Kolonialismus – da denken die meisten Menschen vermutlich an Raubkunst, Sklaverei oder auch nur an einen Möbelstil. Jedoch wäre eigentlich unser gesamtes Leben nicht ohne Ausbeutung von Ressourcen und Menschen im Globalen Süden denkbar, und das betrifft auch unsere Energiewirtschaft.
Eine, die sich dieses Thema genauer ansieht, ist die Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Imeh Ituen aus Berlin. Sie promoviert aktuell an der Uni Hamburg und schreibt über Themen der Energiegerechtigkeit aus macht- und rassismuskritischer Perspektive.
Interview
Du befasst dich in deiner Arbeit mit Energiegerechtigkeit und Energiekolonialismus. Was hat denn Energie mit Kolonialismus zu tun?
Sehr viel. In meiner Arbeit nehme ich eine historische Perspektive ein und zeige, dass unsere Energiesysteme seit Jahrhunderten geprägt sind von kolonialer Gewalt, von Ausbeutung von Natur und Menschen. Das fängt damit an, wie Energie produziert wird: Dies braucht mineralische Rohstoffe, Landflächen und natürlich auch menschliche Ressourcen zum Beispiel in Form von Arbeitskraft.
Auch erneuerbare Energie ist nicht immer sauber: Die Produktion von Wind- und Solarkraftanlagen erfordert erhebliche Mengen an Rohstoffen, die natürlich mit Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung verbunden sind.
«Unser Anspruch sollte eine nachhaltige und gerechte Energiewende sein. Das erfordert auch eine umfassende Auseinandersetzung mit den sozialen und ökologischen Auswirkungen entlang der gesamten Lieferkette.»
Du meinst also, dass die Energiewende mit einer dezentralen Erzeugungsstruktur die kolonialen Probleme nicht löst?
Eine dezentrale Erzeugung erneuerbarer Energie bietet zweifellos Potenzial für eine nachhaltigere und demokratischere Energieversorgung, dort wo sie genutzt wird. Dennoch ist auch eine dezentrale Erzeugung von erneuerbarer Energie nicht automatisch frei von kolonialen Kontinuitäten. Solarpaneele, die ja gerade auch im Zusammenhang mit Balkonkraftwerken viel Aufmerksamkeit erfahren, stehen in Verbindung mit Umweltverschmutzung durch den Abbau seltener Erden, Aneignung von indigenem und kommunalem Land und Ausbeutung von Menschen, insbesondere in den Rohstoffminen.
Gleichzeitig werden die Treibhausgasemissionen, die bei der Rohstoffgewinnung und Produktion von Windrädern und Solarpaneelen dem Produktionsland, nicht dem Nutzerland angerechnet. Wenn die hier gewonnene Energie hier als klimaneutral und ethisch „sauber“ erscheint, dann müssen wir uns fragen, welche Ausbeutung und Umweltbelastung ausgeblendet wird.
Unser Anspruch sollte eine nachhaltige und gerechte Energiewende sein, und das erfordert daher nicht nur ein Augenmerk auf eine dezentrale Erzeugung, sondern auch umfassende Auseinandersetzung mit den sozialen und ökologischen Auswirkungen entlang der gesamten Lieferkette.
Ein Teil der Energieversorgung der Zukunft soll ja mit Wasserstoff gedeckt werden, der in Großanlagen in sonnenreichen Gebieten, beispielsweise in Afrika, produziert werden soll. Ist das auch ein Fall von dem, was mit Energiekolonialismus gemeint ist?
Genau, Wasserstoff ist ein sehr gutes Beispiel. Der Plan hier ist ja: Wir wirtschaften und leben weiter wie bisher, versorgen uns soweit es geht selbst mit Erneuerbarer Energie, und die Lücken schließen wir u.a. mit importiertem Wasserstoff.
Allerdings: Bei Herstellung, Transport und Rückumwandlung von Wasserstoff, beziehungsweise seiner besser transportfähigen Nebenprodukte wie Ammoniak, muss man einen hohen Energieverlust einkalkulieren, bis zu 60 Prozent. Das heißt, damit die kalkulierten Wasserstoffimporte hier ankomme, bedarf es riesiger Landflächen. Sehr wahrscheinlich ist das verbunden mit Vertreibung und Aneignung von Flächen, sehr häufig betrifft das indigenes Territorium, weil es oftmals keine formalen, staatlich anerkannten Landrechte gibt.
