Wir haben dem Tag lange entgegengefiebert, dem Tag, an dem anlässlich der Leipziger Buchmesse die deutsche Übersetzung des französischen Bestsellers «Die Gewerkschafterin» erscheint. Es geht um die wahre Geschichte von Maureen Kearney, die dubiose Machenschaften in der französischen Atomindustrie aufgedeckt hat. Um die Whistleblowerin einzuschüchtern, wurde sie aufs Übelste misshandelt.
Anstatt die Tat aufzuklären und das feige Kommando, dessen Verbindungen bis in die höchsten Konzernebenen weisen, dingfest zu machen, setzten weitere Täter:innen aus Politik, Wirtschaft, Justiz und Polizei ein übermächtiges Räderwerk in Gang, das die engagierte Frau mit perfiden Anschuldigungen in die Knie zwingen will. Über die schier unfassbaren Hintergründe des Staatsskandals, der kriminellen Energie in der Atomwirtschaft, haben wir hier ausführlich berichtet.

Eine Geschichte wie aus Putins Russland
Die IG Metall Jugend Leipzig hatte ins Luru-Kino eingeladen. Auf dem beeindruckenden Gelände der alten Spinnerei aus dem Jahr 1884 wurde zunächst der Film zum Buch mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle gezeigt. Im Anschluss lauschten die Zuschauer:innen im voll besetzten Kinosaal dem Filmgespräch mit der Gewerkschafterin Maureen Kearney, gegen die man gezielt sexualisierte Gewalt als Waffe einsetzte, um sie zum Schweigen zu bringen, zu traumatisieren, sie psychisch zu zerstören.
Und mit der mutigen Caroline Michel-Aguirre, die immer wieder ungläubig gefragt wird: «Ist das wirklich passiert? Wo, in Putins Russland?» Dieses Entsetzen der Fragenden kann sie bis heute nachempfinden, «gepaart mit einer gewissen Wut. Wie kann es sein, dass in dem Land, in dem ich lebe, diese Ereignisse stattgefunden haben, und sich fast niemand darum gekümmert hat?» Sie hat intensiv für ihr Buch recherchiert, «damit Maureens Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Mir schien, dass wir unsere Menschlichkeit verlieren würden, wenn wir alle gemeinsam weitermachen wie bisher und so tun würden, als wäre nichts geschehen. Dieser Gedanke war für mich unerträglich.»
Was unter dem Teppich bleiben sollte
Natürlich wollte man auch die Journalistin zum Schweigen bringen, sie berichtet von mehreren Begebenheiten, aus denen sehr deutlich wird, dass ihre Aufklärungsarbeit u.a. dem damaligen Chef der Électricité de France (EDF), Henri Proglio, ein Dorn im Auge war. Ein Wendepunkt war die Zusage der Schauspiel-Ikone Isabelle Huppert, die Hauptrolle in der Verfilmung des Reality-Thrillers zu übernehmen. Schlagartig wurden diejenigen, die Michel-Aguirre unter Druck setzen wollten, still. Dieses Schaulaufen konnten sie nicht gewinnen.
In diesem Moment wurde vielen Zuhörenden in Leipzig klar, welche Signalwirkung das internationale Interesse an Maureen Kearneys Geschichte in Frankreich hat, wo noch immer ein «ohrenbetäubendes Schweigen der wichtigsten Akteure dieser Geschichte» herrscht, so die Journalistin. «Kein einziger Politiker hat mich jemals kontaktiert, seitdem das Buch erschienen ist. Kein hochrangiger Mitarbeiter von Areva oder EDF. Weder Polizisten noch Richter. Kein Parlamentarier*, der einen Untersuchungsausschuss eröffnet hätte. Kein Staatsanwalt, der sich mit dem Fall befassen würde.»
Doch das Wegducken wird aufgrund des internationalen Interesses schwieriger. Der Film wurde in etwa 30 verschiedenen Ländern gezeigt und gewann eine Reihe von Preisen. Die deutsche Synchronfassung gibt’s auf DVD im Buchhandel (EAN / ISBN-: 4061229368506) oder bei Streaming-Diensten. Die italienische Synchronfassung «La verità secondo Maureen K» lief im März im Abo-TV, wenige Tage später lief eine Filmvorführung in London, die deutsche Buchübersetzung ist erschienen. Weitere Veranstaltungen sind geplant: in Frankfurt am 23.5.2025 und Zürich am 9.5.2025, mit einem Setting, das bereits in Leipzig und Freiburg sehr erfolgreich war.
Aufklärung unerwünscht
Im Film gibt es Momente, die man für übertrieben oder für dramaturgische Kniffe halten könnte. Da ist z. B. jene Szene, in der sich der damalige Chef des Reaktorbau-Konzerns Areva mit dem ermittelnden Staatsanwalt im Dämmerlicht trifft und auf ihn einredet. Dazu erklärte Maureen Kearney während des Filmgesprächs: «Es ist glasklar, dass es diese politische Intervention direkt nach dem Überfall gab.» Und tatsächlich kann ein Journalist von BFM Business bezeugen, dass hochrangige Areva-Manager sich ihm gegenüber damit brüsteten, den Staatsanwalt wenige Tage nach der Gräueltat kontaktiert zu haben, um Maureen Kearney als «eine unbedeutende Englischlehrerin, die von dem Atomgeschäft gar keine Ahnung habe, völlig verrückt sei und sich nur aufspiele» darzustellen. Die Konzernspitze wollte die Staatsanwaltschaft unter Druck setzen, um «den Fall unter den Teppich zu kehren.»
Einmal abgesehen davon, dass sie in der Sache recht behielt: China hat mit dem ergaunerten Know-how aus Frankreich binnen Kürze die französische Reaktorbau-Elite aus dem internationalen Markt gefegt. Offenbar hatten und haben die Ermittler keine Vorstellung davon, was es bedeutet, das weite, zivil-militärisch relevante Feld der Atomwirtschaft, das offene Flanken für Sabotage, Spionage und geopolitische Verwerfungen bietet, zweifelhaften Regimen wie China oder Russland zu überlassen. Schon damals war die Putin-Affinität einer der Schlüsselfiguren dieses Skandals, dem EDF-Chef Progilo, bekannt, heute ist er für Rosatom tätig. Wie blauäugig ist es, streng geheime Dokumente auf dem Silbertablett abzuliefern?
Der Druck aus der Nuklearkonzern-Spitze, der in der kurzen, dunklen Szene visualisiert wurde, hat offenbar die gewünschte Wirkung erzielt. Anstatt die Beweismittel zu sichern und den Fall aufzuklären, ließen die Ermittler gesicherte Spuren verschwinden und inszenierten eine schier unglaubliche, bitterböse Täter-Opfer-Umkehr.
Das Trauma überwinden
Das Räderwerk aus Atomwirtschaft, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten schien darauf ausgerichtet zu sein, den Rest, der von der einstmals starken Gewerkschafterin noch übrig war, systematisch zu zerstören. Im Film wirkte Kearney-Darstellerin Isabelle Huppert vergleichsweise cool – schließlich wollte der Regisseur in 120 Minuten eine Frau präsentieren, die einfach nicht dem klassischen Bild eines Opfers entspricht.

