischen Unternehmen, die reparieren können und wollen. Dass es uns da als Parlament gelungen ist, das Ambitionsniveau nach oben zu schrauben und meiner Meinung nach echte Verbesserungen gebracht hat, das hat mich durchaus stolz auf die Arbeit des Parlaments gemacht.
Titelfoto: Europäisches Parlament | by Edda Dietrich/Mehr Demokratie auf Flickr| Lizenz: CC BY-SA 2.0 DEED
Weiterführende Links
- Anna Cavazzini – offizielle Website
- Damian Boeselager – offizielle Website
- Jutta Paulus – offizielle Website
- René Repasi – offizielle Website