Dann braucht es natürlich viel Wasser, das gespalten werden muss, und das in Gebieten, wo Wasser sowieso schon knapp ist. Am Ende des Prozesses bleibt verschmutztes Wasser, wo potenziell Umweltverschmutzung droht. Kurzum muss die lokale Bevölkerung die Kosten tragen, und es ist unwahrscheinlich, dass sie selbst von den Geschäften profitieren.
Puh. Angesichts dessen: Ist es überhaupt möglich, die Energiewende so zu gestalten, ohne dass dieser Rattenschwanz an Ungerechtigkeiten dranhängt?
Wir sollten uns nicht entmutigen lassen. Es gibt einiges, das wir tun können, damit der 'Rattenschwanz' kleiner wird. Wir stehen vor der Herausforderung, neue Energiesysteme zu etablieren. Darin liegt auch eine Chance, sie sowohl lokal als auch global gerechter zu gestalten. Als Verbraucher*innen können wir erfragen, woher die verbauten Materialien stammen. Es gibt bereits Solarzellen-Hersteller, die sich bemühen, Ressourcen unter ethischen Gesichtspunkten zu beschaffen.
Auch politisch können und sollten wir aktiv werden. Im Dezember 2023 hat sich die EU auf ein Lieferkettengesetz geeinigt – ein positiver Schritt, der ohne den langjährigen Druck seitens der Zivilgesellschaft nicht möglich gewesen wäre. Aktuell gibt es seitens Wirtschaftsverbänden und der FDP Versuche, die geplante EU-Lieferkettenrichtlinie zu stoppen. Dem sollten wir uns entschieden entgegenstellen und weiterhin für starke Gesetze und Richtlinien kämpfen.
«Als Gesellschaft sollten wir uns fragen: Wie viel Energie benötigen wir, und vor allem wofür?»
Was rätst du dann? Wie können wir es besser machen und was können wir als Einzelpersonen selbst tun?
Es von zentraler Bedeutung, die Dekarbonisierung unseres Energiesystems voranzutreiben, daran besteht kein Zweifel. Jedoch sind mit erneuerbaren Energien ökologische und soziale Kosten verbunden, die lokal und global ungleich verteilt sind. Der erste Schritt besteht darin, sich dieser Realität bewusst zu werden und sie nicht auszublenden. «Mein Balkonkraftwerk sorgt hier für sauberen Strom, steht aber in anderen Teilen der Welt mit Umweltzerstörung oder Leid in Verbindung» – das ist ein energieethisches Dilemma, das es anzuerkennen gilt.
Neben den Hebeln, die uns als Verbraucher:innen und politischen Akteur:innen zur Verfügung stehen, um zukünftig gerechtere und nachhaltigere Energiesysteme zu schaffen, können wir heute bereits Möglichkeiten für eine solidarische Praxis entlang der Lieferketten finden, beispielsweise indem wir Kämpfe im Globalen Süden unterstützen. Eine konkrete Möglichkeit ist, Geld an lokale Projekte zur Energiegerechtigkeit im Globalen Süden zu spenden, als Akt reparativer, also ausgleichender Gerechtigkeit. Das ist zunehmend Praxis in politischen Gruppen und Hausprojekten oder -gemeinschaften.
Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Reduzierung unseres Energieverbrauchs. Obwohl in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit auf den individuellen Energieverbrauch gelegt wurde, macht der Energieverbrauch privater Haushalte in Deutschland nur etwa 26 Prozent aus. Unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl hat Deutschland zum Beispiel einen mehr als 50-fach höheren Energieverbrauch als Nigeria. Wir brauchen energie- und klimapolitische Konzepte wie das der Zweitausend-Watt-Gesellschaft, ein Modell aus der Schweiz, das eine global gerechte Verteilung des Energieverbrauchs kalkuliert.
Als Gesellschaft sollten wir uns fragen: Wie viel Energie benötigen wir, und vor allem wofür? Wie viel Energiekonsum verträgt der Planet? Und was ist unser gerechter Anteil daran? Denn letztlich müssen wir uns diese Kapazität mit allen Menschen teilen. Auf dieser Grundlage sollten wir zusammen entscheiden, was wirklich wichtig ist und welche Sektoren – beispielsweise eine große Rüstungsindustrie – wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können und wollen.