Im Buch wird die Fragilität der extrem traumatisierten Frau wesentlich klarer. Auf die Frage, wie Maureen Kearney es geschafft hat, sich aus der Opferrolle zu befreien, wie sie ihr traumatisiertes Gedächtnis wiedererlangen und vom zitternden Häufchen Elend wieder in eine aufrechte Position gelangen konnte, wie sie überhaupt ihre Sprechfähigkeit wiedererlangen konnte, erklärte sie: «Ein ehemaliger Militärarzt und Psychologe war derjenige, der mir wirklich helfen konnte. Ein Psychotraumatologie-Spezialist, der hunderte Opfer der Pariser Terroranschläge vom 13. Oktober 2015 und auch vom Krieg traumatisierte Soldaten erfolgreich betreut hat. In seiner Therapie bekommen die Patienten die Möglichkeit, die Situation erneut zu durchleben, um sie in Worte fassen zu können. Dem Gericht gegenüber konnte er eindrücklich darlegen, dass bestimmte Verhaltensweisen von mir, welche die Ermittler fehlinterpretiert hatten», entweder aufgrund mangelnder Expertise oder mit Vorsatz «eindeutig auf den Überfall zurückzuführen sind. Solche Symptome kann man sich als Laie nicht ausdenken.»
Eine Kette wider das Schweigen
Caroline Michel-Aguirre schrieb in ihrem berührenden Vorwort: «Das Buch bildet das erste Glied einer Kette, an die sich nach und nach Menschen anschlossen, die sich nicht kannten, denen aber allen gemeinsam war, dass sie vom Schicksal der Gewerkschafterin berührt worden waren.»
Ich selbst habe zunächst gehadert, ob ich die Herausforderung der Übersetzung annehmen soll. Inzwischen bin ich zutiefst davon überzeugt, dass es eine gute Entscheidung war, ein weiteres Glied an diese Kette anzufügen. Voller Freude sehe ich, an wie vielen Stellen sich Menschen bewegen. Nun hoffe ich, gemeinsam mit Caroline Michel-Aguirre und Maureen Kearney, dass die Strahlkraft, die das Mittun vieler einzelner in Richtung Frankreich entfaltet, eines Tages auch die Personen erreicht, die ihr Wissen nicht mehr für sich behalten wollen und die ein entscheidendes Glied an die Kette anfügen können. Die dann endlich aufstehen und reden.
*Den einzigen Antrag, eine parlamentarische Untersuchung zu diesem Staatsskandal zu erwirken, stellte die linke Politikerin Clémentine Autain. Er wurde abgelehnt.
Fotos: Clara Stoll, IG Metall Jugend Leipzig
Buch

Michel-Aguirre, Caroline: Die Gewerkschafterin – im Räderwerk der Atommafia. Ein Tatsachenroman. Aus dem Französischen von Eva Stegen. 2025, Edition Einwurf. 224 Seiten, Paperback. ISBN 978-3-89684-727-0